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Daniela Caixeta Menezes
Veröffentlicht
am 25.07.2023
LeuteBegegnung mit einer Exil-Iranerin in Südtirol

„Wir alle sind Mahsa!”

Veröffentlicht
am 25.07.2023
Seit dem gewaltsamen Tod einer 22-Jährigen wird im Iran gegen das Regime protestiert. Wie erlebt eine in Südtirol lebende Iranerin die derzeitige Situation?
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Das Handy klingelt nur ein einziges Mal, da nimmt Neda bereits den Anruf entgegen. Sie wirkt angespannt. Sekunden später taucht eine Frau mittleren Alters auf dem Display auf – es ist Nedas Mutter, die aus dem knapp 5.000 km entfernten Teheran anruft. Es vergehen ein paar Minuten, in denen sich Neda nach dem Wohlbefinden ihrer Eltern erkundigt, wie sie später das persische Gespräch übersetzt. Erst als ihre Mutter versichert, dass alles in Ordnung ist, huscht das erste Lächeln über Nedas Gesicht. Sie sprechen eine ganze Weile, reden über das Wetter, Nachbarn, Pläne für das kommende Wochenende. 

Nicht aber über den Elefanten im Raum; das, was ihre Heimat, den Iran, seit Monaten in Atem hält: der gewaltsame Tod der kurdischen Iranerin Jina Mahsa Amini am 16. September 2022, der im gesamten Iran eine Welle an Protesten ausgelöst hat. Die 22-jährige Frau, die von der Moralpolizei wegen ihres verrutschten Hijabs (das muslimische Kopftuch,  Anm. d. Red.) in Gewahrsam genommen wurde und dort wenig später verstarb, ist zu einem Symbol geworden. Junge Menschen, vor allem Mädchen und Frauen, gehen zum Gedenken an Mahsa und gegen das Gebaren des totalitären Regimes auf die Straße. Sie reißen sich demonstrativ ihren Schleier vom Kopf und rufen: „Frauen – Leben – Freiheit”. Zum ersten Mal protestieren Menschen aus den unterschiedlichsten Teilen der Gesellschaft Seite an Seite. Sie eint der Wunsch nach tiefgreifender Veränderung. 

Neda ist eine von 333 Menschen iranischer Abstammung, die laut dem Landesinstitut für Statistik ASTAT 2020 in Südtirol ansässig waren, 141 von ihnen sind Frauen. Offiziellen Zahlen des iranischen Außenministeriums zufolge leben insgesamt über 4 Millionen Iraner:innen im Ausland, etwas mehr als ein Viertel davon in Europa. Viele von ihnen sind der desolaten, wirtschaftlichen Situation entflohen; andere, weil sie Repressionen ausgesetzt waren und in der Ferne ein selbstbestimmtes Leben gesucht haben. Die Nichtregierungsorganisation „Freedom House“ misst jährlich die Lebensfreiheit der Bürger:innen weltweit. Iran erhält hierbei von der NGO lediglich 12 von 100 erreichbaren Punkten und gilt daher als unfrei.

In Teheran hat Neda als Regisseurin und Schauspielerin gearbeitet. Die studierte Filmwissenschaftlerin und ihr Mann, ein Unternehmer, haben – kurz vor der Geburt ihres Kindes – ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Das war vor fünf Jahren. Seitdem ist Neda nicht mehr dort gewesen. Genauso lange ist es her, dass sie ihren Vater zuletzt gesehen hat; über Umwege ist es ihrer Mutter ein einziges Mal gelungen, nach Europa zu kommen, um das Enkelkind zu sehen. Die täglichen Videotelefonate sind ein schwacher Trost. 

Neda ist nicht ihr richtiger Name. Zum Schutz ihrer Verwandten im Iran bittet sie darum, anonym bleiben zu dürfen. Wann immer Neda mit ihrer Familie oder Freunden in der Heimat spricht, sparen sie das Thema Politik weitestgehend aus – zu groß die Sorge, heimlich abgehört zu werden. Fast jede:r hatte bereits mit der iranischen Justiz oder so genannten Ordnungshütern zu tun: Erst kürzlich wurde Nedas Bruder für das Tragen eines mit der US-amerikanischen Flagge bedruckten T-Shirts verhaftet. 

Neda selbst wurde in ihren Zwanzigern am Flughafen festgenommen, weil ihr Hijab verrutscht war. Zwei Tage verbrachte sie in Einzelhaft, bis ihre Eltern sie freikaufen konnten. Ein anderes Mal hatte sie in ihrem eigenen Auto zu laut gesungen, wieder ein anderes Mal barfuß ihre Sandalen getragen. Ihre Mutter musste ihr daraufhin Socken ins Gefängnis bringen und Neda eine Erklärung unterschreiben, dass ihr dieses vermeintlich „unzüchtige Fehlverhalten” leid tue und es nie wieder dazu kommen würde.

Es sind diese Erfahrungen, die Neda so betroffen machen: Mahsas Schicksal hätte auch sie treffen können, oder ihre Mutter, Tante, eine Freundin. Jede Iranerin ist eine potenzielle Mahsa. 

Ihr Cappuccino ist schon kalt, als sie die Tasse zum ersten Mal zum Mund führt. Seit ihrer Ankunft in dem kleinen Café hat sie ununterbrochen geredet, ihr Englisch ist geschliffen, die Worte sprudeln förmlich aus ihr heraus. Neda erzählt atemlos, angespannt und nervös. Immer wieder greift sie dabei zum Taschentuch, tupft sich Tränen aus den Augen. 

Schnell wird deutlich: Neda erzählt, weil sie über das, was ihre Heimat seit Monaten erschüttert, reden muss. Darüber zu sprechen, sagt sie, gleiche einer Art Therapie – auch wenn sie wisse, dass es gefährlich sei, selbst in Europa: Der Arm von Präsident Raisi und seinen Gefolgsleuten reicht weit. 

In den Berichten westlicher Medien über den Iran fällt seit Monaten immer wieder ein Begriff: Revolution. Ist da gerade eine Revolution im Gange, Neda? 

Statt zu antworten seufzt die Achtunddreißigjährige. 

„Revolution? Ich habe ein Problem mit dem Begriff und fürchte sogar, dass er eine Mitschuld an den hunderten Toten trägt”, gibt Neda schließlich zu bedenken. 

„Er verleitet junge Iraner:innen– Kinder! – dazu, sich in große Gefahr zu begeben, um dabei zu sein, um ihren Anteil zu leisten an einem verheißungsvollen Wandel. Und die Regierung, die sich in die Ecke gedrängt fühlt, geht in Folge immer härter gegen die eigene Bevölkerung vor.” 

Für Neda handelt es sich vielmehr um Bürgerproteste, die in ganz ähnlicher Form bereits vor gut drei Jahren aufgekommen und denen 1.600 Menschen zum Opfer gefallen sind. Damals hat niemand von einer Revolution gesprochen. Was also soll dieses Mal anders sein? Kann es tatsächlich einen anderen, freien/liberalen Iran geben?

Neda hat unzählige solcher Fragen, auf die sie so bald keine Antwort erhalten wird. Wie ihr geht es vielen Iraner:innen, die ihre Heimat verlassen und überall auf der Welt Zuflucht gefunden haben. 

„Alles im Iran dreht sich um Religion. Iranische Politik ist Religion. Dabei kenne ich den Koran, mehrere Male habe ich ihn gelesen. Darin findet sich nirgends eine Stelle, die Frauen das Tragen einer Kopfbedeckung vorschreibt. Junge Menschen wollen diese fundamentalistische Auslegung nicht länger hinnehmen, sie wünschen sich ein Leben, das nicht von Religion bestimmt ist.”

Gleichzeitig fragt Neda sich, wie viele der rund 80 Millionen Iraner:innen im Land tatsächlich gegen den Status Quo und bereit sind, sich für Reformen einzusetzen. Angst vor Bestrafung sei das Eine; an einer Siegesparade zum Jahrestag der Revolution teilzunehmen und die Gründung der Islamischen Republik Iran zu zelebrieren das Andere. Überall im Land haben zigtausend Menschen den Feierlichkeiten beigewohnt. Aus freien Stücken – daran besteht für Neda kein Zweifel. Auch deshalb glaube sie nicht daran, dass das Ende des Regimes bevorstehe. Irgendwann jedoch, so ist sie sich sicher, wird die autokratische Regierung stürzen und der Iran wieder eine goldene Zeit erleben. 

Der Weg dahin ist noch sehr weit und steinig. Die Kräfte der überwiegend jungen Protestierenden schwinden, permanent Todesangst zu haben, zerrt an Körper, Geist und Seele. Berichte über willkürliche Hinrichtungen ohne Gerichtsprozesse und über vergiftete Schülerinnen wirken einschüchternd und abschreckend. Auch die nachlassende Berichterstattung internationaler Medien trägt ihren Teil dazu bei, dass es immer schwieriger und gefährlicher wird, auf die Straße zu gehen. Waren die sozialen Medien im In- und Ausland anfänglich voll mit Aufrufen zu Protest und Solidarisierung, überwiegen in Nedas Netzwerk mittlerweile Posts, die sich eher mondänen Themen widmen: Mode, Kultur, der Frühling ist da. Aus Angst? Aus Überzeugung? Ist es Resignation? 

„Ich traue mich nicht, zur Schule zu gehen, vielleicht sterbe ich auf dem Weg dahin.”
– Nedas Cousine

Zudem läuft die staatliche Propaganda-Maschine auf Hochtouren und strahlt rund um die Uhr unterhaltsame TV-Formate und Konzerte von Regime-konformen jungen Musikschaffenden aus. Fast könnte man meinen, die so genannte Revolution sei vorbei. Auch davon, dass die Mehrheit der Bevölkerung Hunger leidet, ist nie die Rede.

Wie schaffst du es, nicht zu verzweifeln, Neda?
„Manchmal ist es wirklich schwer, morgens aufzustehen. Dann weine ich den ganzen Tag”, gesteht die großgewachsene, dunkelhaarige Frau. „Aber dann denke ich an den Mut derjenigen, die für die Freiheit von uns allen einstehen. Auch für mein Kind soll der Iran Heimat sein – wir müssen für eine neue, andere Zukunft kämpfen.” 

Neda zückt wieder ihr Handy und klickt auf die Instagram-Profile von Iraner:innen, die sich noch immer lautstark gegen das Regime äußern, Missstände aufdecken, mit Vehemenz und unter großem Risiko für einen anderen Iran kämpfen. Es sind Berühmtheiten wie die Schauspielerin Golshifteh Farahani oder die Menschenrechtsaktivistin Atena Daemi, die erst kürzlich aus einer zehnjährigen Haft entlassen worden ist. Aber auch ganz normale Bürger:innen. Die meisten von ihnen befinden sich mittlerweile im Ausland. 

Auch wenn sich Neda manchmal vorstellt, wie ihr Leben im Iran als erfolgreiche Regisseurin und Schauspielerin hätte verlaufen können, bereut Neda ihre Ausreise nicht. Sie berichtet, dass ihr ganzes Hab und Gut, alle anerkannten Ausbildungen und Karrieremöglichkeiten im Iran geblieben sind: „Hier müssen wir noch einmal von vorn anfangen.” Aber das sei es wert, auch wenn der Iran immer Nedas Heimat, Identität und Kultur bleiben wird: „Mein Iran ist nicht der Iran der heutigen Regierung; eine Regierung, die mir befiehlt, ein Kopftuch zu tragen. An jedem dieser Kopftücher klebt Mahsas Blut.“ Anstatt ihr Haar abzuschneiden, wie viele Iranerinnen es aus Protest tun, will Neda ihre Mähne für immer zeigen – und sie nie wieder verstecken. 

Bald kann Neda die italienische Staatsangehörigkeit beantragen. Hier in Südtirol fühlt sie sich wohl; wildfremde Menschen kommen auf sie zu und machen ihr Mut. „Ihr seid stark”, sagen sie, und Neda spürt, dass die Proteste zumindest zu einer kritischen Auseinandersetzung mit autoritären Regimen geführt haben.

Gibt es etwas, das du deinen Südtiroler Bekannten und europäischen Mitmenschen sagen möchtest?

„Wir brauchen eure Empathie. Denkt nicht, dass wir kein Land, keine Identität haben. Wir werden von menschenverachtenden Tyrannen regiert.”

Als Neda sich erhebt, die große Sonnenbrille aufsetzt und in die Mittagssonne hinausgeht, liegt ein Lächeln auf ihrem Gesicht. „We can do it”, ruft sie noch, als wir uns verabschieden. Diese aufbauenden Worte gelten auch ihren – tausenden Kilometer entfernten – iranischen Mitmenschen.

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