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Lisa Maria Kager
Veröffentlicht
am 27.09.2017
Leute„Pension Europa“ bei Transart

Wer ist Europa?

Veröffentlicht
am 27.09.2017
Martin Gruber will mit seinem Theater Fragen stellen, sensibilisieren und die vierte Wand durchbrechen. Mit „Pension Europa“ ist ihm das gelungen.
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„Ich hab mir da so ein Muttermal auf der äußeren Schamlippe weckmachen lassen“, sagt Kristin Schwab und zeigt breitbeinig dastehend direkt zwischen ihre Beine. Die vier anderen Schauspielerinnen, die in hautfarbener Spitzenunterwäsche auf der Bühne stehen, blicken verdutzt in die Ecke, in der die Blondine steht. Dann schweift das Frauengespräch schnell zur Thematik der Beschneidung in Afrika ab und wird schließlich von einer sechsten Schauspielerin in einem weißen Brautkleid mit opernähnlichem Gesang unterbrochen. Die fünf anderen fangen an, sich dazu ganz individuell und auf ungewöhnliche Art und Weise zu bewegen.

Martin Gruber

Schauspieler wachsen bei Martin Gruber in ihre Rollen hinein. Wenn der Regisseur zur ersten Probe kommt, hat er nämlich nicht viel mehr dabei, als ein weißes Blatt Papier. „Nachdem ich die Griechische Klassik rauf und runter inszeniert habe, habe ich irgendwann die Schauspieler angesehen und ganz einfach gefragt: Wie gehts eigentlich euch?“, erzählt er. Das war vor zehn Jahren. Seitdem entstehen seine Stücke durch Interviews. Martin Gruber entwickelt Theater in Gesprächen mit der Kompanie, seinen Schauspielern und ab und an auch gemeinsam mit Autoren. Für futuristische Arbeitsweisen steht Gruber jedoch schon immer. Das Aktionstheater ensemble hat er 1989 gegründet und bereits damals viele „Crossovers“ auf die Bühne gebracht. „Die Leute haben mir den Vogel gezeigt, wenn ich bildende Kunst und Videos im Theater aufgeführt habe“, erinnert er sich. Dabei sei Provokation für ihn längst nicht so wichtig wie es im ersten Moment scheint.

Auch „Pension Europa“ ist auf einem weißen Blatt Papier geboren und hat bereits 2014 Uraufführung in Bregenz gefeiert. 2015 wurde das Stück für den Nestroy Preis nominiert und nun im Rahmen des Festival Transart auch im Museion in Bozen aufgeführt. Martin Gruber hat keinen Satz dafür ändern müssen. Die politische Situation, sei nämlich nach wie vor dieselbe, stellt er fest.

„Europa ist für mich die Summe aller in diesem Gebiet lebenden Menschen und deren Geschichten.“

„Früher habe ich immer dort oben Sommerfrische gemacht“, sagt der Regisseur und zeigt mit einer nebensächlichen Handbewegung in Richtung Kohlern, „heute wohne ich in Wien.“ Kurz vor der Aufführung schlendert Martin Gruber mit mir durch Bozen und fängt plötzlich an, im Südtiroler Dialekt zu sprechen. Grubers Vater ist Südtiroler und deshalb verbindet der Wahlwiener mit seinem zweiten Heimatland jede Menge Erinnerungen. Er weiß, wo seine Wurzeln liegen und wo er heute hingehört. Und er weiß auch, was Europa für ihn ist. Doch wissen wir das eigentlich alle? Wissen das die sechs Schauspielerinnen, die im ersten Untergeschoss des Museion in hautfarbener Spitzenunterwäsche ihre Performance liefern?

Alev in Aktion

„We are not suffering enough in Europe“, schreit Kristin Schwab in der Mitte des Stückes und schnürt sich kurz darauf Stacheldraht um den Oberschenkel. Das Blut läuft ihr bis zum Knie hinunter. Susanne Brandt erzählt währenddessen viel lieber von ihren Liebschaften im fernen Ägypten. Und die Türkin Alev Irmak meint schließlich, dass ein Mensch umso spannender sei, je mehr Drama er in seinem Leben mitbringe. Dann fängt sie an mit starrem Blick Sequenzen aus einer Kampfsportart aufzuführen.

„Für mich ist Europa die Summe aller in diesem Gebiet lebenden Menschen und deren Geschichten“, meint Gruber. Das habe er spätestens durch das Stück realisiert. Die Politik hingegen vergesse in seinen Augen das Individuum und sage nur noch, was die Mehrheit eben hören will. „Eine Politik, die was könnte, würde diese Diversität hingegen so gut als möglich zulassen. Das Umgekehrte nennt man Faschismus“, fährt der Regisseur fort und schiebt sich resolut seine Brille wieder zurecht. Was er mit „Pension Europa“ also auf der Bühne inszeniert, ist das Ideal seiner Politik. Sechs Frauen, die ihre Geschichten erzählen und als Summe ein Europa in Miniatur bilden. Die eine Türkin, die andere Deutsche, noch eine andere mit dunkler Hautfarbe, eine weitere „bloody, fuckin’ Austrian“ und die letzte eine Frau von nebenan, die jede Woche gerne zum Frauenstammtisch geht.

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„Mit Inhalt und Form reagierst du immer auf das Jetzt“, erklärt Gruber. So habe sich sein Aktionstheater ensemble im Laufe der Jahre auch immer wieder verändert. Das Spektrum an Schauspielern reiche jedoch nach wie vor von ganz jung bis „um einiges älter als ich“, wie der Wiener meint und schmunzelt. Sachen, die er bereits hundert Mal gesehen hat, interessieren ihn nicht. Genau deshalb hat er die Rolle von Nathan dem Weisen auch mit einer türkischen Frau besetzt, die ihren Text auch in Österreich in ihrer Muttersprache spricht. Mit seinen Stücken will er sensibilisieren. „Ich will wissen, was es sein könnte, ohne es gleich wirklich zu wissen“, meint der Regisseur. Dem Publikum die Welt erklären, wolle er dabei nicht, das finde er nämlich „siebengscheid“. Viel eher will er Ideen schüren, die bei ihm bestimmt nicht an der Grenze aufhören. Die einzige Chance in seinen Augen sei es nämlich, endlich den Mut zu haben, alles zu begreifen, was eh schon da sei. Auch wenn es Angst mache, diese Vielfalt in Europa anzunehmen.

„Ich habe keine Lösung, ich stelle nur Fragen.“

Martin Gruber will Theater machen, „das die vierte Wand weghaut”. Das hat er spätestens dann verstanden, als er während seiner Studienzeit selbst Performances gemacht hat und nackt auf der Bühne stand. Heute lässt er seine Schauspielerinnen mit dem Publikum kommunizieren. Sie fragen die Zuschauer in der ersten Reihe um Rat und erklären, warum sie in 28 Jahren Aktionstheater ensemble noch nie ordentliche Bühnenregen bekommen haben. Wenn man bei „Pension Europa“ in diesem Publikum sitzt, fühlt man sich den Frauen und ihren Geschichten nahe. Man lacht mit ihnen, ist tief berührt oder verdutzt und man fühlt am Ende ganz ehrlich, was Europa wirklich ist.

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