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Veröffentlicht
am 10.11.2016
LeuteStraßenzeitung zebra.

Welcome in Bozen

Veröffentlicht
am 10.11.2016
Seit einem Jahr ist Cherno aus Gambia in Bozen. Der Straßenzeitung zebra. erzählt der passionierte Fußballer von seiner acht Jahre dauernden Reise nach Europa.
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Cherno und Kollegen2.jpg

Ein Metallgitter, benetzt mit einer dunkelgrünen Plane, ein kleines Tor, hinter dem sich weiße Schlafcontainer befinden: Mehr gibt es nicht zu sehen. Ab und zu treten Männer durch das Tor – sie lächeln freundlich. Das Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge in der Bozner Schlachthofstraße ist kein Ort, an dem man zufällig vorbeispaziert.

Fabian Heidegger arbeitet im Erstaufnahmezentrum. Die über hundert Flüchtlinge, die derzeit in der Einrichtung untergebracht sind, kennt er alle persönlich. Ein junger Mann, mit einem abgenutzten, weißen Fußball unter dem Arm, geht auf ihn zu und streckt ihm die freie, rechte Hand entgegen. „Hallo“, „Hello“ und „Ciao“ sagt er zu dem Mitarbeiter und den anwesenden Gästen. Er stellt sich schüchtern als Cherno Kindi Jallow vor, legt den Ball, der unter seinen Arm geklemmt war, auf den Kiesboden und geht hinaus auf die Straße. Der 26-Jährige aus Gambia schlendert unbeirrt durch die Stadt und passiert Industriehallen und Bürogebäude. Cherno kennt sich aus; er lebt schon seit über einem Jahr in der Bozner Flüchtlingsunterkunft in der Schlachthofstraße. Er betritt einen kleinen Park mit Bänken, Tischen und einem Kleinfeldfußballplatz. Hier sei einer seiner liebsten Plätze in Bozen, erzählt Cherno. Er ist passionierter Fußballer. Zusammen mit anderen Männern kommt er fast täglich hierher, um zu spielen. Erinnerungen an die Vergangenheit werden wach, wenn er den Ball jongliert und seine Gegner ausdribbelt. Schon in seiner Kindheit hat er ständig mit seinen Freunden das runde Leder gekickt – auf den sandigen und staubigen Straßen in seiner Heimat. Auch auf der Reise nach Europa hat der Fußball Cherno begleitet: „Im Senegal habe ich für eine Mannschaft der zweiten Division gespielt.“

Die Bäume im Park färben sich bereits gelb, rot und braun. Erste Blätter liegen am Boden. Sie rascheln unter den Schuhen, es duftet nach Morgenfrost und nassem Laub. Kinder verschiedenster Nationalitäten spielen im Park, sie klettern auf die gelbe Rutschbahn und die Gerüste, toben und lachen gemeinsam. Cherno sucht sich einen kleinen Holztisch in der Sonne und nimmt Platz.


Der Armut entfliehen

Cherno wurde im Jahr 1990 in Gambia geboren und lebte mit seinen Eltern, einer Schwester und einem Bruder in der Ortschaft Basse Santa Su. Seine Familie lebt noch dort. Sein Vater betreibt ein Geschäft, in dem Cherno schon als kleiner Junge mitgearbeitet hat. Er wollte etwas Geld verdienen, um sich Stifte und Papier für die Schule zu kaufen. Ein Mädchen kommt mit tapsigen Schritten auf ihn zu. Cherno sieht die Kleine an und schmunzelt. Eines Tages möchte er auch Kinder haben. Er sagt: „Ich sah keine Zukunft in Gambia.“ Das Land ist klein, etwas kleiner als die Region Trentino-Südtirol. Arbeitsplätze gibt es nur wenige, es herrscht Armut. Viele Menschen müssen mit ihrem spärlichen Einkommen um ihr Überleben kämpfen. Die Häuser, in denen seine Landsleute leben, sind klein und dürftig. Sein Vater hat ihm schon früh gesagt, dass in Europa alles besser sei. Er richtet seinen Blick erneut auf das Mädchen mit dem blonden Haar. „Meiner zukünftigen Familie will ich mehr bieten können, als ich es in Gambia hätte tun können“, sagt er. Deshalb hat er den Entschluss gefasst, sein Heimatland zu verlassen. Er wollte der erdrückenden Armut entfliehen. Cherno begann seine Reise an einem Julitag im Jahr 2007. Sie sollte über acht Jahre dauern. Er setzte sich in einen Bus, der mit unzähligen Menschen beladen war. Die Fahrt dauerte lang, es war heiß und stickig, alle litten. In Dakar im Senegal setzte der Bus die Menschen ab; nun waren sie auf sich allein gestellt. „Ich habe mich sofort um einen Arbeitsplatz in dieser großen Stadt bemüht“, erzählt er. Er brauchte Geld für die Weiterfahrt. In einem Supermarkt fand er schließlich eine Stelle. In seiner wenigen Freizeit spielte er in Dakar für einen Fußballclub, den Cannon F.C. Irgendwann, nach Jahren, konnte Cherno seine Reise fortsetzen. Er verließ Dakar in einem alten, vollbesetzen Bus und gelangte so nach Bamako in Mali. Dort arbeitete Cherno als Security- Mann in einem Geschäft und verdiente sich das Geld für seine nächste Etappe, die ihn nach Burkina Faso führen sollte. „Burkina Faso hat mich sehr geprägt“, erinnert er sich, „dort begegnete ich oft bewaffneten Männern, überall gab es Gewalt. Da wurde mir bewusst, wie kostbar das Leben ist.“


Stille, Angst, Hoffnung

Nach einem weiteren Zwischenstopp in Niger gelangte Cherno 2015 schließlich nach Tripolis in Libyen. Tripolis ist für viele Flüchtlinge das Tor nach Europa. Von hier aus machen sich Jahr für Jahr unzählige Menschen mit Booten auf nach Italien oder Malta und lassen Afrika für immer hinter sich. Am 18. September 2015 betrat Cherno so ein Boot. Er zeigt auf den Zaun des Parks, der ungefähr zehn Meter von ihm entfernt ist und sagt: „Von dort bis hierher: So lang war das Boot, auf dem ich mich mit 150 anderen Leuten befand.“ Alle saßen sie dicht aneinander gezwängt am Boden. Die Menschen auf dem Boot schienen einander nicht wirklich wahrzunehmen. Es war still. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, fokussiert auf das eigene Schicksal, die Hoffnungen. Mal brannte die Sonne auf sie nieder, mal war ihnen schrecklich kalt. Ständig begleitete sie das Geräusch der tosenden Wellen, die am Bug des kleinen Motorbootes brachen.

„Das Einzige, was wir wollten, war Europa.“


Cherno sitzt ruhig am Tisch im Park, Kinder laufen tobend auf der Wiese hinter ihm. Die schwache Herbstsonne scheint ihm ins Gesicht und sein weißes Hemd flattert im Wind. Chernos klare, dunkle Augen funkeln, in seinen Gedanken ist er weit entfernt von der idyllischen Herbstkulisse, die ihn umgibt. Er erzählt weiter: „Auf dem Boot waren alle still, niemand redete. Die Männer mit den Gewehren hatten es so befohlen.“ Wer sich den Männern widersetzte, musste befürchten, getötet zu werden. Deshalb befolgten alle auf dem Boot den Willen der Bewaffneten. „Das Einzige, was wir wollten, war Europa“, meint Cherno. Die Frauen und Männer bekamen etwas Wasser, zum Essen gab es nichts. Die Übergänge zwischen Tag und Nacht verschwammen. Gerade noch standen Sterne am Himmel, schon schien wieder die Sonne.


Endlich Europa

Nach einer undefinierbaren Zeit auf dem kleinen Boot wurden Cherno und die anderen Flüchtlinge von der italienischen Küstenpolizei gerettet. Man holte sie von dem klapperigen Schlepperboot und brachte sie an Land, nach Agrigento auf Sizilien. Am 20. September 2015 war Cherno an dem Ort, zu dem er über acht Jahre lang unterwegs gewesen war: „Als ich meinen ersten Schritt auf europäischen Boden setzte, verspürte ich nichts als pure Erleichterung. Ich war am Ziel, endlich!“ In diesem Europa wollte sich Cherno nun eine Zukunft in Sicherheit aufbauen.

Das Metallgitter hinter dem sich derzeit Chernos Zuhause befindet: ein Schlafcontainer im Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge in der Schlachthofstraße in Bozen.

Eine Gruppe von Männern aus dem Erstaufnahmezentrum betritt den Park. Einer von ihnen hält einen Ball in der Hand, es ist Zeit für das tägliche Fußballspiel. Cherno grüßt seine Kollegen mit einer lässigen Handbewegung. Sein Blick folgt noch einen Moment den Männern, die sich nun gegenseitig den Ball zuspielen. Eines Tages stieg er in Sizilien gemeinsam mit anderen in einen Bus. Sie fuhren Richtung Norden. Nach und nach wurden einige der Männer abgesetzt. Cherno durfte erst in Bozen aussteigen. Seit über einem Jahr ist er nun hier und wohnt mit sieben anderen Männern in einem Schlafcontainer im Flüchtlingszentrum. Er sei sehr dankbar für das, was er hier habe. Cherno würde gerne arbeiten – für seine Zukunft. Das ist aber noch nicht möglich, sein Asylbescheid lässt auf sich warten. Wieder bleibt Chernos Blick an den Männern hängen, die Fußball spielen, er konzentriert sich auf ihre Pässe, auf den Ball. „Es macht mich sehr traurig, dass manche Leute Geld höher schätzen als das menschliche Leben“, sagt er und berichtet von den Schleppern, denen er begegnet ist: „Sie bereichern sich an flüchtenden Menschen, sind skrupellos, schrecken vor nichts zurück.“ Cherno sagt, er glaube an einen Gott, der allen Menschen das Leben gegeben hat. Das Leben sei für ihn das kostbarste, das es gibt, und kein Mensch habe das Recht darüber zu richten.
Mittlerweile ist die Sonne untergegangen und ein kühler Wind hat eingesetzt. Die Kinder im Park machen sich auf den Heimweg. Cherno hofft, dass er in seinem Leben eines Tages anderen Menschen helfen kann. Er möchte arbeiten und einen Beruf erlernen, bei dem er jenen, die Hilfe brauchen, beistehen kann. Für ihn steht fest: „Ob weiß oder schwarz – alle Menschen sind für mich gleich.“ Dann macht auch er sich auf den Rückweg. Am Ende der Straße taucht wieder das mit der Plastikplane bespannte Metallgitter auf. Die kleinen Kieselsteine knirschen wieder unter seinen Sohlen. Er nähert sich dem Erstaufnahmezentrum, das seit Monaten sein „Zuhause“ ist. An dem kleinen Tor grüßt ihn Fabian schon aus der Ferne. Er hat bereits auf ihn gewartet. Langsam schlendert Cherno auf den weißen, abgenutzten Fußball zu, der immer noch im Kies liegt. Er hebt ihn hoch und lässt ihn kurz auf einem seiner langen Finger tanzen, bevor er ihn mit den Füßen zu jonglieren beginnt. Der Fußball und Cherno sind eins – egal, ob in Italien oder in Gambia, in Bozen oder in Basse Santa Su.

von Elisa Leimgruber

Der Text erschien erstmals in der 22. Ausgabe von „zebra.”, November 2016. Die Sonderausgabe zum Themenschwerpunkt Zivilcourage wurde gemeinsam mit den Schülerinnen des Maria-Hueber-Gymnasiums erarbeitet.

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