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Dreiundzwanzigtausendundelf ist eine große Zahl. Eine Zahl, die für all die Menschen steht, die laut IOM (International Organization for Migration) der Vereinten Nationen im vergangenen Jahr auf der Flucht über den Seeweg an die Küste Italiens gelangt sind. Jeder Einzelne mit seiner ganz eigenen Lebensgeschichte im Gepäck.
„Ihre Geschichte gibt Menschen ein Gesicht“, sagt Alexander Nitz. Als Gründungsmitglied des Hauses der Solidarität in Brixen, kurz HdS, weiß er, wovon er spricht. Seit vielen Jahren ist er Teil der Hausleitung. Deshalb kennt er die Wirklichkeit dieser Menschen und hat fünfzehn von ihnen in einem Buch porträtiert. Von der Idee bis zum fertigen Buch, das sich an Kinder ab acht Jahren und die ganze Familie richtet, hat Alexander Nitz zwei Jahre lang gearbeitet, Evi Gasser hat es illustriert. „Weg, nur Weg“ erzählt die Lebensgeschichten von Menschen, die sich aufgemacht haben nach Europa, ins Land ihrer Träume. Im Interview erzählt Alexander Nitz, was diese Flucht mit uns zu tun hat.
„Weg, nur Weg“ heißt Ihr Buch. Was steckt hinter dem Titel?
Die Idee zum Buch hat zwei Wurzeln. Zum einen lese ich meinen Kindern gern Geschichten vor, am liebsten etwas mit Aktualitätsbezug, damit sie Zusammenhänge bereits im jungen Alter mitkriegen. Leider ist es schwierig, etwas Passendes zu finden. Zum anderen waren wir im Zuge der Flüchtlingswelle 2015 und 2016 als HdS in verschiedensten Gemeinden eingeladen, um von unseren Erfahrungen zu erzählen. Viele Südtiroler hatten Angst und waren besorgt. Die wenigsten fragten sich aber, ob es etwas mit uns und unserer Lebensweise zu tun hat, wenn Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen.
Hat es das denn?
Es hat mit unseren Lebensgewohnheiten zu tun und dadurch indirekt mit vielen Produkten, die wir konsumieren: Schokolade, Bananen oder Palmöl. Eigentlich ist so fast jedes Produkt in der globalisierten Welt belastet und hat seine eigene Geschichte zu erzählen, die immer auch mit Menschen zu tun hat.
In Ihrem Buch erzählen Sie die Geschichten von fünfzehn dieser Menschen. Wie haben Sie sie gefunden?
Alle fünfzehn Geschichten im Buch haben als Ausgangspunkt einen Gast aus dem Haus der Solidarität, der die Erzählungen so oder ähnlich erlebt hat.
Sind die Geschichten denn real?
Teilweise. Die Ursachen sind immer real. Da es aber ein Buch für Kinder und Jugendliche sein soll, wären manche Wirklichkeiten einfach zu tragisch gewesen, um sie Wort für Wort so zu erzählen. Außerdem wurden manche Geschichten zum Schutz der Protagonisten etwas abgeändert.
Welche Geschichte hat Sie im Laufe des Entstehungsprozesses denn am meisten berührt?
Eigentlich zwei. Einmal die erste Geschichte, die im Kongo spielt. Wir hatten tatsächlich eine Familie im Haus, die aus dem Kongo nach Italien geflüchtet ist. Der Familienvater arbeitete dort als Soldat, in einem Krieg, bei dem so viel Schreckliches passiert. Geschichten, die es nie bis zu uns schaffen. Und genau dort werden nun die Rohmaterialien für Batterien der E-Mobilität gewonnen. Das macht schon betroffen. Die andere Geschichte ist die einer Frau, die als Bettlerin auf der Straße lebte, bevor sie zu uns ins Haus gekommen ist. Durch diese Erzählung soll man Hintergründe wie die der Bettlermafia verstehen und darüber nachdenken, wie es diesen Menschen in ihrem Alltag geht.
Vermutlich besteht ein drastischer Unterschied zwischen der Idee, die wir von den Protagonisten im Buch haben, und der Realität …
Absolut. Das wollte ich auch bewusst machen. Die Bilder und Vorstellungen, die wir von Bettlern oder Flüchtlingen haben, sind oft verzerrt. Die wenigsten kommen aus freien Stücken nach Europa und die wenigsten wollen hier bleiben.
„In dem Moment, wo Menschen wirklich mit jemandem aus Afrika zu tun haben, ist dieser Jemand nicht mehr der Afrikaner oder der Schwarze, sondern Mohammadou oder Gibbi. Dann ist plötzlich der Mensch da, der die Geschichte erzählt.”
Warum glauben Sie, ist unser Bild von diesen Menschen so verzerrt?
Die Migration ist – gleich wie die Klimakatastrophe – ein komplexes Problem, das populistische Politiker mit einem Satz erklären wollen. Das funktioniert nicht. Komplexe Probleme suchen komplexe Antworten. Sicherlich hat es aber auch mit Ängsten zu tun, die jeder von uns hat und die zutage kommen. Außerdem gibt es einen Mangel an Begegnungen.
Was könnten Begegnungen verändern?
In dem Moment, wo Menschen wirklich mit jemandem aus Afrika zu tun haben, ist dieser Jemand nicht mehr der Afrikaner oder der Schwarze, sondern Mohammadou oder Gibbi. Dann ist plötzlich der Mensch da, der die Geschichte erzählt. Eine zentrale Aufgabe im Haus der Solidarität ist es, eine Plattform zu sein, die Begegnungen ermöglicht. So macht es längerfristig bei vielen Menschen Klick.
Was wollen Sie mit den Geschichten im Buch bewirken?
Ich möchte zeigen, dass bestimmte Probleme mit uns zu tun haben und wir diese Tatsache nicht leugnen können. Ich möchte zeigen, dass es Möglichkeiten gibt, das anders zu machen.
Wäre es ein Anfang, Migranten öfter ein offenes Ohr zu schenken?
Ja. Viele Menschen kommen aus Kulturen, in denen das Erzählen großen Wert hat. Bei uns sind alle hektisch und gestresst und haben keine Zeit für lange Erzählungen. Zuhören wäre nicht nur eine super Möglichkeit viele Dinge zu verstehen, sondern auch diesen Menschen mit Wertschätzung zu begegnen. Natürlich ist es immer auch eine sensible Geschichte, weil diese Menschen bei jedem Erzählen auch eine Retraumatisierung erleben.
Wo finden Interessierte das Buch „Weg, nur Weg“?
Momentan für eine Zeit lang auf der Straße bei den Verkäuferinnen und Verkäufern der Straßenzeitung „zebra.“. Und sonst in Buchhandlungen, Geschäften mit Büchersortiment und Weltläden. Natürlich auch bei uns im Haus der Solidarität. Es kostet 14,90 Euro, wovon ein Drittel die Straßenverkäufer behalten und zwei Drittel dem HdS zugute kommen. Damit arbeiten wir weiter an der Sache.
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