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Der Schweiß perlt in feinen Bahnen unablässig von Stefan Bruggers Stirn, als er die letzten Schritte Richtung Ziellinie marschiert. Die Beine scheinen etwas schwer zu sein, sein Blick jedoch wirkt angenehm erfrischt. „Mir geht’s prächtig“, erwidert er auf meine Frage nach seiner momentanen Verfassung. Ich hechle im Laufschritt neben ihm her. Hat er tatsächlich gerade „prächtig“ gesagt? Nach einer solchen Tortur? Geht's dem Burschen noch gut? Ich bin sprachlos.
Der 39-Jährige hat soeben einen wahren Kraftakt hinter sich gebracht. Eine Stunde und 28 Minuten lang war er unterwegs, hat auf Tourenskiern ein Gesamtgewicht von 131 Kilogramm über kräftezehrende 800 Höhenmeter nach oben geschleppt. Und jetzt geht’s ihm also prächtig. Was ist das für ein Energiebündel, dieser Pfundskerl aus Vahrn im Eisacktal, den die Strapazen des berühmt-berüchtigten „Ahrntaler 100 Kilo Rennens“ scheinbar unbeeindruckt lassen?
Man muss in Stefans jüngere Vergangenheit blicken, um die schiere Willenskraft des zweifachen Vaters und begeisterten Amateursportlers ansatzweise begreifen zu können. Vor vier Jahren nämlich war Sport für Brugger noch ein böhmisches Dorf. „Das hat mich damals überhaupt nicht interessiert“, erzählt er belustigt, „und wahrscheinlich wäre das auch noch lange so geblieben. Wären da nicht die dauernden Sticheleien meiner Ex-Frau gewesen, die mich fast widerwillig zum Laufsport gebracht haben.“ Sie zweifelte an seiner sportlichen Ausdauer. Er strafte sie Lügen, mit einem Dauerlauf von Vahrn nach Klausen und retour. Was er nicht wissen konnte: Die Retourkutsche an seine Ex-Frau entwickelte eine Eigendynamik, sie wurde zu Stefans „Damaskuserlebnis“, das ihn vom sportlichen Saulus zum Paulus verwandelte. Danach ging es Schlag auf Schlag: der Halbmarathon in Ljubljana, der Vienna City Marathon, die 42 Kilometer-Distanz am Bodensee und weitere Konditionsproben im In- und Ausland.
Stefans Athletik entwickelte sich entsprechend rasant, sein ausgesprochen entspannter Charakter litt darunter jedoch keineswegs. „Von meiner Lust am gemütlichen Leben habe ich seit damals nichts eingebüßt“, bemerkt Brugger selbstbewusst, „egal wo ich mitlaufe, am Ende zählt das gemütliche Beisammensein mit Sportkameraden viel mehr als irgendeine angepeilte Bestzeit.“
Was er damit meint, sieht man bereits im Startbereich des 100 Kilo Rennens. Während andere Rennteilnehmer sich mit schnöden Sandsäcken beladen, um das vorgeschriebene Mindestgewicht von 100 Kilogramm zu erreichen, schultert Stefan eine Holzkraxe, prall gefüllt mit Speck, Schnaps, Wein, Brot und anderen Delikatessen. „Oben im Ziel werde ich meinen Fresskorb mit allen anderen teilen. Das wird lecker und vor allem sehr, sehr lustig“, gibt sich Stefan prophetisch. Dass er auch ohne zusätzlichen Ballast das Gewichts-Quorum von 100 kg erreichen würde, interessiert den Vahrner nicht im Geringsten, im Gegenteil: „Hier geht’s doch nicht darum, ein Limit einzuhalten oder die Effizienz zu steigern. Ich möchte genau so schnell nach oben kommen, dass ich am Ende noch locker eine Brise Schnupftabak ziehen kann.“
Dieses Vorhaben geht zu 100 Prozent auf. Er beendet das für ihn wichtigste Rennen des Jahres schwitzend aber beschwingt, mit ausreichend Kraft, um bei der anschließenden Sause in Topform auftrumpfen zu können. „Das gibt es so nur hier im Ahrntal. Die entspannte Rennatmosphäre und die legendäre Party danach sind landesweit einmalig“, so Stefan. Im „Toul“ hat der Eisacktaler quasi sein sportliches Eldorado gefunden. Neben dem 100 Kilo Rennen gehört der Ausdauerlauf „gazintoscht ins Toul“ zu den absoluten Pflichtterminen seines Laufkalenders.
Einfallsreich wie Brugger ist, hat er seine eigene Art gefunden, den Tölderern für ihre herzliche Ungezwungenheit und Gastfreundschaft zu danken. Seit seiner ersten Teilnahme am Schwergewicht-Spektakel vor drei Jahren hat er maßgeblich zum berüchtigten Ruf dieser alpinen „via dolorosa“ beigetragen. „Meinen Premierenlauf absolvierte ich mit nur 120 Kilogramm Gesamtgewicht. Das veranlasste den Cheforganisator des Rennens, Franz Hofer, mich schnippisch zu fragen, ob das alles sei, was ich in der Pfeife hätte“, blickt Stefan zurück. „Da hat er mich beim Stolz gepackt.“ So kam es, dass er 2013 zwei Kisten selbst gebrautes Bier auf den Rücken schnallte und mir nichts dir nichts bis ins Finish trug. Wer solch irre Strapazen freiwillig durchlebt, wird im Ahrntal hemmungslos verehrt. Sein sportliches Martyrium machte den Kraftlackel aus Vahrn zu einer lebenden Legende am Klausberg. Sagenhafte 146 Kilogramm wog er bei seinem Gewaltmarsch – ein Gewichtsrekord, an dem sich die Konkurrenz bei der Ausgabe 2014 die Zähne ausbiss.
Um 21 Uhr, genau 90 Minuten nachdem die insgesamt 215 Teilnehmer auf die Rennstrecke losgelassen wurden, steht nämlich fest, dass Stefan Bruggers Rekord bestehen bleibt. Der Versuch des Tauferers Christian Oberbichler, ein Gesamtgewicht von 150 kg über die Renndistanz zu tragen, ist kläglich gescheitert. Wie der Herausforderer fair im Ziel erklärt, war sein Ballast – ein überaus fesches Mädchen – den Großteil der Strecke neben ihm hergezuckelt. Am Ende des Tages sind sich Beobachter und Experten einig, dass es 2015 wohl am Rekordhalter selbst liegen wird, die gültige Bestmarke noch einmal zu toppen. Zuzutrauen ist es ihm allemal und offensichtlich hat er sich auch schon Gedanken dazu gemacht. „Ich habe schon eine ungefähre Idee, wie das gehen könnte“, verrät er mir hinter vorgehaltener Hand, „du darfst es aber niemandem verraten.“ Selbstverständlich gebe ich Stefan mein Ehrenwort, auch weil ich nächstes Jahr mit ansehen möchte, wie das Publikum staunen wird, wenn Brugger der skurrilen Geschichte des „Ahrntaler 100 Kilo Rennens“ eine weitere Wahnsinns-Episode hinzufügen wird.
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