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Warum gehen Menschen auf Reisen? Warum ausgerechnet in die Berge? Und was macht das mit den Menschen, die das ganze Jahr dort leben?
Jetzt, wo die Tourismusbetriebe in Südtirol ihr Comeback feiern, sind diese Fragen wieder aktuell. Die Südtiroler Schriftstellerin und Theatermacherin Selma Mahlknecht ist ihnen in ihrem neuen Buch „Berg und Breakfast“ (Edition Raetia) humorvoll und mindestens genauso schonungslos nachgegangen. Und weil bekanntlich keine Reise und kein Urlaub ohne größere Enttäuschungen auskommen, lautet der Untertitel: „Ein Panorama der touristischen Sehnsüchte und Ernüchterungen“.
Spricht man heute mit Nachfahren von Bachtiari-Nomaden, erfährt man, dass sie – ganz in der nomadischen Tradition ihrer Ahnen – den Sommer gerne in ihrer Zweitwohnung in den kühlen Bergen verbringen. Genauso machen es auch die Sommerfrischler aus Bozen und die Touristen bei uns in den Bergen. Tragen wir alle noch ein Nomaden-Gen in uns?
Die komplette Sesshaftigkeit ist für uns Menschen wohl nicht erreichbar. Sie gar einen Irrtum der Menschheitsgeschichte zu nennen, wie ich es am Anfang des Buches tue, ist zwar eine Provokation, immerhin bringt Sesshaftigkeit sehr viele Vorteile und viele kulturelle Errungenschaften waren nur durch sie möglich. Tief in uns drinnen bleiben die meisten von uns aber doch Semi-Nomaden, die es nicht ein Leben lang an nur einem Ort aushalten würden.
Das Reisen zum Vergnügen, das Reisen als Selbstzweck, ist aber doch eher ein Phänomen der Moderne?
Denken wir an eine Figur wie Marco Polo. Ist der nicht auch zum Selbstzweck gereist? Oder nehmen wir einen alten Südtiroler Reisenden: Oswald von Wolkenstein. Der hat schon im 14. Jahrhundert im Gefolge eines fahrenden Ritters die halbe damals bekannte Welt bereist. In seinem berühmten „Durch Barbarei, Arabia“-Lied beklagt er sich darüber, wie er wieder „auff ainem runden Kofel smal“ leben muss und besingt all die Orte, die er in seiner Jugend besuchen durfte. Es ist eine endlose Aufzählung von Ländern, von Portugal über Frankreich nach Brabant bis hin ins ferne Arabien. Er hat es also schon genossen, das Reisen, war in gewisser Hinsicht auch schon ein Vergnügungsreisender.
Die Berge sind jedenfalls erst in den letzten 150 Jahren zu einem beliebten Reiseziel geworden. Wie war das früher?
Die Berge waren in erster Linie natürliche Barrieren, die man möglichst schnell hinter sich bringen wollte. Diese Kränkung, dass Goethe auf dem Weg nach Rom in Bozen nicht einmal ausgestiegen ist, sondern die Stadt höchstens eines kurzen Blicks aus dem Kutschenfenster gewürdigt hat, geht ebenfalls auf dieses Verhältnis zur Natur zurück: Zu den Bergen will man nicht hin, da will man nur durch. Die Sehnsucht nach den Bergen kam erst später, als wir ab dem 19. Jahrhundert aus der rauen Wildnis zunehmend eine gastliche Natur geschaffen haben. Noch heute gibt es jedes Mal, wenn die Wildnis zurückzukehren droht, ein großes Tatütata.
Wir sehnen uns nach unberührter Natur – aber bitte ja nicht die raue Natur, mit der sich unsere Vorfahren jahrtausendelang herumgeplagt haben.
Heute sind die Berge mit Straßen und Seilbahnen überzogen, ihre Wildheit ist durch Technik auf ein berechenbares Minimum reduziert. Genau das stört uns aber auch. Warum stört es uns so sehr?
Weil wir die Natur zuerst gezähmt und dann romantisiert haben. Wir sehnen uns nach unberührter Natur – aber bitte ja nicht die raue Natur, mit der sich unsere Vorfahren jahrtausendelang herumgeplagt haben. Es ist eine Sehnsucht nach einer Art paradiesischer Gartennatur. Was wir heute um uns herum angelegt haben, ist in der Tat auch keine wilde Natur mehr, sondern ein Garten, eine disziplinierte, ästhetisch eingerichtete und geordnete Natur, die ganz auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist. So gefällt es uns, gleichzeitig negieren wir aber den Gartencharakter und bilden uns ein, das sei noch echte Natur.
Trotz unserer Straßen und Aufstiegsanlagen erkennen wir aber auch im stundenlangen Wandern einen Sinn. Menschen aus anderen Kulturkreisen würden uns da den Vogel zeigen.
Ich bin selbst kein Mensch, der gerne stundenlang durch die Gegend wandert. Aber ich glaube, da geht es auch um die Begegnung mit sich selber. Interessanterweise ist dieses Motiv selbst bei Extrembergsteigern genau dasselbe wie bei Sonntagswanderern. Nach ihrer Besteigung des K2 hat Tamara Lunger, die Südtiroler Star-Alpinistin, gesagt: „Iatz bin i wieder bei mir selber unkemmen.“
Es ist auch viel von Massentourismus die Rede, von Verschandelung der Landschaft. Tourismus hat bei uns mittlerweile einen oft negativen Beigeschmack. Wie war dein Zugang zu diesem Thema?
Ich habe versucht, einen pragmatischen Zugang zu bewahren. Die Emotionen schlagen in beide Richtungen sehr stark aus: ob Verteufelung des Tourismus als Zerstörer von Kultur und Landschaft oder Glorifizierung als alternativloses Allheilmittel für Wirtschaft und Wohlstand. Deswegen habe ich das Wort „Ernüchterungen“ als Titel gewählt. Weil sich eine nüchterne Betrachtung weder vom einen noch vom anderen einlullen lässt. Für mich war eher die Frage interessant: Wie lässt sich Tourismus in einer Art und Weise gestalten, dass er für alle Beteiligten passt?
Als Lösung wird dann oft nach dem „Qualitätstourismus“ als Gegenentwurf zum zerstörerischen Massentourismus gerufen.
Unter Qualitätstourismus versteht man in erster Linie, dass eine hohe Qualität geboten wird. Diesbezüglich hat Südtirol tatsächlich einen hohen Standard. Das Angebot soll dementsprechend „Qualitätstouristen“ anziehen, aber was bedeutet das? Je höher die Qualität des Angebots desto höher der Preis. Qualitätstouristen sind also Leute, die sich diese Preise leisten können. Das finde ich wirklich sehr ernüchternd, denn eigentlich könnte auch ein Rucksacktourist, der dem neuen Ort mit Respekt und Interesse begegnet, ein Qualitätstourist sein – der kann es sich aber schlicht nicht leisten, in den gehobenen Hotels zu logieren und fein zu speisen.
Während Corona hat es in einigen Regionen bedrohlich wenig Touristen gegeben.
Es gibt Menschen, die sich, um sich von konventionellen Touristen abzugrenzen, lieber Reisende nennen. Zurecht?
Es ist interessant, wie wir unser Reisen immer wieder rechtfertigen. Reisende begeben sich gerne auf eine Art Mission. Wir versuchen also, noble Gründe für unser Reisen vorzugeben: neue Kulturen kennenlernen, sich selbst finden, den Zuhausegebliebenen die weite Welt näherbringen… Völlig absurd wird das, wenn zum Beispiel ein Journalist um die Welt jettet, um die Folgen des Klimawandels aufzuzeigen und den Daheimgebliebenen klarzumachen, wie schlimm Flugreisen sind.
Im Sinne der Nachhaltigkeit wird Tourismus gerne kritisiert. Kann es auch zu wenig Tourismus geben?
Oh, ja. In den letzten eineinhalb Jahren hat es in einigen Regionen sogar bedrohlich wenig Touristen gegeben. In manchen afrikanischen Staaten hatte man erst durch den Safari-Tourismus ein System schaffen können, wodurch man den Schutz der Tiere und ihrer Lebensräume finanzieren konnte. Sobald das Geld und die Aufmerksamkeit fehlten, hat die Wilderei in diesen Gebieten sofort wieder zugenommen. Tourismus kann also auch eine schonende Nutzung von Natur ermöglichen.
Safari-Urlaub war nicht mehr möglich, stattdessen hat die Pandemie viele Menschen zum Urlaub in ihrer unmittelbaren Umgebung gezwungen. Was war das: eine unverhoffte Neuentdeckung des Vertrauten oder eine Zumutung?
So ein Urlaub im eigenen Land, in den heimischen Bergen, war ganz nett und schön, aber die Umfragen zeigen, dass die meisten Leute jetzt wieder ans Meer und am liebsten mit dem Flieger davon wollen. Wir haben leider mehrheitlich einen Abhaktourismus – und der Urlaub zuhause ist jetzt eben auch abgehakt, schon ist das nächste Ziel dran.
Es stimmt vielleicht, dass der Urlaub hilfreich ist, um zu sich selbst zu finden, aber dann findet man eben auch wieder zu den eigenen Abgründen.
Urlaub hat für viele Menschen auch noch eine andere Funktion: Monatelang arbeitet man sich an einem Job ab und dann kommt die lang ersehnte Auszeit, damit man im Anschluss wieder voll funktionsfähig ist.
Ich habe den Eindruck, dass am Urlaub sehr viele Hoffnungen hängen, zum Beispiel, dass man die Beziehung zum Partner repariert, einen neuen Umgang zu den eigenen Kindern findet oder sich selbst wieder näherkommt. Diese Hoffnungen werden aber oft bitter enttäuscht. Was durch unsere Geschäftigkeit im Alltag überspielt wurde, kommt dann erst richtig zum Vorschein.
Die Zahl der Scheidungsanträge sind nicht ohne Grund im September am höchsten.
Weil der Urlaub oft den Schaden nicht nur nicht repariert, sondern zeigt, dass er irreparabel ist. Es stimmt vielleicht, dass der Urlaub hilfreich ist, um zu sich selbst zu finden, aber dann findet man eben auch wieder zu den eigenen Abgründen und merkt, was alles nicht stimmt.
Corona hat auch den Südtiroler Gastbetrieben einen harten Schlag versetzt. Werden wird jetzt versuchen, vom Tourismus unabhängiger zu sein?
Es wäre vernünftig, sich zu diversifizieren. Ich vermute, dass man jetzt in eine Kompensationsphase treten wird, nach dem Motto: Jetzt erst recht und jetzt noch mehr. Meine Hoffnung ist aber, dass besonders die Entwicklungsstrategen im Land dann auch darüber nachdenken, wie man die bestehenden Strukturen auf Dauer krisenresistenter machen kann.
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