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Eigentlich ist der Karneval in Rio de Janeiro ein farbenfrohes Spektakel mit viel nackter Haut. Eigentlich. Denn seit der ultrarechte Jair Bolsonaro das größte Land Südamerikas regiert, ist der Karneval für einige Brasilianer auch eine Form von Protest. Verbale Attacken gegen Minderheiten, Verherrlichung der Militärdiktatur, Rodung des Regenwaldes, Schmusekurs mit Donald Trump – das sind Bolsonaros Maßnahmen, die bei Linken und Liberalen Brechreiz auslösen. In solch einer Situation hat man als Oppositioneller zwei Möglichkeiten. Entweder wendet man sich angewidert von der Politik ab und resigniert. Oder man formiert sich zum Widerstand. Letzteres machen die Teilnehmer des Straßenumzugs in Rios Stadtteil Lapa.
Als die Sonne hinter den Hügeln der Favelas verschwindet, versammeln sich Tausende im Freien. Auf einem riesigen Truck heizen Trommler den Massen ein. Männer und Frauen tanzen in aufreizenden Kostümen zu den heißen Rhythmen. Bunter Körperglitzer funkelt durch die Nacht, Bier und Caipirinha fließen in Strömen, Lieder schallen durch die Gassen. Dabei vermischen sich Schmähgesänge gegen den Präsidenten mit traditionellen Karnevalsliedern und feministischen Slogans wie „Não é Não” (übersetzt: Nein heißt Nein). In diesen Tagen ist die ganze Stadt auf den Beinen. Denn jeder Stadtteil hat seinen Umzug, blocco genannt, mit eigenen Blaskapellen und Tänzern. Das Motto hier: Feierwut trifft Protestkultur. Einige haben sich den Slogan #LulaLivre auf die Wangen gemalt. Der brasilianische Ex-Präsident sitzt wegen Korruption im Gefängnis.
„Die Leute hätten auch den Teufel gewählt, um Lula loszuwerden.”
„Lula hat die Wahlen für Bolsonaro gewonnen”, sagt Bob Nadkarni. Der ehemalige BBC-Korrespondent wohnt seit vielen Jahren in Rio und hat in einer befriedeten Favela das Hostel „The Maze” gebaut. Fantastischer Blick auf den Zuckerhut, Terrassen kunstvoll mit Mosaik verziert: The Maze hat schon Stars wie Snoop Dogg zum Videodreh angelockt. Bob, weißes Haar und verschmitztes Lächeln, lehnt sich in seinem alten Holzsessel zurück. Er liebt es, Gäste mit seinen Anekdoten zu unterhalten. Als Beobachter der politischen Vorgänge in Brasilien kann er auch ernst werden: „Lula war Brasiliens Held und die Hoffnung für die Zukunft. Er hat das Land betrogen, indem er öffentliche Gelder für seine eigenen Zwecke einsetzte. Die Leute hätten auch den Teufel gewählt, um Lula loszuwerden.”
Der Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölriesen Petrobras hat auch Lulas Nachfolger in der Partei PT immens geschadet. Dies spielte Bolsonaro während des Wahlkampfs in die Karten: Er konnte sich als Saubermann inszenieren, der sich für Recht und Ordnung stark macht. Im Jahr 2017 wurden in Brasilien 63.000 Menschen gewaltsam getötet. Viele Brasilianer hoffen auch, dass Bolsonaro die grassierende Kriminalität und Gewalt in den Griff bekommt.
Als Tourist sind die Schattenseiten Rio de Janeiros schnell vergessen: Man flaniert goldene Strände entlang, bewundert die Kunststücke der Jungs beim Fußballspielen und trinkt zur Erfrischung Kokoswasser direkt aus der aufgeschlagenen Frucht. Ein Sonnenuntergang wie aus der Instagram-Traumfabrik lässt jedes Backpacker-Herz höher schlagen. Der Weg zurück in die Unterkunft sollte allerdings mit Bedacht gewählt werden. Überfälle und Schießereien stehen in Rio und vielen anderen brasilianischen Großstädten an der Tagesordnung. Um Bürger rechtzeitig zu warnen, haben engagierte Entwickler die App Onde Tem Tiroteio (OTT) realisiert.
Die Anwendung zeigt auf einer Karte an, wo sich gerade eine Schießerei ereignet. User können Vorfälle selbst melden. Um Falschmeldungen zu vermeiden, muss die Schießerei von einer zweiten Quelle bestätigt werden, erst dann wird sie in der App angezeigt. Wie bewegt man sich in so einer Stadt am besten fort? Viele Brasilianer raten mir: „Nimm am besten ein Uber oder ein Taxi.” OTT ist für Rio de Janeiro und São Paolo verfügbar und hat nach eigenen Angaben 4,7 Millionen User.
Momentan spricht viel dafür, dass die App auch weiterhin gebraucht wird. Bolsonaro hat das Waffenrecht gelockert. Wer das 25. Lebensjahr vollendet hat und nicht vorbestraft ist, darf in Brasilien künftig vier Feuerwaffen besitzen. Für Bob Nadkarni ist das absurd: „Ich bin gegen die Verbreitung von Waffen. Die Wahrscheinlichkeit, von einer Kugel getötet zu werden, ist für einen Waffenbesitzer dreimal höher als für jemanden, der über keine Waffe verfügt.”
Schon wenige Wochen nach seiner Amtseinführung hat das Saubermann-Image Bolsonaros arg gelitten. Seine Söhne sind aufgrund dubioser Geldflüsse in Erklärungsnot geraten. Außerdem bestehen merkwürdige Verbindungen zwischen der Ermordung der linken Stadträtin Marielle Franco und dem Umfeld des Präsidenten. Der ehemalige BBC-Journalist Bob Nadkarni setzt eine nachdenkliche Miene auf und sagt: „Bolsonaros Anti-Korruptionskampagne scheint keine Grundlage mehr zu haben.” Kommen noch mehr von Bolsonaros Machenschaften an die Oberfläche? „Die Zeit wird es uns zeigen.”
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