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Kokain, XTC & Keta: Die Floskel „Ach ja, die Jugend von heute“ bildet vielerorts die Reaktion auf Schlagzeilen über eine vermeintlich partywütende und eskalationsgeile Feierkultur bei Jugendlichen. Inwiefern junge Menschen heute tatsächlich mehr Drogen konsumieren und wo Erwachsene und die kapitalistische Gesellschaft Auslöser für Substanzgebrauchsstörungen sein können, berichtet Evelin Mahlknecht, Koordinatorin im Bereich Sucht des Forums Prävention.
BARFUSS:Die Pandemie war besonders für junge Menschen eine sehr schwierige Zeit. Wie geht es den Jugendlichen heute?
Evelin Mahlknecht: Ich denke die Jugendlichen und wir alle werden noch geraume Zeit mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen haben. Eine Folge, die zurzeit kontrovers diskutiert wird, ist der Anstieg des Drogenkonsums von jungen Menschen. Zum Suchtverhalten und dem Substanzkonsum gibt es noch keine aussagekräftigen Zahlen, die belegen, dass der Konsum von Drogen tatsächlich gestiegen ist. Nach meinem Empfinden und den Erfahrungen mit den Jugendlichen, ist das Thema rund um Substanzgebrauch allerdings sehr präsent. Diese These stützen Einrichtungen, die auf den Konsum von Jugendlichen spezifiziert sind, welche berichten, dass der Beratungs- und Behandlungsbedarf deutlich gestiegen ist.
Jugendliche, die experimentieren und die ein oder andere illegalen Substanz konsumieren. Handelt es sich wirklich um eine Zunahme des Konsumverhaltens von Jugendlichen oder um eine Verlagerung der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit?
Das ist die Frage. Ich glaube nicht, dass das Suchtverhalten extrem gestiegen ist, sondern viel eher die Thematik sichtbarer wird und die Gesellschaft aufmerksamer zuhört. Vermutlich sind heutzutage sowohl die Gesellschaft als auch die Konsumierenden selbst mehr für die Thematik sensibilisiert. Dabei kann Corona Abhilfe geleistet haben, da viele mehr Zeit hatten, sich mit sich selbst und dem eigenen Konsumverhalten auseinanderzusetzen. Es gibt Studien, die belegen, dass die Folgen der Lockdowns für Jugendliche und Kinder sehr stark sind, weshalb thematisch bereits vieles aufgearbeitet und Probleme der eigenen mentalen Gesundheit und des Suchtverhaltens enttabuisiert wurden.
Von welchen Süchten reden wir, wenn wir vom Konsumverhalten von Jugendlichen sprechen?
Zuallererst sollten wir mit dem Begriff der Sucht vorsichtiger umgehen, da viele Menschen nicht süchtig sind, sondern an einer Substanzgebrauchsstörung leiden. Bei den meisten Jugendlichen haben wir es nicht mit Menschen zu tun, die bereits an einer solchen Störung leiden, sondern „nur“ psychoaktive Substanzen konsumieren.
Zu welchen Substanzen greift die Jugend?
Bereits vor der Pandemie konnte sich der Anstieg des Kokainkonsums von Menschen – nicht nur Jugendlichen – abzeichnen. Cannabis ist nach wie vor ein großes Thema bei Jugendlichen und wird gerne zur Selbstmedikation beispielsweise bei Schlafstörungen eingesetzt. Ein Problem dahinter ist, dass das organisierte Verbrechen hierzulande perfekt organisiert ist und die Substanzen zu jeder Zeit verfügbar sind. Eine weitere Substanz, die bei Jugendlichen aktuell besonders Anklang findet, ist Ketamin. Auch andere aufputschende Substanzen sind sehr beliebt. Bei denen ist es aber wichtig zu erwähnen, dass sie der Leistungsgesellschaft in die Hände spielen.
Inwiefern?
Viele Substanzen ermöglichen uns, besser zu funktionieren: Sei es im Freizeitkontext, auf der Arbeit in der Schule oder im Studium. Sie helfen manchmal bei der Konzentration, dem Selbstbewusstsein oder im sozialen Umgang mit Anderen. Je mehr Unsicherheiten da sind, desto höher besteht die Tendenz, Unsicherheiten mit dem Substanzgebrauch zu kompensieren. Deshalb sind die aufputschenden Substanzen in unserer westlichen Gesellschaft, wo es nur ums Funktionieren und die Leistung geht, auch so beliebt. Kokain ist zum Beispiel kein explizites Problem der Jugend, im Gegenteil, es ist ein Problem der Erwachsenen- und Arbeitswelt.
Wir hatten viel verbreitetere Phänomene wie das Heroin in den 80ern, Ecstasy in den 90ern oder das Komasaufen in den Nuller-Jahren.
Nicht selten müssen sich junge Menschen anhören: „Ach die Jugend von heute…“
Ja, das ist Blödsinn. Die Jugend von heute ist gar nicht so schlimm wie die Jugend von damals… Wir hatten viel verbreitetere Phänomene wie das Heroin in den 80ern, Ecstasy in den 90ern oder das Komasaufen in den Nuller-Jahren. Heutzutage ist das Angebot grundsätzlich viel viel größer und trotzdem sehen wir rückläufige Zahlen bei diesen Substanzen. Auch dass die Kids beim ersten Konsum immer jünger sind, ist eine Aussage, die man häufig hört, aber die nicht bestätigt werden kann. Es ist wichtig zu unterscheiden, ob wir vom Durchschnitt oder individuellen Fällen sprechen.
Wie sieht es mit den legalen Substanzen aus?
Gerade boomt die Vapes- und Snus-(Niktoin Puches)Industrie. Alkohol- und Tabakkonsum gehen seit Jahren zurück. Dennoch ist Alkohol weiter hin die Party- und Volksdroge Nummer Eins. Alkohol ist in Südtirol so stark kulturell verwurzelt, dass wir uns eine Gesellschaft ohne Alkohol gar nicht mehr richtig vorstellen können. Wir schreien immer um Prävention und Intervention bei Themen, die die Jugend betreffen, ohne zu merken, dass sie von uns Erwachsenen, das bei ihnen kritisierte Konsumverhalten, vorgelebt bekommen.
Was genau ist daran so problematisch?
Je weniger wir den Jugendlichen zutrauen, umso mehr haben sie den Drang sich zu zeigen. Und dann kann man nicht mehr nur auf ein Getränk gehen, sondern muss über die Stränge schlagen, um gesehen zu werden. Wir müssen also die Jugendlichen sehen und hören, aber bedacht reagieren. Aktuell ist es eher so, dass je mehr die Jugendlichen auffallen, die Erwachsenenwelt umso lauter nach Patentrezepten zur schnellen und einfach Lösung schreit. Eine solche gibt es nicht. Betroffene oder ehemalige Abhängige auf eine Bühne zu holen ist zwar emotional sehr berührend, hat aber keinerlei nachgewiesene nachhaltige Wirkung. Wir müssen viel ganzheitlicher und komplexer denken.
Problematischer ist es da, wo der Substanzgebrauch gewisse „Mängel“ ausgleicht und dadurch vom Rausch- zum Zweckmittel wird.
Warum greifen junge Menschen zu Substanzen? Was beschäftigt die Jugend?
In erster Linie ist es sicherlich die Neugierde. Andere Menschen, Erwachsene werden beobachtet und dann will man Neues auszuprobieren, Grenzen überschreiten usw. Das gehört zur Jugendzeit ganz natürlich dazu. Im Regelfall baut sich diese Neugierde irgendwann ab. Problematischer ist es da, wo der Substanzgebrauch gewisse „Mängel“ ausgleicht und dadurch vom Rausch- zum Zweckmittel wird.
Wann sprechen wir von Zweckmitteln?
Der Zweck kann positiv und negativ bestimmt sein. Positiv ist die Freude, die man teilweise empfindet oder der Spaß, den man dann einmal bei einer Party hat. Meinerseits ist es auch verständlich und ok, in diesem Zuge einmal zu illegalen Substanzen zu greifen. Wir müssen nicht alles beurteilen und verurteilen.
Wie sieht es mit dem negativen Zweck von Substanzgebrauch aus?
Negativ intendiert ist, zu konsumieren, um sich besser oder weniger zu spüren, also Faktoren rund um das Wohlbefinden zu verbessern. Je größer der Unterschied zwischen dem Normal- und Rauschzustand ist, desto größer ist das Risiko riskante Konsummuster und Abhängigkeiten zu entwickeln.
Wieso sind gerade junge Menschen anfällig für den Rauschkonsum?
Wir können uns doch alle daran erinnern: Die Jugendzeit ist eine Zeit der Entwicklung; der Loslösung vom Elternhaus, der Wichtigkeit von Peergruppen, Zeit der Identitäts- und Werteentwicklung, Zeit erster Sexualitätserfahrungen und Zukunftsorientierung usw. Diese Entwicklungen sind wahnsinnig anstrengend und richtig Arbeit, daher sind viele Substanzen einfach funktional, bestimmte Entwicklungsphasen zu erfüllen.
Wir Erwachsene müssen mit gutem Vorbild vorangehen und offen über unsere Probleme aber auch die positiven Seiten der Drogenkonsums sprechen.
Was braucht die Jugend von uns Erwachsenen?
Offene, ehrliche und nicht verurteilende Kommunikation. Wir Erwachsene müssen mit gutem Vorbild vorangehen und offen über unsere Probleme aber auch die positiven Seiten der Drogenkonsums sprechen. Die Frage lautet also nicht was können wir sofort gegen das Konsumverhalten von Jugendlichen tun, sondern warum konsumieren Jugendliche und was brauchen sie.
Und was brauchen sie?
Vieles. Angefangen bei der Politik. In Österreich haben sich beispielsweise Suchtpräventionsstellen positioniert und sich für eine Regulierung von Cannabis ausgesprochen. Regulierung bedeutet dabei nicht Legalisierung: Es ist kein Geheimnis, dass Jugendliche überall die Möglichkeit haben an Cannabis ohne Qualitätskontrolle, ohne Alterskontrolle, ohne Aufklärung zum Konsumverhalten, zu kommen. Wir dulden mit der Kriminalisierung des Konsumverhalten von Jugendlichen die Florierung des Schwarzmarktes und des organisierten Verbrechens, das ein viel größeres Risiko für unsere Jugend darstellt. Wir müssen also über richtigen Konsum Aufklärung leisten sowie sicheren Raum und Orientierung geben. Es geht um ein Begleiten ohne Verurteilen.
Wie kann man als Elternteil oder Freund*in einer Person mit Tendenzen zur Substanzgebrauchsstörung umgehen?
Wichtig ist einen Moment tief durchzuatmen und nicht in Panik zu verfallen. Man muss bedacht an die Situation herangehen. Häufig handelt es sich um Vermutungen, die sich wegen fehlender Aufklärung als falsch herausstellen, da der Substanzgebrauch doch in unseren Köpfen noch ein großes Tabu darstellt. Wichtig ist die Person darauf anzusprechen und sich seriöse Informationen einzuholen sowie Fachdienste zur Beratung zu ziehen. Dafür gibt es viele Anlaufstellen wie die Dienste für Abhängigkeitserkrankungen, La Strada-Der Weg, die psychosoziale Beratung der Caritas, das Forum Prävention, psychologische Dienste des Landes, Young Hands, Familienberatung, Young and Direct und noch viele mehr.
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