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Lisa Settari
Veröffentlicht
am 14.02.2022
LeuteProtestaktion

Studenten als Staatsfeinde?

Veröffentlicht
am 14.02.2022
Das ägyptische Regime lässt Kritiker, die an europäischen Unis forschen, verhaften und gerät damit öfters in westliche Medien. Ein Fall ist Ahmed Samir.
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Die Haft hat Ahmed Samir zum Poeten gemacht. Der Brief, aus dem seine Verlobte Souheila Yildiz vorliest, ist voll von Metaphern und verspielten Sätzen. Es klingt, als erzähle er von einer anderen Welt, in der man schwebt statt geht und Geräusche nur gedämpft wahrnimmt, wie in einem riesigen, blaugrünen Aquarium. Dabei verbringt Ahmed seine Tage in einer Gefängniszelle ohne Fenster und mit offener Toilette. Souheila muss beim Vorlesen ein paar Mal schlucken. Schließlich kommen ihr auch die Tränen, obwohl sie seit gut einem Jahr öffentlich immer wieder über Ahmeds Fall spricht. So wie am 25. Januar bei der Konferenz über Wissenschaftsfreiheit der Central European University in Wien. Und wer könnte ihr das Weinen verdenken?

Souheila’s Verlobter ist seit Februar letzten Jahres in Ägypten in Haft, wie tausende andere politische Gefangene, deren kritische Haltung, Forschung oder Arbeit nicht in das Weltbild der Regierung von Präsident as-Sisi passen. Ahmed hatte im Herbst ein Masterstudium in Soziologie und Sozialanthropologie an der Central European University, einer internationalen Universität in Wien, begonnen. Der überzeugte Feminist schrieb seine Abschlussarbeit über das Recht auf Schwangerschaftsabbrüchen in seinem Heimatland. Dorit Geva, Ahmeds akademische Betreuerin, musste ihn öfters bremsen und daran erinnern, dass dies eine Masterarbeit werden sollte, keine Promovierungsschrift. Denn Ahmed hätte am liebsten dutzende Frauen und Aktivist*innen befragt, die Thematik interdisziplinär beleuchtet, und gleich einen historischen Überblick über Verhütung und Schwangerschaftsabbrüche in Ägypten mitgeliefert. Er sei ein äußerst motivierter und hervorragender Student, so Geva. Außerdem ist er laut Beschreibungen von Professor*innen und Studienkolleg*innen eine „Rampensau“. In Seminaren hatte er immer etwas zu sagen oder zu kritisieren, und auf Gruppenfotos war er meistens der Mittelpunkt: der in der auffälligsten Pose oder der mit der lustigsten Grimasse; und der mit den Flip-Flops, die er anscheinend bei Wind und Wetter getragen hat. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie es so einem kontaktfreudigen, lebendigen und intelligenten jungen Menschen, einem Freigeist, in einer kleinen Gefängniszelle gehen muss. Ich denke jeden Abend an ihn“, sagt Geva.

Von kritischen Studenten zu „Staatsfeinden“

Den letzten direkten Kontakt mit Ahmed hatte Geva im Dezember 2020, per E-Mail, nachdem er über die Ferien zu seiner Familie nach Ägypten gefahren war. Ahmed war es schon gewohnt, bei Ankunft am Flughafen von Ordnungskräften befragt zu werden, doch im Winter letzten Jahres blieb es nicht dabei. Am 1. Februar 2021 wurde er zur National Security Agency (NSA) vorgeladen, einer Spezialeinheit, die für terroristische und politische Angelegenheiten zuständig ist. Von dieser Vorladung kam Ahmed nicht mehr zurück. Was folgte, war eine skurrile, pseudo-gerichtliche Prozedur.

Fünf Tage lang wurde Ahmed von der NSA festgehalten und unter anderem über seine Forschungsarbeit verhört. Er konnte weder seine Familie, noch seine Verlobte oder seinen Anwalt kontaktieren. Zudem wurde er mehrfach von Sicherheitsbeamten geschlagen. Am 6. Februar musste er sich vor der Supreme State Security Prosecution (SSSP) verantworten, für Mitgliedschaft einer Terrororganisation. Die SSSP ist ein Strafverfolgungsorgan, das von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wiederholt kritisiert wurde. Offiziell dient es der Staatssicherheit, aber gewöhnlich bringt es Regimekritiker*innen zum verstummen.

In einem Interview mit dem Falter berichtet Hussein Baoumi, ein Ägypten-Experte von Amnesty International, dass in der Anklageschrift nicht einmal der Name der Terrororganisation genannt wurde, dessen Mitglied Ahmed sein soll. Außerdem hätten weder Ahmed noch sein Anwalt Einsicht in die Akten gehabt. Es folgten neue Ermittlungen gegen Ahmed, diesmal ging es um Posts in sozialen Netzwerken, mit denen er Falschmeldungen verbreitet haben soll, die gegen das Staatsinteresse und die öffentliche Ordnung gewirkt hätten. Laut Amnesty International sind all das absurde Vorwürfe, die nicht auf Fakten beruhen.

Schließlich wurde Ahmed am 22. Juni wegen Verbreitung von Falschmeldungen zu vier Jahren Haft verurteilt. Da das Urteil vom Notgericht für Staatssicherheit gefällt wurde, kann dagegen kein Rekurs eingelegt werden – nur eine Begnadigung des Präsidenten könnte es abändern.

Auch Giulio Regeni und Patrick Zaki gerieten wegen ihrer Forschung und regimekritischen Haltung ins Visier der ägyptischen Regierung.

Für Amnesty International ist Ahmed ganz klar ein politischer Gefangener, der wegen seiner Forschung und regimekritischen Haltung ins Visier der ägyptischen Regierung geriet – genauso wie Giulio Regeni, Patrick Zaki und tausende andere Menschen. Junge Ägypter*innen, die im Ausland studieren und sich kritisch mit den Geschehnissen zuhause auseinandersetzen, gelten als bedrohlich für as-Sisis Regime, berichtet Amnesty International.

Aktion: #FreeAhmedSamir

Ahmed kam zuerst in das berüchtigte Tora-Gefängnis südlich von Kairo. Um gegen seine Inhaftierung zu protestieren, trat er in einen vierzigtätigen Hungerstreik, während dem sich sein körperlicher Zustand stark verschlechterte. Sein dreißigster Geburtstag verstrich. Nach dem Hungerstreik wurde er als Strafe in Einzelhaft verlegt. Er, die Quasselstrippe, der Klassenclown, der von Zwischenmenschlichkeit lebt. Mittlerweile ist er in einem anderen Gefängnis, die Bedingungen dort sind etwas besser. Mitunter kommt Ahmed sogar zu den Studierunterlagen, die seine Universität ihm schickt, einmal im Monat darf er Besuch haben, und ein Briefwechsel ist möglich.

Natürlich werden Briefe von und an Ahmed von Gefängnispersonal mitgelesen, deshalb schreibt er die obgenannten poetischen Zeilen. Die Wahrheit über sein Befinden muss zwischen den Zeilen gelesen werden. Souheila ist trotzdem froh über die Nachrichten von ihrem Verlobten. Auf seinen ersten Brief aus der Haft wartete sie drei Monate lang. Während der Konferenz über Wissenschaftsfreiheit im Januar erzählt sie, dass Ahmed vor kurzem Kurse in Rechtswissenschaften an einer ägyptischen Hochschule aufgenommen hat. Studieren muss für Ahmed ein Rettungsanker sein, auch ohne die Möglichkeit zum Austausch mit Kommiliton*innen. Ansonsten, so schrieb er seiner Verlobten, versuche er, sich auf Alltägliches zu konzentrieren und im Moment zu leben, um sich vor unerträglichen Gedanken über die Außenwelt und seine Zukunft zu schützen. Er habe sich außerdem angewöhnt, viel zu schlafen, um weniger Zeit zum Grübeln zu haben. Mittlerweile schaffe er vierzehn Stunden.

Ich versuche, mich auf Alltägliches zu kontentrieren und im Moment zu leben, um mich vor unerträglichen Gedanken über die Außenwelt und meine Zukunft zu schützen.

Seit Ahmeds Verhaftung setzen sich einige seiner Studienkolleg*innen mit Amnesty International Österreich für seine Freilassung ein, etwa durch eine Online-Petition, und über verschieden soziale Medien wie Facebook, Twitter und Instagram. Auch die Central European University und die Österreichischen Hochschüler*innenschaft haben ihre Empörung über den Fall kundgetan. In der Bibliothek von Ahmeds Universität stehen große Schablonen mit Porträtzeichnungen von ihm, die der italienische Künstler Gianluca Costantini zum Anlass von Ahmeds hundertstem Tag in Haft gestaltet hat. Denise Tan von Amnesty International Österreich begrüßt auch diplomatische Bemühungen von Samirs Universität und dem österreichischen Außenministerium, betont aber gegenüber Barfuss, dass „eine stärkere Vernetzung auf EU-Ebene in Bezug auf die Menschenrechts-Krise in Ägypten“ von Nöten wären.

Amnesty International fordert die Mitglieder des UNO-Menschenrechtsrats dazu auf, einen Überwachungs- und Berichterstattungsmechanismus für den Fall Ägypten einzuleiten. Obwohl Ägypten bislang nicht auf die Kampagne reagiert hat, ist sich Tan sicher, dass Proteste wahrgenommen werden. Wie zum Beispiel die Mahnwache von Studierenden der Central European University vor der ägyptischen Botschaft im gutbürgerlichen 19. Wiener Bezirk am 1. Februar, dem ersten Jahrestag von Ahmed Verhaftung. Ariel Bineth ist ein Studienkollege Ahmeds und hat die Mahnwache mitorganisiert. Laut ihm ist das wichtigste, das Interesse an dem Fall und die Empörung darüber aufrecht zu erhalten, und immer wieder zu zeigen: „Sicher, unser Leben hier draußen geht weiter, aber wir dürfen Ahmed nicht vergessen, denn das ist genau das, was die ägyptischen Behörden wollen.“ Er ruft dazu auf, die Petition zu unterschreiben und Informationen zu seinem Fall zu teilen. Das könne Ahmed helfen.

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