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Wer Theaterregisseur werden will, muss eine gute Fitness haben. Diesen Eindruck bekommt man zumindest, wenn man Alexander Kratzer bei den Proben zu „Option. Letzte Spuren der Erinnerung“ beobachtet. Statt gemütlich von seinem Regiestuhl aus Kommandos zu geben, läuft er auf die Bühne hinauf, von der Bühne herunter, wieder hinauf, nach rechts zur Band, nach links zur Schauspielerin, nach hinten zum Zeitzeugen.
Beobachtet man ihn länger, erkennt man einen Sinn in der Dynamik: Kratzer sucht Nähe, das Gespräch auf Augenhöhe. Geduldig setzt er sich auf eine Kiste neben einen Zeitzeugen, legt ihm behutsam die Hand auf die Schulter und bespricht mit ihm den Ablauf. Da rückt er noch einen Stuhl zurecht, dort macht er einen Scherz, und als einer der Darsteller für die Videoprobe die Brille abnehmen muss und dabei sagt: „Entschuldigung, dass ich so blöd schaue, aber ich sehe gerade nichts“, nimmt Alexander Kratzer kurzerhand auch die Brille ab, um mit ihm – genauso „blöd schauend“ – weiterzureden. Warum ihm dieses Vertrauensverhältnis so wichtig ist, erzählt der Tiroler wenig später im Interview.
Das außergewöhnliche Theaterprojekt „Option. Letzte Spuren der Erinnerung“ wird am 23. und 24. Februar im Stadttheater Bozen aufgeführt. Alle Details zum Stück und zu den Terminen gibt es hier.
Das dokumentarische Stück „Option. Letzte Spuren der Erinnerung“ haben Sie 2014 anlässlich des Gedenkjahres „75 Jahre Option“ aufgeführt. Dieses Jahr sind es nun 80 Jahre Option. Gibt es darüber hinaus einen Grund für die Wiederaufnahme des Stücks?
Der eigentliche Grund für die Wiederaufnahme ist, dass die Zeitzeug*innen es unbedingt nochmal machen wollten. Wir hatten seit den Aufführungen 2014 immer zweimal pro Jahr ein Treffen, und da fragten sie jedes Mal: „Wann machen wir es wieder?“ Beim Weihnachtstreffen 2017 haben wir dann abgestimmt und alle waren dafür. 2019 hat wegen 80 Jahre Option, aber auch wegen 100 Jahre Südtirol bei Italien gepasst.
Sie treffen sich also immer noch regelmäßig mit den Zeitzeug*innen?
Ja, das ist für alle Beteiligten ein Herzensprojekt, und wir sind uns sehr nahe gekommen durch die Vorstellungen und die gemeinsamen Erlebnisse. Deshalb war es uns wichtig, nicht wie sonst im Theater wieder auseinanderzugehen, sondern Kontakt zu halten. Das Nette ist, dass die Zeitzeug*innen – die älteste ist inzwischen ja 96 – auch untereinander kommunizieren. Einige schreiben sich Weihnachtspostkarten, manche haben am Sonntag immer einen Telefontermin, andere wiederum schreiben sich SMS oder sogar über WhatsApp, die sind da relativ modern.
Hätten sich die Dableiber*innen und die Optant*innen vor 80 Jahren getroffen, wäre es vermutlich nicht zwischen allen so friedlich zugegangen. Haben sie sich untereinander auch über ihre Optionserfahrungen ausgetauscht?
Alle Beteiligten hatten zuvor sehr wenig über die Zeit der Option gesprochen und wenn, dann hauptsächlich die Optant*innen mit den Optant*innen und die Dableiber*innen mit den Dableiber*innen. Diese gemischten Gespräche gab es nicht. Durch das Theaterprojekt sprechen sie mehr miteinander und – worauf ich als Theatermacher stolz bin – ganz viele Menschen haben erzählt, dass sie auch in der eigenen Familie nachgefragt haben, wodurch die Großeltern verstanden haben: „Es könnte ja doch interessant sein, meiner Familie das zu erzählen.“ Dadurch ist ein Aufarbeitungsprozess in Gang gesetzt worden.
Das Thema Option ist zweifelsohne ein dunkles Kapitel in der Geschichte Südtirols. Gleichzeitig passt es gut in dieses Opfer-Narrativ hinein, das Südtirol so gerne bedient. Hatten Sie nie die Befürchtung, dass Sie mit dem Stück nochmal in die Opferkerbe hineinschlagen?
Eigentlich nicht. Die Südtiroler*innen waren natürlich Opfer, aber eben nicht nur. Es ist mir wichtig, an diesem Abend zu erzählen, dass es Menschen gegeben hat, die aktiv Propaganda für die Option gemacht haben. An ein paar Stellen verweisen wir etwa auf die Deportation von Jüd*innen in Südtirol. Eine reine Opferposition einzunehmen ist falsch, auch wenn man auf die Zahlen schaut: 85 Prozent der Südtiroler*innen haben für die Option gestimmt. Und wenngleich viele nicht genau wussten, worauf sie sich da einlassen, so hat es doch viele gegeben, die das sehr wohl wussten und überzeugte Nationalsozialisten waren. Die Schwierigkeit ist, jemanden zu finden, der sagt: Ich war überzeugter Nationalsozialist, ich habe Leute angeworben. Uns muss natürlich klar sein, dass die Zeitzeug*innen nach 75 oder 80 Jahren die Kinder- und Jugendgeneration sind. Aber wir haben zum Beispiel die Erinnerungen eines Mannes im Stück verarbeitet, dessen Vater Propaganda in seinem Dorf betrieben hat. Wir hatten auch einen Zeitzeugen, der erklärt hat, warum er überzeugter Nationalsozialist war. Wir haben also versucht, auch diese Täterschaft auf die Bühne zu bringen.
Für das Projekt wurden 2014 über 60 Zeitzeug*innen interviewt. Warum haben Sie diese direkt ins Stück integriert und nicht einfach ein Drehbuch anhand deren Erfahrungen geschrieben?
Wir starteten damals einen Aufruf und fuhren zu all diesen Menschen hin und interviewten sie. Ich bilde mir ein, dass ich dadurch dieses Land von einer ganz besonderen Seite kennenlernen durfte. Ich bin quasi in der Stube gesessen und habe mitgegessen und nebenbei die Geschichte des Landes kennengelernt. Der Abend baut komplett auf diesen Erzählungen auf. Eine szenische Lösung – also dass man einen Dialog daraus macht, das abstrahiert oder ein klassisches Theaterstück entsteht – wollten wir nicht. Es war mir wichtig, dass die Zeitzeug*innen auf der Bühne stehen und erzählen. Das sind keine gelernten Texte, ich habe ihnen immer gesagt: Das ist eure Erinnerung, ihr dürft euch nichts zurechtlegen. Es ist in dem Sinne kein Theaterstück, sondern ein dokumentarisches Theater, das sehr direkt ist und im Moment passiert.
Ist es dadurch nicht schwierig, eine Dramaturgie hineinzubringen?
Ja (lacht). Es gab gewisse Themenbereiche, etwa das Judentum oder die Opferrolle, die sich durch diese 60 Gespräche herauskristallisiert haben. Um diese Themen herum haben wir versucht, eine Dramaturgie anzulegen, die nicht extrem stringent und vielleicht auch ein bisschen schwerer durchschaubar ist.
Spielt in dem Sinne die Musik eine größere Rolle als in anderen Stücken?
Auf jeden Fall. Dieses Projekt begleitet ja die Musicbanda Franui. Sie hat einerseits Material aus der Quellmalz-Sammlung verwendet, aber Franui hat auch sehr dicht mit mir zusammengearbeitet, um Atmosphären entweder zu unterstützen oder gegen Atmosphären anzuspielen und einen Kontrapunkt zu setzen. Es ist wesentlich für das Stück, dass Franui auf der Bühne ist und das Ganze zusammenhält, damit sich die Zeitzeug*innen in einem sicheren Rahmen relativ frei bewegen und erzählen können.
Das Optionsstück war Ihre erste Zusammenarbeit mit Zeitzeug*innen. Welche Herausforderungen bringt diese mit sich?
Zum einen die dramaturgische Herausforderung, zum anderen sind das Menschen, die noch nie auf der Bühne waren. Man muss ihnen Sicherheit vermitteln, damit sie sich das trauen. Es ist etwas anderes, wenn ein Schauspieler auf die Bühne kommt, der immer hinter eine Rolle zurücktreten kann, als auf der Bühne authentisch zu sein. Dafür war es wichtig, dass die mitwirkenden Schauspieler*innen ein sehr nahes Verhältnis zu den Erzählenden aufbauen. Also teilten wir jeweils den Schauspieler*innen Gesprächspartner*innen zu. Sie trafen sich, da war ich auch dabei, und verbrachten einen Tag miteinander und unternahmen etwas, damit sie sich kennenlernen und ein Vertrauensverhältnis zueinander aufbauen konnten. Damit war garantiert, dass der Schauspieler oder die Schauspielerin, wenn jemand auf der Bühne etwas vergisst, nachfragt oder dahinführt.
Der jüngste Zeitzeuge auf der Bühne ist 83, eine Zeitzeugin ist Anfang Februar verstorben. Bald wird es keine direkten Zeitzeug*innen mehr geben. Ist Ihnen auch bewusst, dass es dieses Stück in fünf Jahren vielleicht gar nicht mehr geben kann?
Es ist uns sehr bewusst und es ist uns noch einmal schmerzlich bewusster geworden. Wir hatten zu Weihnachten 2018 ein Treffen. Da waren fast alle dabei und es ging fast allen sehr gut. Anfang Januar ging dann ein Ruck durch die Gruppe – manchmal habe ich den Eindruck, die haben so eine starke Verbindung, dass das zeitgleich passiert. Mittlerweile waren einige im Krankenhaus und es geht vielen merklich schlechter. Eine Zeitzeugin musste diesen Montag noch absagen. Wir hatten jetzt schon viele Diskussionen darüber, ob wir es überhaupt machen oder alles absagen sollen. Aber den Zeitzeug*innen war es ein großes Anliegen, vor allem, weil sie das Gefühl haben, dass die derzeitige politische Lage in Europa es dringend nötig macht, dass die Leute – und gerade auch das junge Publikum – diese Geschichten nochmal hört.
Einen Zeitzeugen und eine Zeitzeugin haben Sie durch deren Nachkommen ersetzt. Wie kam es dazu?
Wir wollten nicht einfach für alle Abwesenden Videos einspielen, also haben wir versucht, verschiedene Ansätze zu finden. Karl Tarfußer etwa erzählte uns immer so liebevoll von seinen Enkelkindern. Also haben wir seinen Enkel Alexander Donà eingeladen, der es wiederum sehr wichtig findet, dass er seinen Großvater vertreten kann. Und im zweiten Fall kommt die Tochter von Anna Gius auf die Bühne. Anna Gius ist vor zwei Wochen verstorben. Ich habe sie vier Tage vor ihrem Tod besucht und mit ihr geredet. Da war sie sehr klar, etwas schwach, aber auf keinen Fall so, dass ich mir gedacht hätte, dass sie vier Tage später stirbt. Zuvor hat Anna Gius noch ihrer Tochter den Auftrag gegeben, auf die Bühne zu gehen und ihre Geschichte zu erzählen. Diesen Auftrag nehmen wir natürlich wahr. Es ist wichtig, dass wir dieses Vergehen der Zeit und das Sterben der Erinnerung erzählen. Zeitzeugen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts sterben und wir werden bald niemanden mehr haben, der das erzählen kann.
Sie haben mit „Bombenjahre“ und „Wir. Heute! Morgen! Europa“ zwei weitere Stücke zur Südtiroler Zeitgeschichte aufgeführt. Woher kommt die Dringlichkeit, diese Themen zu erzählen?
Meine persönliche Erfahrung mit dem Optionsstück war so eine bereichernde und spannende, dass ich gerne weitermachen wollte. Die Idee für das Bombenjahre-Projekt kam mir bei einer Vorstellung von „Option“. Die Standpunkte sind vielleicht nochmal extremer, weil auf der Bühne Menschen waren, die sich noch vor fünfzig Jahren vielleicht gegenseitig erschossen hätten, wenn sie sich begegnet wären. Die Idee für das letzte Projekt ist wiederum bei „Bombenjahre“ entstanden. Ich wollte nichts Historisches mehr erzählen, sondern etwas Heutiges, oder vielleicht auch einen Blick in die Zukunft wagen. Ich fuhr durch Europa, in andere Minderheitenregionen, um Südtirol und seine Autonomie in einen europäischen Kontext zu setzen.
Ist es für Sie als Nicht-Südtiroler leichter, solche Themen anzugehen, weil Sie mehr Abstand haben?
Vor allem bei den ersten beiden Projekten hat sich das als Vorteil herausgestellt, weil jeder sofort hört, dass ich ein Nordtiroler bin. Bei der Option war es einfach klar, dass ich zu keiner Gruppe gehöre, weil meine Familie nicht optieren musste. Bei den Bombenjahren war es auch sehr gut, dass ich die neutralere Sichtweise hatte. Beim Europaprojekt war das zweitrangig, weil eine Schwedin, die in Finnland auf den Åland-Inseln lebt, den Unterschied zwischen Nord- und Südtirol nicht kennt. Das zeigt, dass mit der Entfernung auch die Grenzen ein bisschen verschwimmen. Dieser Blick von draußen, der die Probleme Südtirols relativiert, war mir dabei schon ein Anliegen.
Gibt es denn noch ein Südtirol-Thema, das Sie gerne bearbeiten möchten?
In meinem Kopf habe ich jetzt mal damit abgeschlossen. Ich weiß nicht, warum ich eine Trilogie machen wollte, aber die ist ja erst mal komplett. Es ist schön, dass der Anfang der Trilogie jetzt nochmal am Schluss steht. Ich glaube, für uns alle ist das jetzt ein schöner, auch trauriger Schlusspunkt, der uns zeigt, wir alle werden älter. Übrigens sieht man das auch an diesem Abend. Die Schauspieler*innen haben sich verändert. Sie haben wieder fünf Jahre mehr Erfahrung, sind Eltern geworden oder haben Eltern verloren. Das zeigt, dass es immer so weiter geht und man nie weiß, was die nächsten fünf Jahre oder die nächsten drei Tagen bringen.
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