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Sein Name polarisiert. Die Hochschulwelt Deutschlands ist sich uneins, was den Umgang mit ihm und seinen Gedanken angeht. Die einen respektieren oder feiern ihn als „Vordenker“ oder „philosophischen Kopf“ der Alternative für Deutschland (AfD). Bei anderen ist er als „Wutdenker“ oder Wegbereiter eines „intellektuellen Faschismus“ nicht besonders beliebt. Die Rede ist vom Südtiroler Marc Jongen.
1968 in Meran geboren, hat er am dortigen Realgymnasium maturiert und studierte in Wien Philosophie, Geschichte, Germanistik – wie auch Volkswirtschaft und Indologie. Seit 1999 ist er an der Karlsruher „Hochschule für Gestaltung“ tätig – zunächst als Doktorand beim bekannten, streitbaren deutschen Philosophen Peter Sloterdijk, seit 2003 nunmehr als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Ästhetik und Philosophie und als Dozent. Zuvor war er in den 90er-Jahren journalistisch aktiv und hat u. a. für „Die Zeit“ geschrieben. Das Aufkommen der AfD 2013 bedeutete für ihn zugleich einen neuen Lebensabschnitt: Jongen widmet sich verstärkt der Politik, war maßgeblich an der Ausarbeitung des Grundsatzprogramms beteiligt und ist seit März 2017 einer der zwei gleichberechtigten Landessprecher des AfD-Regionalverbands seines Bundeslandes Baden-Württemberg.
Herr Jongen, sind Sie ein Rechtspopulist – muss ich mich fürchten?
Der Begriff des Populismus wird heute extrem missbraucht und hat einen diffamierenden Charakter. Wer mich einen Populisten nennt, will mich vor allem abwerten. Dagegen wehrt man sich am besten, indem man sich den Begriff offensiv zu eigen macht und seine eigentliche Bedeutung in den Vordergrund rückt: Populus heißt ja nichts anderes als Demos im Griechischen, also Volk. Wer nun Volkes Stimme spricht, ist also nur ein Demokrat, der gegen postdemokratische Tendenzen anzukämpfen versucht.
Sie haben für deutsche Medien wie etwa „Die Zeit“ geschrieben und waren Gründungsmitglied der „Neuen Südtiroler Tageszeitung“. Waren Sie Teil der Lügenpresse?
Gründungsmitglied ist übertrieben, ich bin dazu gestoßen, als ehemalige Mitglieder des „Südtirol Profil“ die Tageszeitung gründeten. Zu dieser Zeit gab es noch eine größere Meinungsvielfalt. Die Medienlandschaft wird heute von einer Art Meinungskartell dominiert, das den Lesern eine gewisse Weltsicht aufdrücken will. Man liest kaum noch Artikel ohne einen belehrenden Unterton. Das Kennzeichen dieses Kartells ist weniger das Lügen, als vielmehr das gezielte Weglassen oder Hervorheben von Tatsachen, was raffinierter ist. Ich bevorzuge deshalb den Begriff der Lückenpresse.
Und diese sogenannte Lückenpresse gibt es auch in Südtirol?
Ich verfolge die Berichterstattung dort seit längerer Zeit nicht mehr so genau, aber es würde mich sehr wundern, wenn es dort ganz anders wäre. Generell herrscht in Südtirol eher die süddeutsch-österreichische Zensurmanier vor, also kein penetrantes Moralaposteltum, sondern Harmonisieren und Beschönigen. Unangenehmes und Störendes wird gerne unter den Teppich gekehrt, das ist mein Eindruck.
Generell herrscht in Südtirol eher die süddeutsch-österreichische Zensurmanier vor, also kein penetrantes Moralaposteltum, sondern Harmonisieren und Beschönigen.
Wie sollte man die AfD einordnen: nationalistisch, konservativ, liberalkonservativ oder einfach nur rechts?
Wenn rechts heißt, auf die Nation zu achten, sie und ihre Kultur zu verteidigen, dann ist die AfD rechts. In einigen Bereichen erheben wir aber durchaus auch Forderungen, die historisch von der Linken vorgetragen wurden. Das scheint vielleicht widersprüchlich, aber diese traditionellen politischen Kategorien sind in Auflösung begriffen. Im Übrigen: Die Alternative für Deutschland befindet sich noch im Bau, vieles ist noch im Fluss.
Und wie wurden Sie zu ihrem Bauarbeiter?
Es kam für mich nie in Frage, mich einer der bestehenden Parteien anzuschließen. Nietzsche sagt zu Recht: „Wer viel denkt, eignet sich nicht zum Parteimann. Er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch.“ Mit der AfD entstand aber die Gelegenheit, eine Partei gedanklich und gestalterisch mit aufzubauen. Dem Gründungsimpuls der Bewegung, nämlich dass verantwortungsvolle Bürger und Intellektuelle angesichts zahlloser Missstände die Politik nicht mehr den Politikern überlassen wollten, fühlte ich mich schnell verbunden. Damals ging es vordergründig um Opposition zur verfehlten Eurorettung der Bundesregierung, aber eigentlich ging es schon damals um viel mehr.
Und zwar?
Der grassierenden Postdemokratie entgegenzuwirken, die Missachtung fundamentaler demokratischer Spielregeln durch eine selbstverliebte Elite zu beenden, den Ausverkauf des Staates und die Abschaffung des Volkes zu bekämpfen. Dafür muss man zuerst die politische Korrektheit, die mir lange schon gegen den Strich ging, auf ein vernünftiges Maß zurückdrängen.
Schenkt man den Medien doch noch Glauben, ist meine Generation – also die, die jetzt in Oberschulen und Unis sitzt – politischer als die der 90er- und 00er-Jahre. Stimmt das?
Ja, der Zeitgeist ist insgesamt wieder politischer geworden. Nach der hochpolitischen Zeit um das Jahr 1968 flaute das Interesse an Politik unter den Jungen ab, man wollte lieber Spaß haben und das große Geld an der Börse „erzocken“, das waren die 1990er-Jahre. Politische Debatten, Demos, Diskussionen – das roch nach vorgestern. Aber das änderte sich mit den vielen kleineren und größeren Crashs, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. In dieser Situation permanenter Krise ist eine sensibilisierte Generation herangewachsen, die sich weder vom Zynismus noch von der Resignation ihrer Vorgänger beeinflussen lässt und sich wieder traut, eigene Ziele und Utopien zu formulieren.
Und wie soll die AfD diese Stimmung in der Jugend auffangen?
Sie verkörpert diese Stimmung doch gerade! Die AfD verleiht dem neuen Denken einen Ausdruck, indem sie zur Re-Politisierung der Politik beiträgt, ja diese maßgeblich veranlasst hat und vorantreibt. Politik lebt von Gegnerschaft – sogar Feindschaft, wenn man dem Staatsrechtler Carl Schmitt folgt –, und doch ist dieses agonistische Moment in den letzten Jahrzehnten systematisch zurückgedrängt worden. Wir versuchen das zu ändern, und viele erkennen das an. Diese Anerkennung strahlt auch auf die Jugendlichen aus, die ja nicht außerhalb gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen stehen.
In dieser Situation permanenter Krise ist eine sensibilisierte Generation herangewachsen, die sich weder vom Zynismus noch von der Resignation ihrer Vorgänger beeinflussen lässt und sich wieder traut, eigene Ziele und Utopien zu formulieren.
Nun strömt die Jugend aber nicht gerade zur AfD …
In der Tat sind die meisten Jugendlichen wohl nicht allzu AfD-affin. Aber im Allgemeinen befasst man sich mit der AfD, man konfrontiert sich mit ihren Inhalten. Vielleicht auch ablehnend, anfangs. Nichtdestotrotz wird dadurch das politische Bewusstsein geweckt. Dabei wird die Unterstützerschaft hoffentlich wachsen, auch unter jungen Leuten. Es gründen sich durchaus immer mehr AfD-Hochschulgruppen, und die JA, die „Junge Alternative“, gewinnt laufend neue Mitglieder.
Die AfD sieht sich als Vorkämpferin für den Erhalt der deutschen Kultur. Aber welchen politischen Sinn hat es nun, nationale Identitätsmerkmale in den Vordergrund zu stellen?
Wir sehen die Identität Deutschlands bedroht. Wie übrigens auch die der anderen europäischen Staaten und Kulturen. Und das weniger von den zahlreichen Einwanderern, die vielfach einem völlig verschiedenen Kulturraum mit fremden Werten und Denkmustern entstammen, als vielmehr von Deutschen, die in einer falsch verstandenen Toleranz auf den eigenen Untergang als Kulturnation hinwirken. Die meinen, „auf allgemeingültige Prinzipien zur Ordnung des Gemeinwesens – auch jenseits der rein rechtlichen Ordnung – verzichten zu können”. Das halten wir für ein Spiel mit dem Feuer.
Ist es aber nicht auch ein Spiel mit dem Feuer, eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ für die deutsche Geschichte zu fordern, wie es die AfD tut? Und es sollen zunehmend die „positiven und identitätsstiftenden Aspekte der deutschen Geschichte“ hervorgehoben werden. Was soll das heißen?
Die „180 Grad“ waren das Bild eines bekannten Parteifreundes, das ich mir in dieser Form nicht zu eigen machen würde. Der AfD geht es vor allem darum, den Blick auf die deutsche Geschichte nicht auf die Nazizeit zu limitieren. Es gab Deutschland schon vor 1933, und wir versuchen, wieder ein Denken in längeren Zeiträumen, organischen Entwicklungen zu etablieren – und nicht eines, das nur auf Zäsuren, Brüche und Ausnahmesituationen fixiert ist.
Es ist doch grotesk, das eigene Nazi-Trauma dadurch therapieren zu wollen, dass wir unkontrolliert und gegen den Willen der Partnerländer Migranten nach Europa importieren.
Ist aber nicht gerade aus der permanenten Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus und dem Bemühen, das Wiederentstehen jeder Form des Faschismus zu verhindern, eine „nationale“ Sendung der Deutschen entstanden?
Diese Sendung steigt uns aber über den Kopf. Im Versuch, Faschismus zu verhindern, reproduzieren die Deutschen in Europa doch gerade ein arrogantes, belehrendes Verhalten, das manchen europäischen Partner an schlimme Zeiten erinnert. In der hypermoralistischen deutschen Flüchtlingspolitik tritt das besonders krass zutage. Es ist doch grotesk, das eigene Nazi-Trauma dadurch therapieren zu wollen, dass wir unkontrolliert und gegen den Willen der Partnerländer Migranten nach Europa importieren. Viktor Orbán nannte das zu Recht einen „moralischen Imperialismus“ der Merkel-Regierung.
Die Deutschen sind also in gewisser Weise eine gestörte Nation?
Es ist jedenfalls falsch, von der eigenen Identität loskommen zu wollen, wie das die Deutschen im Grunde seit 1945 versuchen. Ständig wollen sie in höheren Entitäten – vor allem in Europa – aufgehen. Es herrscht hierzulande der Irrglaube, die deutschen Interessen seien immer deckungsgleich mit den europäischen. Das nehmen uns unsere europäischen Nachbarn aber nicht ab, wir ernten da höchstens ein müdes Lächeln. Für den Franzosen ist ein Deutscher ein Deutscher, kein „Europäer“. Dieses verkrampfte Verhältnis zu uns selbst müssen wir hinter uns lassen, die Nazi-Zeit soll sicher nicht vergessen werden, aber die Nazi-Hysterie muss auch einmal ein Ende finden.
Wir haben jetzt hauptsächlich über Deutschland gesprochen. Hat ein patriotischer Mensch wie Sie nicht manchmal Heimweh nach Südtirol?
Ich fühle mich durchaus noch als Südtiroler. Die Südtiroler Herkunft begreife ich als einen nicht zu unterschätzenden Vorteil für mein politisches Leben hier, da mir typisch bundesdeutsche Hysterien und Psychopathologien erspart geblieben sind.
Im Parteiprogramm steht: „Die AfD bejaht eine Fürsorgepflicht Deutschlands für die im Ausland lebenden deutschen Minderheiten.“ Spricht da ein Südtiroler mit Schutzmachtsehnsucht?
Dieses Zitat stammt nicht von mir – aber der Schutzmachtgedanke ist mehr als legitim. Wer gegen ihn ankämpft und sich daran ergötzt, dass er zunehmend bagatellisiert wird, hat kein Geschichtsbewusstsein. Südtirol braucht Unterstützung aus dem deutschsprachigen Ausland, politisch vor allem von Österreich, aber ideell auch von der Bundesrepublik Deutschland als dem mit Abstand wichtigsten Land des deutschen Kulturraums. Ich persönlich habe bei meiner politischen Arbeit übrigens immer diesen gesamten Kulturraum im Blick, zumal bundesdeutsche Tendenzen auch auf die Nachbarländer abfärben.
Sie interessieren sich sehr für Identitätsfragen. Liegt das an Ihrer Südtiroler Herkunft?
Die mag dabei eine Rolle spielen. Die komplizierte Situation in Südtirol zwingt uns mehr als andere, über unsere kulturelle Identität nachzudenken. Schon allein deshalb, weil wir uns Auswärtigen oft erklären müssen. Wenn Südtiroler sich zu ihrer Identität heute kritisch oder relativierend verhalten, so ist das ein Symptom dafür, dass unser kollektives Überleben gesichert ist und wir eine gute ökonomische Gesamtperspektive haben. Es ist ein Luxusstandpunkt, den man sich in den 50er- und 60er-Jahren, als die Autonomie erst erstritten werden musste, nicht leisten konnte. Schon gar nicht im Faschismus. Bedrohte Volksminderheiten benötigen starke, klare Identitäten.
Es gibt derzeit keine Veranlassung, einen Freistaat anzustreben. Vielmehr gilt es, die Autonomie wachsam zu verteidigen und auszubauen.
In Bozen herrscht seit 1945 die selbe Partei, d. h. es gäbe eine mehr oder minder klar umreißbare „Elite“. Die Flüchtlingswelle hat mittlerweile auch uns erfasst und viele Leute berauschen sich an Überfremdungsängsten oder geben sich dem kollektiven Unsicherheitsgefühl hin – auch in Südtirol: Prima Bedingungen für eine „Alternative für Südtirol“?
Ich meine, die Funktion der AfD wird in Südtirol bereits von existierenden Parteien, die seit Längerem gegen den Hegemonialanspruch der Volkspartei ankämpfen, thematisch ausgefüllt. Ich denke da vor allem an die Freiheitlichen und die kleineren deutschen Oppositionsparteien. Natürlich kann aber die Art und Weise, mit der wir als AfD die Meinungen der Bürger aufgreifen, wertvolle Anregungen liefern – warum nicht auch für die SVP?
Wohin soll sich Südtirol entwickeln? Zum Freistaat, zur Wiedervereinigung mit Österreich – oder soll die Autonomie weiter ausgebaut werden?
Die beiden ersten Alternativen scheinen mir im Moment wenig realistisch. Ideal wäre freilich eine Zukunft ohne Italien. Und dabei wohl mehr als Freistaat, denn als Teil Österreichs. Denn mit dem heutigen, dem kleinen, republikanischen Österreich, haben wir keine gemeinsame Geschichte. Die gemeinsame Erfahrung reicht nur bis 1918, alles andere – und das sind für das moderne Österreich prägende Ereignisse – müssten wir uns künstlich aneignen, ein neues nationales Narrativ konstruieren. Viel wichtiger ist aber ohnehin der realpolitische Blick. Und der gibt zurzeit keine Veranlassung, einen Freistaat anzustreben. Vielmehr gilt es, die Autonomie wachsam zu verteidigen und auszubauen.
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