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Der weltweit beste Mountainbiker dreht sich um. Es ist bloß ein kurzer Blick Richtung Gegner, während er auf dem Sattel in die Kurve fährt. Jeder Moment zählt. Die anderen Biker eifern Nino Schurter nach. Zuschauer rufen, klatschen und lärmen mit Glocken, es ist das Heimrennen des Schweizers in Lenzerheide – und er wird es gewinnen. 24.000 Fans jubeln, erleben die Spannung zwischen ihm und seinen Verfolger, der nur 11 Sekunden nach Schurter das Ziel erreicht: Es ist der Südtiroler Gerhard Kerschbaumer.
Kerschbaumer ist nicht nur in diesem Rennen einer seiner erbittertsten Gegner. In dieser Saison war er beim Weltcup in Andorra 1,13 Minuten vor Schurter über der Ziellinie. Damit gewann er seinen ersten Weltcup der Elitekategorie, in der sich die Weltspitze der Mountainbiker misst. Bei der WM in Lenzerheide vor wenigen Tagen im September 2018 brettern Schurter und Kerschbaumer gemeinsam über die Naturstrecke, in der vor allem Wurzeln zum Verhängnis werden können. Kerschbaumer fährt zeitweise sogar schneller als Schurter, in der zweiten Runde ist er zu ihm aufgeschlossen. Für den Sieg reicht es am Ende nicht ganz, Gerhard Kerschbaumer wird Vize-Weltmeister.
Warum er Schurter am Ende des Rennens nicht aufgeholt hat? Diese Frage bringt Kerschbaumer, den 27-jährigen Biker aus Verdings, beim Telefongespräch zum Lachen. Sein Gegner ist nicht irgendwer, sondern Nino Schurter – der Olympiasieger von Rio 2016 und Gewinner von sieben WM-Medaillen. Der 32-jährige Schweizer gilt als Ausnahmetalent.
Sowohl Schurter als auch Kerschbaumer sind vom Rennen in Lenzerheide sehr beeindruckt. Schurter spricht gegenüber dem Schweizer Newsportal Blick vom „besten Gefühl“, das er je hatte: „Es ist unglaublich, hier zu gewinnen. Es hatte so viele Fans, es war so laut.“ Für Kerschbaumer war die WM am vergangenen Wochenende „ein Rennen wie nie zuvor“. Gemeinsam mit Schurter ins Ziel zu fahren, war für ihn eine Ehre.
Mit seiner Leistung in dieser Saison ist der Südtiroler überaus zufrieden. Das harte Training hat sich gelohnt: „Ich hatte nicht erwartet, dass ich heuer so konstant und gut mitfahre. Logisch erhofft man sich, dass es auch bei der Weltmeisterschaft halbwegs klappt. Ein Podiumsplatz wäre schön, habe ich mir davor gedacht.“
Kerschbaumer kennt nicht nur Erfolgserlebnisse. Seit er zwölf Jahre alt ist, radelt er bei Rennen mit. Stürze, Asthma oder Probleme mit dem Fahrrad sind Teil seines Lebens als Profisportler. Als der aufstrebende Biker mit 23 Jahren zur Spitzenkategorie Elite wechselte, war es schwierig für ihn, Anschluss zu finden. „Das ist für den Kopf ein harter Kampf. Da muss man akzeptieren, dass andere gleich gut oder besser sind.“ Heute ist ihm längst bewusst, dass nicht immer er gewinnen kann. Die langjährige Erfahrung im Profisport hat seinen Charakter geschliffen, seinen Sinn für das Wesentliche geschärft.
Wie sein größter Gegner Schurter fand Kerschbaumer den Spaß am Sport als Kind in der Natur. Mit einem Freund fuhr er auf einem zu großen Rad durch die Gegend von Verdings, einer kleinen Siedlung am Berg oberhalb von Klausen. Sie holperten über Steige und machten Wanderwege unsicher. Der zweitälteste Sohn von vier Kindern hat sich schon früh ein außergewöhnliches Leben ausgesucht. Auch heute gefällt ihm an seinem Sport immer noch, dass er stets Neues lernen kann, um seine Fahrtechnik weiterzuentwickeln. Fast jeden Tag trainiert er für zwei oder vier Stunden – oft alleine in den Berghängen über dem Bauernhof seiner Eltern in Verdings. Um sechs Uhr steht er auf, frühstückt ohne Hast. Der Tag darf aufwachen, bevor Kerschbaumer gegen neun Uhr auf den Sattel steigt und über Schotter und Wiesen rollt.
„Egal ob es gut oder schlecht gegangen ist, daheim kann man wieder die Batterien auffüllen. Ich bin sowieso einer, der an Südtirol gebunden ist.”
Als sein eigener Trainer kennt sich Kerschbaumer gut und verlässt sich auf sein Bauchgefühl, wenn auch der sture Kopf ihn selbst bei schlechtem Wetter zum Radfahren zwingt. Dennoch gönnt er sich Tage ohne Training, „wenn es die Zeit nicht hergibt“. Er denkt mittlerweile, dass Sport nach einer anderen Uhr tickt als langfristige Strategien: „Ich setze mir meine Ziele auf das jeweils nächste Rennen.“
Nach den Rennen ist erst einmal die Luft raus. Kerschbaumer zieht es in solchen Momenten nur noch nach Hause. „Egal ob es gut oder schlecht gegangen ist, daheim kann man wieder die Batterien auffüllen. Ich bin sowieso einer, der an Südtirol gebunden ist. Es ist schön herumzukommen, aber das Schönste ist für mich die Gegend bei uns da.“ Gerry, wie ihn die italienische Presse oft nennt, genießt die Zeit bei seiner Familie in Südtirol. Seine Geschwister leben nicht mehr am Hof der Eltern, der Profisportler aber kehrt immer wieder nach Hause in die Berge zurück.
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