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Thomas Vonmetz
Veröffentlicht
am 13.03.2023
LeuteInterview mit Manuel Gatterer

Schwarzes Loch und Supernova

Veröffentlicht
am 13.03.2023
Manuel Gatterer leidet an einer bipolaren Störung. Dabei schwankt er zwischen extremer Euphorie und abgrundtiefer Verzweiflung. Wie er damit leben gelernt hat.
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Manuel Gatterer

Manuel Gatterers Kindheit war geprägt von den Depressionen seiner Mutter, die sich 1990 das Leben nahm. Mit 18 Jahren brach die erste Depression aus. Es folgten Jahre schweren Auf und Abs, dennoch schaffte er einen Studienabschluss in Anglistik und Amerikanistik in Wien. Heute ist Gatterer als selbstständiger Sprachlehrer, Texter und Lektor tätig, außerdem arbeitet er als EX-IN-Genesungsbegleiter und unterstützt als Betroffener psychisch Kranke bei ihrem Genesungsprozess.

Manuel, wie waren deine Kindheit und Jugend?
Die ersten sieben Jahre war ich sehr glücklich. Es gab schwierige Momente, da meine Mutter an Depressionen litt und mir nicht die nötige Aufmerksamkeit geben konnte. Als sie 1990 starb, erlosch diese Mutterliebe und hinterließ ein großes Vakuum. Meine Familie hatte nicht die Möglichkeit psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zu dieser Zeit fehlte das Bewusstsein dafür. Der psychologische Dienst in Brixen wurde beispielsweise erst 1990 ins Leben gerufen und war noch völlig unbekannt.

Wie ist deine Familie mit dem Tod deiner Mutter umgegangen?
Mein Vater versuchte mich zu schützen, indem er mir die Wahrheit vorenthielt. Erst mit 18 habe ich rausgefunden, dass meine Mutter sich umgebracht hatte. Das war der absolute Tiefpunkt meines Lebens, da ich meine ganze Familie als Lügner und Verräter empfand. Später habe ich recherchiert, dass psychologisch gesehen, einem kleinen Kind auch in solch extremen Situationen, die Wahrheit nicht vorenthalten werden darf. Vielmehr sollten die Fragen kindgerecht und wahrheitsgetreu beantwortet werden.

Wie genau?
Eine gute Erklärung wäre gewesen: „Deine Mama ist gegangen und sie wird nicht wieder kommen.“ Durch das Fehlen der wichtigen Information konnte ich nicht richtig trauern. Ich dachte elf Jahre lang, dass es sich um einen Unfall gehandelt hatte. Den wahren Trauerprozess begann ich erst viele Jahre später aufzuarbeiten. Dies führte zu meiner ersten Depression. Dass ich meine Familie als Verräter empfand, konnte ich zum Glück in einer Psychotherapie aufarbeiten.

Das hat mir damals den Boden unter den Füßen weggezogen. Auch Psychopharmaka konnten mir in diesem Moment nicht mehr weiterhelfen

Du glaubst also nicht, dass du aufgrund deiner „schlechten Gene“ erkrankt bist?
Nein. Wir alle haben Gendefekte und mich auf diese auszuruhen, hätte mich nicht weitergebracht. Mein Lebensverlauf war zentral für die Entstehung dieser Krankheit, auch wenn ich wohl eine gewisse genetische Disposition dafür haben könnte. Das zu wissen bringt mir aber nichts, weil ich nicht eingreifen kann. Bestenfalls kann ich damit einige Symptome bekämpfen aber nicht lernen, meine persönlichen Traumata besser zu verarbeiten. Neuere Forschungen bestätigen, dass ich das existentielle Trauma meiner Mutter zu verarbeiten habe. Meine erste Depression wurde als endogen klassifiziert, wo scheinbar nur Medikamente helfen würden. Das hat mir damals den Boden unter den Füßen weggezogen. Auch Psychopharmaka konnten mir in diesem Moment nicht mehr weiterhelfen.

Warum?
Da scheinbar die Gründe von innen kamen und ich nichts tun konnte außer Medikamente einzunehmen. Ich hatte eine große Hoffnung und viel Zuversicht, dass ein Medikament sofort Abhilfe schaffen würde. Das war aber nicht so. Ich wurde immer verzweifelter…

Wann bist du das erste Mal in die Psychiatrie gekommen?
Das war einige Monate später in einer schlaflosen Nacht, die ich wie in einem Alptraum starr und im Dunkeln vor einem Spiegel verbracht habe. Vermutlich handelte es sich dabei um eine Psychose. Mein Vater brachte mich daraufhin in die Psychiatrie Bruneck.

Welche Diagnose hast du bekommen?
Depression. Die meisten meiner Besucher:innen waren schockiert. Sie sahen nicht den Manuel, den sie kannten. Ich war psychotisch und litt unter Verfolgungswahn. Das reichte von der Mafia bis über Agenten und sogar andere Patient:innen der Psychiatrie waren Teil einer Verschwörung gegen mich. Es war nicht klar, ob ich mich davon vollständig erholen würde. Neben diversen therapeutischen Interventionen und durch den Einsatz von Antipsychotika und einer kurzen aber sehr effizienten Ergotherapie, verbesserte sich nach rund einem Monat meine Situation deutlich.

Wann warst du „geheilt“?
Heilung ist ein großes Wort. Ich bin immer noch nicht vollständig geheilt. Nach meiner Entlassung aus der Psychiatrie benötigte ich drei, vier Monate um mich wieder zu fangen, bis ich dann in die Gegenschwingung geriet, worauf ich auch die Diagnose Bipolare Störung erhielt.

Manuel Gatterer: „Es ist ein Prozess, der nie aufhört. Als Betroffener ist es wichtig, sich möglichst bald klar zu werden, dass man für sich selbst Verantwortung übernehmen muss.“

Wie war das für dich?
So als ob man mir für mein Leben lang eine Kugel ans Bein gekettet hätte. Jetzt weiß ich, dass das der Effekt der Stigmatisierung von Menschen mit psychischer Erkrankung ist. Aber das ist nur eine Seite der Medaille, weil eine gut gestellte Diagnose auch zu Klarheit und Handlungsspielraum führt. Nach meiner ersten Depression kam wie gesagt die Wende in eine Hypomanie, wo ich mich fühlte als wäre ich – nach erfolgreich durchquerter Hölle – wie ein Phönix wieder geboren worden. Plötzlich hatte ich statt einer 8 eine 10 in Leibeserziehung und ein noch nie dagewesenes Selbstvertrauen; neben den positiven Erscheinungen gab es auch klare Symptome: Ideenflucht, Logorrhö, Ausgeben von viel Geld und einfach Unausstehlichkeit gegenüber Angehörigen und Freunden.

Wie lange hast du gebraucht, um diese Krankheit zu akzeptieren?
Ich würde lügen, wenn ich sagen würde ich akzeptiere sie. Es ist wirklich ein maßgeblicher Einschnitt in die Lebensqualität, der immer wieder auftreten kann. Ich muss regelmäßig einen Psychiater aufsuchen. Es gibt aber auch positive Seiten, denn ich habe es geschafft besser mit mir selbst umzugehen. Ich kann Hilfe besser annehmen und durch meine Arbeit als Genesungsbegleiter kann ich andere Betroffene und Angehörige unterstützen, wobei ich mir gleichzeitig vornehme einzuhalten, was ich anderen nahe lege. Dabei erfahre ich Selbstwirksamkeit.

Was sind die Dinge, die du nicht akzeptieren kannst?
Die Dynamiken in meinem sozialen Umfeld. In meinen Krankheitsphasen habe ich meinem Umfeld einen Riesenschrecken eingejagt. Seitdem sind viele Personen sehr vorsichtig geworden und fragen manchmal sorgenvoll nach, ob ich manisch oder depressiv bin, auch wenn ich weit davon entfernt bin. Das ist mühsam. Manchmal ist dieses Nachfragen auch nützlich für die Selbstreflexion. Mein Ziel ist, meinen Angehörigen die Zuversicht zurückzugeben, die sie vor meinen schlimmsten Krankheitsphasen hatten. Doch weit schlimmer ist das gesellschaftliche Stigma, das mit dieser Krankheit verbunden ist. Am Arbeitsmarkt werde ich strukturell diskriminiert. Man sei nicht verlässlich, immer krank und nicht leistungsfähig. Ich betone, dass das meiste davon auf Vorurteilen beruht.

Die Krankheit hatte negative Auswirkungen auf mein Liebesleben und ich hatte immer das Gefühl, dass etwas fehlt, sei es bei mir als auch bei meinen Partnerinnen.

Wie hat die Krankheitseinsicht dein Leben verändert?
Am Anfang habe ich die Medikamente nur genommen, weil mir diese als der einzige Ausweg erschienen. Später wurde mir bewusst, dass ich an mir selbst arbeiten muss, denn sonst kommen die extremen Stimmungsschwankungen mit Depression und Manie immer wieder. Die Krankheit hatte negative Auswirkungen auf mein Liebesleben und ich hatte immer das Gefühl, dass etwas fehlt, sei es bei mir als auch bei meinen Partnerinnen. Auch bei der Arbeit hatte ich immer wieder Probleme. Seitdem ich eine gewisse Krankheitseinsicht zeige, dass ich mit geeigneter professioneller Unterstützung und viel Arbeit an mir selbst große Fortschritte machen kann, haben sich all diese Dinge gebessert.

Was kann man sich unter einer Depression vorstellen?
Depression ist eine sehr schwere, aber gleichsam behandelbare Erkrankung. Sie ist sehr individuell und auch die Umstände sind immer verschieden. Bildlich könnte man sich die Depression wie ein schwarzes Loch vorstellen. Sogar das Licht findet keinen Weg hindurch. Man sieht keine Farben mehr, obwohl man optisch gar nicht farbenblind ist. Du fühlst dich unendlich leer und schwer, keine Tätigkeit bereitet dir Freude, kannst keinen Gedanken zu Ende denken, wirst von negativen Gedankenkreiseln bei einfachen alltäglichen Handlungen beeinträchtigt. Du willst immer nur schlafen, um dich dem leidvollen Wachsein zu entziehen. In einer Leistungsgesellschaft wie in Südtirol stigmatisieren das ahnungslose Außenstehende als „Faulheit“, dabei könnte Depression – so wie es bei meiner Mutter war – ein langwieriger, extrem anstrengender Kampf gegen den Tod sein.

Und Manie?
Sie ist der Gegenpol zur Depression und ich würde sie bildlich als Supernova bezeichnen (lacht). Du fühlst dich unglaublich leistungsfähig. Sie ist gekennzeichnet von explosiver Energie und massiver Gedankenraserei. Sie zerreißt dich innerlich. Du bist getrieben von deinen Gedanken und Gefühlen, ohne in der Lage zu sein, dich zu konzentrieren. Du scheinst hundert Ideen auf einmal zu haben, fühlst dich kreativ wie ein:e Künstler:in. Gleichsam spürst du deine Mitmenschen nicht mehr und kannst dich deshalb nicht mehr deutlich mitteilen. Fremden gegenüber erscheinst du vielleicht noch charismatisch und spendabel, aber wissenden Angehörigen gegenüber bist du der Horror. Außerdem habe ich in meiner Arbeit als Genesungsbegleiter viele Betroffene gesehen, die so schnell gesprochen haben, dass man überhaupt nichts mehr verstehen konnte. Da sind so krasse, starke Impulse am Werk, die die Betroffenen nicht mehr im Griff haben, bis sie – wenn ihnen nicht schnell geholfen wird – völlig am Ende sind.

Als Betroffener bin ich in so einer Mischphase auch paranoid geworden, ich hatte Verschwörungsgedanken.

Wie in einem Drogenrausch?
Ja, es ist vielleicht wirklich wie unter Speed oder Kokain und macht unglaublich euphorisch. Es entsteht das Gefühl, genial zu sein und dass einem die Welt gehört. Dies führt oft zu Größenwahn. Betroffene denken sogar sie wären die Reinkarnation von Einstein oder Jesus. Eine Manie macht auch abhängig, das Gehirn speichert dieses euphorische Gefühl und der Betroffene wünscht sich diesen Zustand immer wieder herbei. Dies macht die bipolare Störung so gefährlich, weil nach einem Hoch immer ein Tief kommt.

Gibt es auch Mischzustände, wo beide Extreme vertreten sind?
Ja, und das ist die gefährlichste Phase bei dieser Krankheit. Da ist man zwar nicht mehr euphorisch, jedoch immer noch angetrieben. Teilweise erkennt man, in welche Überforderung man sich gestürzt und sich an den Rand einer Klippe gebracht hat. Als Betroffener bin ich in so einer Mischphase auch paranoid geworden, ich hatte Verschwörungsgedanken. Das Suizidrisiko ist da am höchsten. In der Regel will man sich auch da noch nicht helfen lassen, sodass der psychiatrische Dienst auch Zwangsmaßnahmen zum Schutz des Patienten anordnen muss. Zum Glück musste ich nie zwangseingewiesen werden, denn das rüttelt heftig am Vertrauensverhältnis zu den Ärzt:innen.

Wie lernt man mit so einer schweren Krankheit zu leben?
Es ist ein Prozess, der nie aufhört. Als Betroffener ist es wichtig, sich möglichst bald klar zu werden, dass man für sich selbst Verantwortung übernehmen muss. Die bipolare Störung hindert einen oft daran und dann erscheint die Opferrolle als ein bequemer „Ausweg“. Erst nachdem man die Störung kennengelernt hat, kann ein Umgang mit der Krankheit gefunden werden.

Diese Krankheit beeinflusst dein ganzes Denken, Fühlen, Handeln…
Nein, das würde ich nicht sagen. Krank bin ich nur dann, wenn ich von einem Arzt krankgeschrieben bin. In guten Zeiten empfinde ich mich nicht als krank. Ich bin sicherlich geprägt von meiner Biografie und dies kann mein Denken, Fühlen, Handeln beeinflussen. Meine Bewältigungs- und Genesungsstrategien sind jedoch ein großer Segen. Deshalb würde ich nicht alles pathologisieren, sondern – wie es in der Salutogenese üblich ist – prinzipiell meine gesunden Anteile stärken, damit ich als ganzer Mensch besser heilen kann.

Wesentlich war und ist es für mich Menschen um mich herum zu haben, die mich als Mensch sehen und nicht als ein „Krankheitsbild“.

Wann bist du gesund?
Die WHO definiert Gesundheit als „einen Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen.“ Mein Ziel ist es Wohlbefinden herzustellen, obwohl ich wohl nie richtig gesund sein werde. Aber wer ist das schon? Ich möchte frei von Symptomen, arbeitsfähig sowie finanziell unabhängig sein. Ich will autonom leben und nicht auf die psychiatrischen Dienste angewiesen sein. Konkret bedeutet das, dass ich Medikamente wie Lithium nehmen muss, ein Leben lang. Das ist ein Stimmungsstabilisator und das Mittel erster Wahl bei bipolarer Störung. Da ich keine spürbaren Nebenwirkungen erfahre, bedeutet das für mich ein Stück Sicherheit, ohne dass ich darunter leiden muss. Weiters habe ich einen Notfallplan, falls ich in die eine oder andere Richtung schwinge: Welche Medikamente haben sich bewährt? Welche Tätigkeiten und auch welche Rituale?

Werden starke Stimmungsschwankungen dich dein ganzes Leben begleiten?
Ich glaube nicht daran. Wenn ich mir helfen lasse und „richtig“ damit umgehe, dann manifestieren sich diese Stimmungsschwankungen wahrscheinlich immer weniger im „Außen“. Sie bleiben im „Inneren“ und schwingen auch dort mit der Zeit ab. Ich habe gelernt mir selbst besser zu helfen und Profis können außerdem therapeutisch positiv einwirken. Von außen sieht man mir meine Krankheit nicht an und im Inneren kann ich lernen damit umzugehen.

Was hat dir geholfen, ein Leben mit hoher Lebensqualität zu führen?
Wesentlich war und ist es für mich Menschen um mich herum zu haben, die mich als Mensch sehen und nicht als ein „Krankheitsbild“. Die mich darauf hingewiesen haben, dass es so nicht geht. Die gesagt haben: „Schau Manuel, da musst du was machen.“ Durch diesen Austausch konnte ich unglaublich viel lernen. Dieses Hilfsnetz, das ich langsam aufbauen konnte, war in meinem Genesungsprozess zentral und maßgeblich für ein Leben mit hoher Lebensqualität. Die richtigen Medikamente in der richtigen Dosierung zur richtigen Zeit, eine Arbeit, die Selbstwirksamkeit fördert, (Weiter-)Bildung, Musik sowie Bewegung und Impulskontrolle durch Medittion haben mir sehr geholfen.

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