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Gleich in der ersten Folge der Gesprächsreihe spricht der SVP-Mann Hans Widmann Klartext: „Sammelpartei heißt nicht Stimmen sammeln.“ Er kennt die Partei, ihre Winkel und Windungen. Im Frühjahr 1970 wurde Widmann Ortsobmann in Rodeneck. Seitdem war er in der Volkspartei aktiv.
Ein angepasster SVPler war der 1948 in Brixen geborene Widmann aber nie. 1972, die Landesautonomie wurde mit dem Zweiten Statut real, verließ er die SVP und wechselte zur Sozialdemokratischen Partei SPS des SVP-Dissidenten Hans Dietl. „Meine soziale Sturm- und Drangperiode“, beschreibt Widmann die Zeit bei der SPS bis 1977. Damals gründeten einige sozial Engagierte und auch auf Wunsch des Obmanns Silvius Magnago die Arbeitnehmer in der SVP. Widmann kehrte zurück in die Sammelpartei.
1992 kandidierte Hans Widmann bei den Parlamentswahlen und vertrat die SVP bis 2008 in der Abgeordnetenkammer in Rom. Widmann zählte im SVP-Team im Parlament zu jenen, die die Nähe zur italienischen Linken suchten. Als Parlamentarier der Republik saß Widmann von 1995 bis 1996 auch in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. 2008 verzichtete Widmann auf eine erneute Parlamentskandidatur.
Beruflich war Hans Widmann beim Autonomen Südtiroler Gewerkschaftsbund ASGB. Am Tag des Inkrafttretens des Arbeiterstatuts (20. Mai 1970) trat Widmann in den ASGB ein. Sieben Jahre später wurde er zum Vorsitzenden gewählt. Ihm und seinen Mitstreitenden gelang es, trotz Anfeindungen aus den Reihen der gesamtstaatlichen Gewerkschaftsbünde, den ASGB zu etablieren. Nach seinem Ausscheiden aus der Politik blieb Hans Widmann weiterhin sozial aktiv. Als Vize und später als Präsident engagierte sich Hans Widmann für die Lebenshilfe.
Die Wochenzeitung FF zitierte Widmann mit der Aussage, dass die Sozialverbände lauter werden müssen, die zuständigen Sozialpolitiker tatkräftiger. Er sagt zur ff: „Leise zu sein hilft nicht.“
BARFUSS: Wie geht’s der SVP? Wie würdest du ihren „Gesundheitszustand“ beschreiben?
Hans Widmann: Als Volkspartei kann es der SVP nicht ganz gut gehen, weil sie dem Anspruch als Volkspartei nicht mehr gerecht wird. In den letzten Jahren hat man nur noch die Stimmen der Wirtschaft und des Bauernbundes gehört, alles andere ist untergegangen. Mit dieser Ausrichtung darf sie nicht erwarten, dass sie von der breiten Masse, von einer großen Mehrheit gewählt wird.
Der SVP fehlt das „Soziale“?
Sie hat ganz einfach vergessen, ihre historischen Verdienste wach zu halten, diese den nachfolgenden Generationen mit einer ausgeprägten Politik der sozialen Gerechtigkeit zu vermitteln.
Das heißt?
Die SVP hat den Wirtschaftslobbys gemäß der Ideologie des Neoliberalismus breiten Raum gelassen. Mit der Folge, dass die Kaufkraft der Arbeitnehmer:innen und der Rentner:innen seit über 30 Jahren abnimmt, die Löhne und Gehälter den Lebenshaltungskosten bei Weitem nicht mehr gerecht werden, dass die jungen Familien sich das Eigenheim und die Wohnungsmiete nicht mehr leisten können – und das in einer Region, die sich zu den reichsten in der EU zählt.
Diese Politik der Interessensvertretung rächt sich also?
Die Auswirkung dieser Politik, ist, dass jemand auf Kosten des anderen reich geworden ist. Es ist verständlich, dass die Zurückgebliebenen sich schwer tun, mit denen politisch solidarisch zu sein, die ihnen egoistisch „enteilt“ sind.
Also eine unwählbare SVP?
Sollen ganze Arbeitnehmer:innenkategorien, deren Arbeitgeber:innen sich mit ihren Verbänden seit Jahren beharrlich weigern, Landeszusatzverträge oder Kollektivverträge rechtzeitig abzuschließen, die gleiche Partei wählen? Der ethnische Kitt ist an diesen Situationen ausgetrocknet und rissig geworden. Wenn es der SVP wieder gut gehen soll, muss sie diese Entwicklung ernsthaft hinterfragen. Die äußerst dürftige Wahlanalyse im vergangenen Herbst ergibt gar nichts.
Wählen ist ein Recht der Mitbestimmung. Wer sich nicht mehr aufraffen kann zu wählen, ist selbst schuld daran, wenn die Politik fremdgeht.
Ist der SVP das Volk „abhanden“ gekommen?
Ja, sie muss es wieder suchen. Wenn die SVP wieder aufholen will, muss sie durch und durch sozialpartnerschaftlich werden. Wahrscheinlich bin ich altmodisch und naiv. Jede gesetzliche Maßnahme muss ausgewogen sein, niemand darf zu kurz kommen.
Der Anspruch, Sammelpartei sein zu wollen, reicht nicht?
Sammelpartei heißt nicht nur Stimmen sammeln, sondern heißt auch alle ohne Gedränge am Futtertrog teilhaben lassen. Die SVP muss eine Politik betreiben, damit sich alle in Südtirol wohlfühlen und in Südtirol eine langfristige Zukunft sehen.
Einige der letzten Wahlgänge wurden gut geschlagen, denken wir an das Europaparlament, verschiedene Gemeindewahlen, wie in zum Beispiel Leifers. Waren sie deshalb gut, weil die „Mitbewerber:innen“ so schwach sind?
Besonders gut gegangen sind letzthin keine Wahlen. Die Wahlbeteiligung ist erschreckend niedrig. Wählen ist ein Recht der Mitbestimmung. Wer sich nicht mehr aufraffen kann zu wählen, ist selbst schuld daran, wenn die Politik fremdgeht.
Erschreckend gering war die Beteiligung bei den Europawahlen …
Die Bedeutung der EU ist noch vielen nicht bewusst. Europa kann sich nur mit einer starken EU retten, ansonsten versinken wir in die Bedeutungslosigkeit. Damit die EU bekannter wird, muss sie in der Schule aufgewertet und in der täglichen politischen Diskussion präsent sein. Wenn man heute von der EU spricht, dann nur von der Landwirtschaft und von Wolf und Bär.
Es standen aber auch Gemeindewahlen an …
Gemeindewahlen sind oft Persönlichkeitswahlen, wie es besonders in Leifers und in St. Martin i. P. der Fall war.
Bleiben wir bei den Europawahlen. Für regionale Parteien sind die Hürden gewaltig, Bündnisse sind notwendig, deshalb auch die Paktelei der SVP mit Forza Italia. Tut das gut? Wäre ein eigener Südtiroler Europa-Wahlkreis nicht gerechtfertigt?
Ein eigener Europawahlkreis für Südtirol wäre auf Grund unserer Minderheitensituation sicher das Beste und Gerechteste, wird aber wohl ein Wunschtraum bleiben. Folglich bleibt uns nur ein Bündnis. Forza Italia ist sicher kein Wunschpartner, mit Tajani haben wir noch Glück gehabt.
Bei einigen Gemeindewahlen zeigte die SVP ihre kommunale Stärke. Beispielsweise in Leifers …
Leifers ist ein typisches Beispiel für eine erfolgreiche Persönlichkeitswahl. Giovanni Seppi war schon bisher ein erfolgreicher Verwalter und die Bürger:nnen und die lokale SVP haben dies honoriert.
In Leifers setzt sich sogar der SVP-BM-Kandidat gegen die italienische Rechte durch, auch mit Hilfe linker italienischer Stimmen.
Sein Konzept, alle in die Gemeinderegierung einzubinden und sie auf die echten Bedürfnisse und Probleme von Leifers einzuschwören, wäre ein guter Ansatz und auch ein Vorbild gewesen.
Ist es nachvollziehbar, warum Giovanni Seppi die Rechten in den Ausschuss holte?
Das Ergebnis ist allerdings enttäuschend. Er hätte sich als Wahlsieger durchsetzen müssen.
Ist diese Koalition in Leifers nicht ein Wahlbetrug?
Als Wahlbetrug würde ich es nicht bezeichnen, schließlich haben wohl links und rechts zu seinem Wahlerfolg beigetragen. Unverständlich und enttäuschend ist es allemal.
Alessandro Urzì, Präsident der Sechser-Kommission, sprach von einer Katastrophe in Leifers. Das sagt doch viel über die Gedankenwelt von Urzì aus, oder?
Urzì bleibt Urzì, wir kennen ihn seit 25 Jahren.
Die SVP ordnet sich derzeit geräuschlos den Fratelli unter, Stichwort autoritäre Verfassungsreform, um die Autonomie „sanieren“ zu können. Ist das nicht gefährlich?
Die Verfassung, die nach dem Faschismus von den antifaschistischen Kräften ausgearbeitet und beschlossen wurde, ist eine gute Verfassung und deshalb muss sie verteidigt werden, gegen jedweden Angriff und somit auch gegen die jetzt geplante Reform.
Die hat es doch in sich?
Alle Neuerungen laufen darauf hinaus, die Institutionen zu schwächen und die jetzige Mehrheit zu zementieren, eine Mehrheit mit eindeutiger Rechtslastigkeit, woran die Hintermänner von Meloni und Salvini keinen Zweifel lassen. Man braucht ja nur die bisherigen Gesetzesvorhaben und andere Maßnahmen zu betrachten: Justizreform, RAI-Knebelung, Familienpolitik oder Abtreibungserschwernis.
Du würdest als SVP-Parlamentarier nicht zustimmen, oder?
So einer Verfassungsreform kann man nicht zustimmen, auch nicht um den Preis der Autonomiereparatur. Wenn die Meloni-Verfassung einmal in Kraft ist, sind wir diesen politischen Kräften ausgeliefert und im Ernstfall hilft uns die beste Autonomie nichts.
Gibt es in Südtirol kein Geschichtsbewusstsein? Vergessen wir wirklich alles? Kollektive Demenz?
Der Landeshauptmann begründete seine rechtsrechte Koalition damit, dass nur dann die verloren gegangene Autonomie wieder zurückgeholt werden kann, dass es einen Ausbau geben wird. Die Fratelli stehen aber nicht für den Regional-, sondern für den Zentralstaat. Hat sich der Landeshauptmann verrannt?
Der Landeshauptmann hat die Reparatur der Autonomie zur allerhöchsten Priorität erhoben. Was im Grunde richtig ist. Sein Pech ist nur, dass er als Verhandlungspartner in Rom Parteien vorfindet, die zentralistisch ausgerichtet sind. Da kann auch das Gesetz zur differenzierten Autonomie nicht darüber hinwegtäuschen.
Die Koalition mit den rechtsrechten Fratelli ist also falsch?
Die Hereinnahme der italienischen Rechten in die Landesregierung sozusagen als Morgengabe für einen autonomiepolitischen Erfolg ist schon sehr gewagt. Noch gefährlicher ist es, dass inzwischen viele diesen Schritt und die Ministerpräsidentin Meloni vorbehaltlos als gut finden.
Rückhaltlose Südtiroler:innen?
Gibt es in Südtirol kein Geschichtsbewusstsein? Vergessen wir wirklich alles? Kollektive Demenz? Jedenfalls darf es nicht dazu kommen, dass SVP-Mandatar:innen für ein Entgegenkommen dieser Regierung für Gesetze stimmen, die demokratische Institutionen, Grundrechte, Menschenrechte, Meinungsfreiheit schwächen oder in Frage stellen.
Anfangs des Jahres ließ der Landeshauptmann wissen, dass im Juni das Reformkonzept für die Autonomie vorliegen wird. Es blieb bei der Ankündigung. Wird die italienische Regierung die Autonomie-Reform unter den Tisch fallen lassen?
Die Ankündigung bzw. die bisherige Verspätung des Reformkonzeptes für die Autonomie ist verständlich. Ein oder zwei oder drei Monate oder jahrelange Verspätungen in Angelegenheiten mit Rom sind die Regel, siehe Gefängnisneubau. Zudem gibt es in Südtirol öfters Verspätungen.
Noch ein Blick auf die Verfassungsreform, die Direktwahl des Ministerpräsidenten oder der Ministerpräsidentin, den Mehrheitsbonus und die Degradierung des Staatspräsidenten oder der Staatspräsidentin. Direktwahl und Mehrheitsbonus stärken die Zentrale, schwächen die Demokratie. Warum spielt die SVP da mit?
Ich habe schon 2004 beim Bezirksparteitag im Pustertal davor gewarnt, dass wir drauf und dran sind, so zu werden wie die alte Democrazia Cristiana (DC). Damals gab es nur lauen Beifall. Seit Längerem sind wir schon soweit. Der uneingeschränkte Egoismus verstellt das Bild und den selbstlosen Einsatz der Nachkriegs- bzw. der Autonomiegeneration total. Zudem haben wir es bis heute unterlassen, den nachfolgenden Generationen die Nachkriegsgeschichte Südtirols zu erzählen.
Fällt der SVP der Erfolg, also die erfolgreiche Autonomie auf die Füße?
Für die meisten ist der heutige Zustand, sind die Autonomie und die daraus resultierenden Errungenschaften eine Selbstverständlichkeit, die schon immer da waren und die bleiben werden. Wer sich nicht selbst für die Geschichte Südtirols und für die Lokalpolitik interessiert hat, der weiß nichts von den historischen Erfolgen und Verdiensten der SVP.
Zusammenhalten ist kein Rezept mehr?
Es hat immer nur geheißen „zusammenhalten“. Das ist heute zu wenig. Die Medien machen es möglich, dass alle zu vielen Informationen kommen, zu richtigen und zu falschen.
Warum hat sich die SVP nicht um die Vermittlung der eigenen Geschichte gekümmert?
Es wäre zum Beispiel interessant oder es wäre schon lange interessant gewesen, wenn die Junge Generation (JG) in der SVP es übernommen hätte, die Geschichte unseres Landes, die Geschichte der SVP und ihre Verdienste und Erfolge laufend über die neuen Medien an die Jugend zu vermitteln. Das bleibt unser historisches Versäumnis. Von den Senioren durfte man es wohl nicht erwarten.
Zurück zum Ausgang, zu den Wahlen. In Südtirol wird gelästert und gejammert, manche tun sich wegen der hohen Preise und ihrer zu schämenden niedrigen Löhnen tatsächlich schwer, mit dem Einkommen auszukommen. Was tun?
Eine bürgernahe Politik müssen wir Bürger:innen selbst in die Hand nehmen. Wir müssen uns täglich Zeit nehmen, die aktuelle Politik zu hinterfragen und zu analysieren. Wenn es gut läuft, soll man es anerkennen. Wenn es schlecht läuft, soll man intervenieren. Noch wirkungsvoller wäre es, wenn alle in Parteien mitmachen würden, angefangen in der Gemeinde.
Raunzen hilft nichts?
Die Faust im Sack machen oder sich am Stammtisch austoben oder nicht mehr wählen zu gehen, hilft nicht weiter. Es macht es nur schlechter.
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