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Ein 46-jähriger Familienvater ist seit über 20 Jahren selbstständig, er verdient gut. Jahrelang greift er regelmäßig zu Aufputschmitteln, vor allem zu Kokain. Dann stirbt sein Vater und hinterlässt dem Sohn einen Schuldenberg. Der Mann greift immer öfter zur Flasche, wird Alkoholiker. Heute hat er drei Therapiegemeinschaften hinter sich, ist von der High Society im Obdachlosenheim gelandet.
Das sei nur ein Beispiel von vielen, die zeigten, was eine Suchterkrankung mit dem Betroffenen und seinen Angehörigen mache, so Gabriele Ghirardello. Seit Juli 1991 ist er als Psychologe und Psychotherapeut im Dienst, seit August 1992 leitet Ghirardello die Dienststelle für Abhängigkeiten in Meran. Hier können sich Suchterkrankte und deren Familienangehörige Hilfe und Unterstützung holen. Das Team aus Ärzten, Sanitätsassistenten und Krankenpflegern, Psychologen, Erziehern, Sozialassistenten und Verwaltungspersonal kümmert sich zurzeit um Suchtkranke zwischen 13 und 80 Jahren. Meistens wenden sich die Personen freiwillig an den Dienst – unter striktem Schutz der Privatsphäre.
Beratungsstellen gibt es im Passeiertal, im Ultental und im Vinschgau, die beiden Dienstsitze liegen in Meran: In der Alpinistraße, wo Erstgespräche stattfinden und chronisch Kranke behandelt werden, und in der Goethestraße. Hier kümmert man sich um Familienangehörige, Gruppen und Personen, denen der Führerschein entzogen wurde. Und hier treffe ich Ghirardello auch zum Gespräch.
Was sind die häufigsten Suchterkrankungen in Südtirol?
Alkohol ist sicher immer noch die Nummer eins: Fünf Prozent der Südtiroler kann man als Alkoholiker bezeichnen, 15 Prozent haben ein problematisches Verhältnis zum Alkohol. Es wird getrunken, um zu feiern – und aus Frust. An zweiter Stelle kommen die illegalen Substanzen. Es werden immer mehr synthetische Drogen konsumiert, auch Cannabis ist sehr stark vertreten. 95 Prozent der Personen, die sich an uns wenden, haben mit Haschisch- und Marihuanakonsum angefangen und sind dann auf härtere Drogen umgestiegen. An dritter Stelle steht die Spielsucht, sie nimmt in letzter Zeit stark zu. Am meisten wird mit Slotmaschinen und Videolotterie gespielt.
Hat sich in den vergangenen Jahren etwas verändert?
Die Drogensucht nimmt von Jahr zu Jahr zu. Vor allem in den vergangenen drei Jahren suchten immer mehr junge Leute im Alter zwischen 18 und 25 Jahren unseren Dienst auf, die Heroin konsumierten. In der Anfangsphase rauchen sie die Substanz, erst in einem zweiten Moment greifen sie zur Spritze. Sie kommen zu uns, weil sie keine Kontrolle mehr über die Substanz haben. Dementsprechend steigt auch die Anzahl der Personen in unserem Methadonprogramm. Methadon ist ein Ersatzstoff für Heroin, der vom Arzt verschrieben wird, damit keine Entzugserscheinungen auftreten. Wir haben rund 90 bis 100 Personen pro Tag, die bei uns in einem geschützten Ambulatorium das Medikament einnehmen.
Wie verbreitet ist die Internetsucht?
Zu uns kommen einige wenige mit Internetsucht, Handysucht oder Kaufsucht.
Wenn keine zehn Minuten vergehen, in denen ich nicht zu meinem Smartphone greife, bin ich dann handysüchtig?
Es kommt darauf an, was das Handy für die Person bedeutet. Man muss sich folgende Fragen stellen: Ist es ein Teil meines Wesens? Fehlt mir etwas, wenn ich es nicht in Händen halte? Ist es mehr die Gewohnheit, ist es ein Rituale, das sich einbürgert und von dem ich fernbleiben kann, wenn ich will? Oder geht das nicht mehr? Wenn ich nicht mehr die Möglichkeit habe, fernzubleiben, dann heißt es: aufpassen. Wenn ich dauernd so machen muss (nimmt sein Smartphone und streicht über den Bildschirm), dann ist mein Verhalten bereits auffällig.
Ab wann gilt man dann als süchtig?
Entscheidend für die Sucht sind die Diagnosekriterien: Wenn das tägliche Verhalten und das eigene Tun vom Suchtmittel bestimmt werden und sich alle Gedanken darum drehen, oder wenn die körperlichen Symptome einer Abhängigkeit auftreten – wenn man nicht mehr ohne kann. Hat eine Substanz eine dieser Faktoren, kann man sagen, man bewegt sich in Richtung Sucht und sollte sich Hilfe holen.
Warum greift man zu Suchtmitteln?
Die Faktoren sind sehr verschieden. Die Personen, die wir betreuen, haben sehr oft eine ähnliche Geschichte, jeder Fall ist aber individuell. Die Sucht ist ein multifaktorielles Problem. Warum wird einer aus der Familie alkohol- oder drogenabhängig und der andere nicht, obwohl sie gleich aufwachsen? Der Grund ist, dass jeder Situationen anders wahrnimmt. Die Bedeutung und Funktion des Alkohols in der Familie und die Offenheit, mit der man damit umgeht, ist oft mit ein Grund dafür, ob es zum Problem wird oder nicht. Bei vielen ist vielleicht eine Trennung der Grund für eien Sucht, eine Depression, Gemütsschwankungen oder traurige Erlebnisse. Es gibt Gelegenheitstrinker, die am Wochenende trinken und es irgendwann nicht mehr unter Kontrolle haben und auch unter der Woche beginnen, zu trinken.
Kann man Sucht vererben?
Bei vielen Alkoholikern war der Alkohol in der Familie schon früh ein Thema. Mit zwölf, dreizehn Jahren gibt es die ersten Versuche und irgendwann ufert es aus. Es gibt Studien, dass Kinder und Jugendliche, die in einer Familie mit Alkohol oder Drogen aufwachsen, in den Entwicklungsjahren einen leichteren Zugang zu diesen Substanzen haben. Eine andere Studie besagt aber auch: Wenn man innerhalb der ersten drei Lebensjahre eine Krankheit entwickelt, bei der man starke Medikamente einnehmen muss, ist die Gefahr höher, dass das Kind in den Entwicklungsjahren zu solchen Substanzen greift. Bei einer Sucht spielen der familiäre Rahmen, die Krankheiten und die Rahmenbedingungen eine Rolle.
Ist der soziale Umgang auch entscheidend, ob jemand suchtgefährdet ist oder nicht?
Die soziale Komponente spielt eine wichtige Rolle, vor allem in den Entwicklungsjahren, von zwölf bis 18 Jahren. Man trennt sich immer mehr vom Elternhaus, will groß sein und auch groß tun. Wenn es in diesem Alter in der Gruppe oder im Freundeskreis Verhaltensweisen gibt, die zum Substanzen konsumieren anregen, kann das ein Grund für eine Sucht sein. Eine wichtige Rolle spielen aber auch die „Werte“, die die Familie dem Jugendlichen mitgibt.
Welche Auswirkungen hat eine Sucht auf meinen Alltag und mein Umfeld?
Solange man ab und zu ein Glas trinkt oder in der Gruppe einmal einen Joint raucht, ist das alles cool. Sobald es aber in Richtung Sucht geht, weisen dich die Personen ab, die dich noch vor ein paar Tagen angefeuert haben, noch ein Glas zu trinken. Wenn das Problem sichtbar wird und man es nicht mehr einschränken kann, weil man jeden Abend betrunken ist und Probleme so lösen will, meiden dich diese Personen. Man sucht den Ausweg dann im Alkohol oder konzentriert sich auf ein Spiel, um abzuschalten.
Was können Angehörige von Süchtigen tun: Soll man den Süchtigen direkt auf die Situation ansprechen?
Die Leute schämen sich, aber es ist besser, mit offenen Karten zu spielen. Bei einem Spielsüchtigen können Maßnahmen getroffen werden, wie zum Beispiel das Sperren der Bankomatkarte. Das ist für die Betroffenen sehr schwer, vor allem ohne Unterstützung. Deswegen bekommen sie bei uns Informationen und Hilfe.
Und was ist, wenn die betroffene Person das Problem nicht einsehen will?
Die Beratung geht in diesem Fall dahin, dass man versucht, bei den Angehörigen Ressourcen zu finden, wie sie selbst etwas tun können und wie sie dem Betroffenen nahelegen können, die Beratung aufzusuchen.
Gibt es Abhängigkeiten, die man als Laie nie vermuten würde?
Dazu zählen zum Beispiel Nahrungsmittel, unter anderem Schokolade.
Zeigen diese Personen dann ein Suchtverhalten wie beim Alkohol?
Ja. Ich hatte mal den Fall einer Frau, die es geschafft hat, ihre starke Alkoholabhängigkeit in den Griff zu bekommen. Dann ist sie aber in die Nahrungsmittelsucht übergegangen. Diese Patientin hat eine Essstörung entwickelt. Viele schaffen es, von einer Substanz wegzukommen und konsumieren dann eine andere.
Wie viele Menschen schaffen den Weg hinaus aus der Sucht?
Europaweit sind es 30 Prozent. Sie schaffen es selbst, durch Therapiegemeinschaften oder eine ambulante Betreuung.
Kann man überhaupt geheilt werden?
Wenn man von illegalen Substanzen abhängig ist, spricht man davon, dass man nach fünf Jahren „überm Berg“ ist, bei einer Alkoholsucht nach zwei Jahren. Über den Berg bedeutet, dass man einen großen Schritt in Richtung Genesung gemacht hat. Es ist aber nicht gesagt, dass man nicht mehr gefährdet ist. Eine Patientin war zum Beispiel so starke Alkoholikerin, dass ihre Leber fast zerstört war. Sie regenerierte sich nach dem Entzug und ist um eine Transplantation herumgekommen. Nach über zehn Jahren totaler Abstinenz ist sie aber rückfällig geworden.
Das schlimmste ist, wenn man einen Rückfall hat, dann haut es den Patienten psychologisch zurück zu dem Moment, als er das letzte Mal getrunken hat. Das ist eine ganz starke Niederlage, die der Mensch psychologisch erlebt. Wir müssen ihn dann motivieren, dass er auch die positiven Entwicklungen der vergangenen Jahre sieht und wir müssen ihn psychologisch und medizinisch behandeln.
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