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Daniela Unterholzner dürfte gar nicht hier sein. Nicht, wenn die Armutsspirale sie erfasst hätte, von der sie gerade spricht. Dann wäre sie nicht Geschäftsführerin von neunerhaus, sondern eine der Klientinnen der Organisation. Sie gehen hier in der Wiener Margaretenstraße ein und aus, weil sie keine Wohnung haben, nicht versichert sind oder niemand sie in Krisen auffängt. neunerhaus versorgt sie medizinisch und hilft bei der Suche nach leistbarem Wohnraum.
Unterholzner kennt viele Einzelschicksale – und kann ihre eigene Geschichte erzählen. Als Kind war sie selbst arm, wohnte mit ihren Eltern und zwei Geschwistern auf etwa 20 Quadratmetern in einer Südtiroler Gemeinde. Als sie einmal eine tiefe Wunde am Kopf hatte, haderte ihre Mutter damit, den Notarzt zu rufen oder es sein zu lassen. Die Familie hatte Angst vor den Kosten, die ein Krankentransport mit sich bringen könnte. „Es war eine harte Zeit für meine Eltern“, sagt die 35-Jährige heute.
In den ersten Lebensjahren fühlte sich die Armut für sie normal an, sie kannte es nicht anders. Im Kindergarten und später in der Schule aber merkte sie, dass sie anders war. Mitschüler trugen Markenhosen, Unterholzner kaufte sich die Fälschungen auf dem Wochenmarkt. Für eine Schulreise legten die Eltern ihrer Freundinnen zusammen. Doch das Mädchen blieb lieber daheim: „Armut hat immer auch mit Scham zu tun.“
Auch der Weg ins neunerhaus ist mit Scham verbunden. Dabei ließe sich im Warteraum der Arztpraxen auf den ersten Blick kaum sagen, wer Klient und wer Sozialarbeiter ist. Denn gerade weil sie sich für ihre Situation schämen, achten die meisten wohnungslosen Menschen sehr darauf, ihren sozialen Status zu verbergen. Die Altersstufen sind gemischt, auch Kinder und Familien befinden sich unter den Klienten. Und im angrenzenden neunerhaus Café sitzen mittags die Arbeiter aus den umliegenden Büros neben Klienten von neunerhaus. Sie alle bekommen ein Mittagsmenü und zahlen dafür so viel sie eben wollen – und können.
Im Café verbringt auch Unterholzner oft ihre Mittagspause. Immer wieder stellt sie sich die Frage, warum sie heute dort ist, wo sie ist und andere nicht. Sie sagt: „Ich hatte immer Leute in meinem Leben, die an mich geglaubt haben.“ Bei Unterholzner war das eine Volksschullehrerin, die das Mädchen förderte oder ein Mittelschullehrer, der die Extrameile für sie ging.
Schon in der Grundschule hatte Unterholzner Probleme mit der Rechtschreibung. Sie machte auffällig viele Fehler, verwechselte Buchstaben. Dabei war sie eine intelligente Schülerin. Ihr Mittelschullehrer nahm das nicht einfach so hin. Er vermutete, das Mädchen sei Legasthenikerin. Er absolvierte eine Ausbildung für die damals kaum bekannte Lese- und Rechtschreibschwäche, machte mit der ganzen Klasse spezielle Übungen und führte ein Zwei-Noten-System ein. So bekam Unterholzner auf ihre inhaltlich guten aber grammatikalisch fehlerhaften Aufsätze im Schnitt bessere Noten. Diese Erfolge bestärkten die Schülerin darin, dass sie alles schaffen konnte, wenn sie sich anstrengte. Eine Überzeugung, die sie weit bringen sollte.
An sie geglaubt hat auch ihre Mutter: „Ich habe eine starke Mama, die mir immer wieder gesagt hat, dass ich supertoll bin und alles machen kann. Irgendwann glaubst du das als Kind.“ Von ihr lernte Unterholzner, nie an sich zu zweifeln. Konnte sie etwas nicht, würde sie es lernen.
Vielen Kindern, die ins neunerhaus kommen, fehlt dieser Rückhalt. Wenn Eltern mit psychischen Problemen kämpfen, Gewalt erfahren oder von Alkohol oder Drogen abhängig sind, setzen sich diese Erfahrungen bei den Kindern fest. Sie finden schwer aus eigener Kraft aus der Armutsspirale. Unterholzner will ihnen dabei helfen und an sie glauben, so wie andere an sie geglaubt haben. Helfersyndrom habe sie keines, stellt sie klar. Ihr geht es um Menschenrechte – Gesundheit und Wohnen.
Anders als in klassischen Heimstrukturen leben die Bewohner der neunerhaus Wohnhäuser wie in jeder anderen Wohnung – mit Haustieren, Postschlüssel und der Freiheit, Besuch zu empfangen oder Alkohol zu konsumieren. Begleitet werden sie von Wohnbetreuern und Sozialarbeitern. Manche Klienten bleiben bis zum Lebensende, andere wohnen übergangsweise und stehen irgendwann auf eigenen Beinen. Wer in einer von neunerhaus betreuten Wohnung wohnte, lebt dort auch nach Ende der Unterstützung weiter, ohne dass der Nachbar je wusste, dass er einmal wohnungslos war.
Diese Anonymität kannte Unterholzner als Kind nicht. Dass ihre Familie arm war, wusste jeder im Dorf. „Ich wäre in Südtirol wohl immer die geblieben, die aus dieser Familie stammt“, sagt sie. Die junge Frau wollte weg. Obwohl sie die Lehrerbildungsanstalt gemacht und die Lehrbefähigung hatte, entschied sie sich für ein Studium.
In Innsbruck studierte Unterholzner Kunstgeschichte und Europäische Geschichte, später Kulturmanagement. Das Interesse dafür hatte ein ambitionierter Latein- und Geschichtelehrer in ihr geweckt. Einen Teil der Kosten deckte die Studienförderung, den Rest finanzierte sie sich selbst. Die Studentin passte auf Kinder auf, stand hinter der Wursttheke, arbeitete in den Ferien auf Campingplätzen und studienbegleitend in der Kunstvermittlung und im Archivwesen. Wählerisch durfte sie bei der Auswahl ihrer Jobs nicht sein, aber bezahlt mussten sie sein. Nur einmal leistete sie sich den Luxus eines schlecht bezahlten Praktikums – ein Job bei der Kunstbiennale Manifesta, die 2008 in Südtirol und im Trentino stattfand. Dafür musste sie lange sparen.
Sparen und um Stipendien ansuchen musste Unterholzner auch für ihr Auslandsjahr. Weil sie eine neue Kultur kennenlernen wollte und auch wegen der niedrigen Kosten, fiel ihre Wahl auf Bangkok. Dort schrieb sie ihre Diplomarbeit, verdiente sich mit Gelegenheitsjobs etwas dazu. Besuch von ihrer Familie bekam sie in der Zeit nicht und auch Unterholzner flog in den zwölf Monaten nicht in die Heimat – dafür fehlte das Geld. Die Erfahrungen, die sie im Ausland sammelte, wogen das aber auf.
Neidisch auf ihre Mitstudenten, die sich nicht selbst finanzieren mussten, war Unterholzner nie. Zu schaffen machte ihr aber das Gefühl, nicht zu wissen, wie es weitergehen soll. Als sie mit ihrem Mann von Innsbruck nach Wien zog, brach ihr gesamtes berufliches Netzwerk weg. Unterholzner musste erneut ihren Weg finden. Ein Praktikum beim Institut für Kulturkonzepte erwies sich als Glücksfall: Unterholzner übernahm eine frei gewordene Stelle als Karenzvertretung und war anschließend sieben Jahre lang stellvertretende Direktorin.
Der 35-Jährigen war es immer ein Anliegen, gesellschaftlich tätig zu sein. 2016 wechselte sie vom Kultur- in den Sozialbereich, zu neunerhaus. Ein Jahr später wurde sie eine von zwei Geschäftsführerinnen, ist heute zuständig für 130 angestellte und 80 ehrenamtliche Mitarbeiter.
Die Geschäftsführerin führt durch die hellen Räume des neunerhaus Gesundheitszentrums. Im Warteraum grüßt sie einen der Bewohner von neunerhaus und seine Sozialarbeiterin. Ein Vater geht mit seiner Tochter vorbei. Auch Unterholzner bekam 2014 eine Tochter – ein einschneidender Moment für die damals 31-Jährige: „Ich habe gemerkt, was ich ihr alles bieten kann. Sie wächst auf, wie ich es mir nie hätte träumen können.“ Und fügt hinzu: „Wäre ich in Wien aufgewachsen, wäre ich vielleicht im Gesundheitszentrum behandelt worden wie die 400 Kinder, die wir hier im letzten Jahr behandelt haben.“ Doch sie ist der Armutsspirale entkommen und hilft jetzt anderen dabei, auf die Beine zu kommen.
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