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Christina Tamani Mènuani Djatchuká Mirim zieht Rauch aus einer armlangen, zeremoniellen Holzpfeife, gestopft mit reinem „heiligen“ (im Sinne von ganz/ganzheitlich) Tabak aus Südamerika. Genauso wie es das Ritual vorsieht, verteilt sie den Rauch über die Teilnehmer. Dann gibt sie das Zeichen und die rund zwanzig leicht bekleideten Männer und Frauen schlüpfen durch die etwa hüfthohe Deckentür in das Innere der Schwitzhütte. Christina Tamani Mènuani Djatchuká Mirim, die mit bürgerlichem Namen Christina Lechner heißt, ist Schamanin. Seit mittlerweile sieben Jahren leitet sie Schwitzhütten und schamanische Rituale auf den eigens dafür geschaffenen Ort in Albeins, in der Nähe von Brixen.
„Schwitzhütten sind ein uraltes indigenes Reinigungs- und Geburtsritual für Körper, Geist und Seele und haben wenig mit reinem Wellness zu tun“, erklärt die 48jährige. „Sie bewirken einen tiefgreifenden Reinigungsprozess, der unter anderem durch die Wirkung der unterschiedlichen Kräuteraufgüsse auf den heißen Steinen bis tief in die Seele eindringt.“ Das wissen die Teilnehmer. Und genau deshalb haben sie sich auf das Ritual eingestimmt und, unter Anleitung von Christina, den Platz vorbereitet: Sie haben die mitgebrachten kopfgroßen Steine zum Erhitzen ins Feuer gelegt, das igluförmige Gestänge aus Weiden mit Wolldecken belegt und die persönlichen Kraftgegenstände, wie Amulette, Halsketten, Ringe, bemalte Steine oder Holzfiguren, auf dem Mondhügel – einem altarähnlichen Platz vor der Hütte – deponiert.
Das Wissen über die Verwendung der Kräuter, Kraftgegenstände und Segensformeln entstammt einer alten schamanischen Tradition, die noch heute bei unterschiedlichen indigenen Völkern auf der ganzen Welt praktiziert wird. Von Medizinmännern und -frauen einiger dieser Völker hat Christina gelernt und von Menschen, die von traditionellen Schamanen ausgebildet wurden. Heute erzählt sie ganz selbstverständlich, dass sie von der indigenen Gemeinschaft der Mbyá Guarani im Süden Brasiliens aufgenommen wurde und eine tiefe Verbundenheit mit der Huni Kuin Familie (übersetzt: Wahres Volk) im brasilianischen Amazonas-Regenwald spürt. Mit großer Natürlichkeit trägt sie auch ihren traditionellen Schmuck wie Federohrringe, kunstvoll gefertigte Armbänder aus bunten Perlen und baumwollgewebte, bunte Stirnbänder. Das war jedoch nicht immer so.
„Ich habe mich oft „anders“ gefühlt als andere, und habe unter diesem Anderssein auch gelitten.“
Zur Welt kommt Christina Lechner auf einem Bergbauernhof im Ahrtal, einem abgelegenen Seitental im Pustertal. Dort wächst sie bei der alleinerziehenden Mutter auf und streift oft durch Wälder und über Blumenwiesen. Geschwister kommen später, als ihre Mutter einen neuen Mann kennenlernt und heiratet. Kontakt zu ihrem leiblichen Vater, einem Halbitaliener mit väterlichen Wurzeln in den Abruzzen, hat Christina erst im Alter von 22 Jahren. Endlich findet sie eine Erklärung dafür, warum sie als 14-Jährige italienische Gedichte verfasst hat und eine unendliche Sehnsucht nach dem Meer verspürte. Über ihre Kindheit sagt sie heute: „Ich habe mich oft „anders“ gefühlt als andere, und habe unter diesem Anderssein auch gelitten.“ Und: „Da war – zwischendurch – auch Scham dabei.“
Im Alter von 24 Jahren heiratet sie, weil es ihr größter Traum ist, eine Familie zu gründen. Wie gewünscht kommen ihre Kinder nach der Hochzeit und noch vor ihrem dreißigsten Lebensjahr: „Ich habe damals wohl schon gespürt, dass ich danach Zeit für andere Dinge brauche und dass das Leben noch was anderes mit mir vorhat“, schmunzelt sie. Damals wollte sie eine tolle Mutter und Hausfrau sein und zu Hause arbeiten. Daher auch die Ausbildung zur Schneiderin. 2004 endet die Beziehung zum Vater ihrer beiden Kinder. „Rückblickend war diese Beziehung eine Zeit, in der ich besonders viel gelernt habe“, sagt Christina heute darüber.
„Yeeea, yeeea, Groaßmuato, Groaßvouto donkschian…“
In der Schwitzhütte haben mittlerweile alle Teilnehmer eng aneinandergereiht ihren Platz gefunden. In einer Vertiefung, in der Mitte der Hütte, liegen die erhitzten Steine, die der Feuerhüter kurz davor in die Schwitzhütte gebracht hat. Die Steine glühen. Ihr roter Schimmer ist das einzige Licht im Inneren der Hütte. Der symbolische Vergleich der Schwitzhütte mit dem Inneren einer Gebärmutter oder dem Bauch der Mutter Erde wird spätestens jetzt nachvollziehbar. Die Dunkelheit und die Wärme, die von den Steinen ausgeht, relativiert das Gefühl für Zeit und Raum. Nach den ersten Kräuteraufgüssen erfüllt wärmender Dampf die Luft. Für manche wird das Atmen schwieriger, manche kommen gar an ihre körperliche, geistige, emotionale oder seelische Grenze. „Yeeea, yeeea, Groaßmuato, Groaßvouto donkschian…“, tönt Christina Tamani Mènuani Djatchuká Mirim und begleitet sich selbst mit ihrer selbst gebauten schamanischen Rahmentrommel. Sie singt meist intuitiv, nimmt das, was zu ihr kommt auf und gibt es an die Runde weiter. Einige der Teilnehmer haben ebenfalls zeremonielle Rhythmus-Instrumente mitgebracht und unterstützen Christina im gleichförmigen Gesang.
Der Austausch mit fremden Kulturen hat Christina schon immer interessiert, genauso wie die persönliche Weiterentwicklung. So lange sie sich erinnern kann, sucht sie und bildet sich weiter, auch um „ein Familienmuster in der weiblichen Linie zu heilen“, wie sie selbst erklärt. Ihre Mutter, Großmutter und Urgroßmutter sind jeweils mit 38 Jahren schwer erkrankt und nur zum Teil wieder gesundet. Christina hat sich daher das Motto „Lerne und lebe, statt leide und stirb“ zu Eigen gemacht. Erfolgreich, denn noch heute ist sie glücklich und gesund und möchte es noch lange bleiben.
In zahlreichen Lehrgängen und Ausbildungen lernte sie Gruppen zu leiten und zu moderieren, individuell Menschen mittels Lebensberatung zu begleiten, Energien zu erspüren und die Kräfte der Seele zu verstehen und zu stärken. Heute bietet sie unterschiedliche Aufstellungsarbeiten und liebt es, Rituale zu gestalten für alle Lebenslagen – von der Geburt bis zur Ahnenarbeit. Sie folgt „dem Ruf ihres Herzen“ und das hat immer mit Intuition zu tun.
„Wenn mir mit zwanzig jemand gesagt hätte, was alles an Berufen und Lernfeldern auf mich zukommt, hätte ich nur ungläubig gelacht.“
Beruflich ist Christina oft ins kalte Wasser gesprungen. „Ich habe es einfach gemacht“, meint Christina lakonisch, „und wenn mir mit zwanzig jemand gesagt hätte, was alles an Berufen und Lernfeldern auf mich zukommt, hätte ich nur ungläubig gelacht.“ Das Arbeitsfeld, auf das sie zurückblicken kann, ist bunt: in verschiedenen sozialen Bereichen arbeitete sie mit pubertierenden Jugendlichen, Menschen mit Beeinträchtigung, Menschen mit Ess-Störungen und leitete Projekte für Frauen und zu globalen Themen.
Insgesamt vier Mal bringt der Feuerhüter neue, glühende Steine. Das ist der einzige Moment in dem die Tür zur Schwitzhütte geöffnet, frische Luft hereinströmt und Wasser zur Erfrischung gereicht wird. Davor und danach klingen Gebete, Schamanentrommel, Rasseln und Gesänge. Immer wieder gibt es auch ganz stille Momente. Mit ruhiger, fester Stimme leitet Christina das Ritual, wechselt spielerisch vom hiesigen Dialekt ins Italienische und Hochdeutsche und zitiert auch indigene Grußworte.
Der Anstoß zum Schamanismus kommt für Christina unerwartet: Bei einer kreativen Schreibübung im Tagebuch stößt sie über den Begriff „Scham“ plötzlich auf Schamanismus. „Das war eine Offenbarung für mich“, erklärt sie, denn ab diesem Moment wusste sie, was sie künftig machen wird. In kurzer Zeit verschlingt sie sämtliche Bücher und Artikel, die sie darüber finden kann. Besucht Kongresse und trifft Menschen, die sie unterstützen: Medizinmänner und -frauen verschiedener Kontinente, langjährige LehrerIinnen, die tiefe Spuren der Weisheit hinterlassen, eine Frau mit Nahtoderfahrung, die sie tief beeindruckte, und viele mehr. Sie beginnt eine Lernzeit für Schamanismus in Österrreich und kommt durch Freunde schließlich zu ihrer ersten Schwitzhütte. Zusammen mit einer Gruppe von Gleichgesinnten baut sie an jenem Tag im Juli 2012 die erste Schwitzhütte in Albeins. Noch weiß sie nicht, dass ihr gleich beim ersten Ritual die Leitung übertragen wird. Wie so oft in ihrem Leben, ergreift Christina auch diesmal ihre Chance und übernimmt die Verantwortung, die das Leben ihr bietet.
Nach rund zwei bis drei Stunden Hitze, Dampf und Rauch klingt das Schwitzhüttenritual aus. Die letzten Gebete, Lieder und Dankesworte verklingen. Erst dann wird die Deckentür geöffnet und die Teilnehmer strömen ins Freie. Christina ist zufrieden, müde und glücklich zugleich. Geduldig geht sie auf noch anstehende Fragen ein. Dann zieht auch sie sich langsam zurück.
Das, was Christina heute macht, ist kein Beruf im herkömmlichen Sinne. Wenn sie heute in schamanische Felder blickt, gehbare Wege weitet und mit verschiedenen indigenen Kulturen auf sehr wertschätzende und verbundene Weise kooperiert, ist das mehr als das. Sie sagt, sie sei gesegnet, weil sie ihrer Berufung nachgehen kann und spricht gleichzeitig von einer großen Verantwortung, die sie fühlt: den Menschen gegenüber und der gesamten Schöpfung.
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