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Nicola Palmarini forscht zu den Bedingungen, unter denen Menschen künftig altern. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf der Rolle der Technologie, insbesondere der künstlichen Intelligenz. Dabei konnte Palmarini, der für das internationale IT-Unternehmen IBM arbeitet, erstaunliche Erkenntnisse gewinnen. Alte Menschen und Technologie sind gar nicht so unvereinbar, wie es auf den ersten Blick scheint. Sein erstes Forschungsprojekt führte Palmarini noch in Bozen durch. Später zog er nach Boston. Er ist überzeugt: Damit die fortschreitende Technologisierung gelingt, braucht es mehr Geisteswissenschaftler.
Sie untersuchen, welche Auswirkungen Technologien auf das Leben älterer und invalider Menschen haben. Was überwiegt – die positiven oder die negativen Effekte?
Das ist eine Frage, die man sich wohl täglich stellt: Wie soll diese ganze Masse an neuer Technologie imstande sein, Menschen wirklich zu helfen? Wird nicht zuweilen das Gegenteil erreicht? Ich bin überzeugt, dass die positiven Auswirkungen bei weitem überwiegen und wir auf dem Weg sind, negative Auswirkungen nach und nach gegen Null zu reduzieren. Und das sage ich nicht, weil ich bei IBM arbeite. Wenn eine Technologie unnütz ist, bin ich einer der ersten, die sich gegen die Digitalisierung des Alltags sträuben.
Wobei man womöglich zwischen alten und beeinträchtigten Menschen unterscheiden muss. Die Probleme, an denen sie leiden, sind jeweils unterschiedlich …
Richtig. Nicht alle Menschen mit Beeinträchtigungen befinden sich in höherem Alter und nicht alle alten Menschen leiden auch an einer Invalidität. Es hat sich aber herausgestellt, dass die verschiedenen Gruppen oft gar nicht so unterschiedliche Bedürfnisse haben. Man stelle sich zum Beispiel einen Gehörlosen vor, für den man ein Video mit Untertiteln versehen hat. Oder jemanden mit Sehstörungen, der heutzutage auf fast jedem Smartphone ein Vergrößerungsglas oder andere Tasthilfen findet. Das alles sind Technologien, die nicht nur Menschen mit einer Behinderung, sondern auch alten Menschen ständig zugute kommen. Die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Gruppen enden aber hier.
Inwiefern?
Wir haben es bald mit einer Technologie zu tun, die immer mehr auf die spezifischen Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnitten ist. Das Schlagwort lautet: Personalisierung oder Customizing. In der digitalen Welt haben sich in letzter Zeit Möglichkeiten aufgetan, die auf den ersten Blick nicht wie ein Segen erscheinen. Ich beziehe mich damit auf die Möglichkeit, über Menschen gezielt Daten zu sammeln. Diese Daten können auch zu wunderbaren Zwecken genutzt werden. Genau dazu forschen wir in Boston.
Die meisten Menschen fürchten sich vor der Speicherung ihrer Daten, denn zu oft geschieht das zugunsten großer Konzerne oder eines Überwachungsstaats. Wie lassen sich Daten positiv nutzen?
Wir haben zum Beispiel ein Programm entwickelt, das mithilfe künstlicher Intelligenz den geeigneten Blindenhund für eine Person mit Beeinträchtigungen findet. Es ist im ersten Augenblick schwierig, sich vorzustellen, wie so ein Matching von Blindenhund und Sehbeeinträchtigten funktioniert. Und doch ist es sehr wichtig, diese Zeit der Suche zu minimieren, um dem Sehbeeinträchtigten eine höhere Lebensqualität zu garantieren. Das geht, wenn ein Programm sowohl die Persönlichkeit des Hundes als auch die des Menschen kennt. Oder man kann bei älteren, pflegebedürftigen Menschen Überwachungssensoren installieren, die dem Pflegenden nützliche Informationen verschaffen kann.
Woran arbeiten Sie noch?
Eine andere Innovation sind selbstfahrende Kraftfahrzeuge. Gerade alte Menschen würden davon profitieren. IBM zum Beispiel arbeitet gerade am Projekt „Olli”. Das ist ein Shuttle mit zwölf Plätzen, der einen abholt und auf kurzen Distanzen irgendwohin bringt. Das Fahrzeug ist aber noch nicht für dichten Stadtverkehr bestimmt.
Wie bedient man so ein Fahrzeug? Mit Spracheingabe?
Richtig. Das vokale Interface ist eines der effizientesten Wege, um Barrieren zu beseitigen, die es bisher durch die digitale Tasteneingabe gab, etwa bei Touchscreens. So wird der Zugang vor allem älterer Menschen zur Technologie extrem erleichtert. Um diesen Zugang optimal zu gestalten, haben wir alte Menschen im täglichen Leben aktiv begleitet und beobachtet. Damit konnten wir ihre Situation bei der Entwicklung neuer Technologien mitberücksichtigen.
Solche Untersuchungen haben Sie vor einigen Jahren auch in Bozen durchgeführt. Worum ging es da genau?
Das war eines der ersten Forschungsprojekte, die wir zum Thema „Zuhause altern“ hatten. Studien haben gezeigt, dass Menschen zuhause glücklicher und zugleich weniger anfällig für Krankheiten und sonstige gesundheitliche Störungen sind. Konzipiert haben wir das Projekt im Jahr 2009, praktisch noch in der Steinzeit des digitalen Zeitalters. Wir haben alte Menschen in ihrem Alltag mithilfe von Technologien wie zum Beispiel Sensoren beobachtet. Die gesammelten Informationen lieferten wir dann den Mitarbeitern der Sozialdienste, um zu verstehen, inwieweit die Pfleger diese Informationen tatsächlich nutzen können. Das Pilotprojekt wurde aus wirtschaftlichen Gründen leider nicht mehr weitergeführt. Wobei mir nun zu Ohren kam, dass der aktuelle Bürgermeister Caramaschi ein solches Projekt wieder einführen möchte.
Konnten Sie vor Abbruch noch zu Ergebnissen gelangen?
Was den Gewinn neuer Erkenntnisse angeht, war das Projekt in Bozen so erfolgreich, dass es einen großen Einfluss auf meine späteren Arbeiten hier in den USA, unter anderem bei IBM, hatte. Was wir damals gelernt haben, ist folgendes: Die Menschen haben zuerst Schwierigkeiten, zu akzeptieren, dass eine gewisse Technologie fortan eine tragende Rolle in ihrem Alltag spielen soll. Nach einiger Zeit werden sie sich der Vorteile bewusst. Skepsis gab es zunächst auch bei den Pflegekräften, die sich durch Maschinen ersetzt fühlten. Doch wir wollten von Anfang an keine Technologie entwickeln, die den Menschen ersetzt, sondern die ihm beisteht und seine Aufgaben erleichtert. Gegen Ende des Projekts waren es in der Tat insbesondere die Pflegekräfte, die von unseren Lösungen begeistert waren. Was wir erreichen wollen, ist nicht „Maschinen gegen Menschen“, sondern: Maschinen mit Menschen.
Gewisse Beispiele, die Sie genannt haben – selbstfahrende Fahrzeuge, Sensoren, Programme mit künstlicher Intelligenz – scheinen ziemlich teuer zu sein. Haben Sie sich in der Forschung auch die Frage gestellt, wer sich das leisten kann?
Diese Frage haben wir mitberücksichtigt. Soll und kann der Staat gewisse Technologien für alle, die bedürftig sind, bereitstellen? Wenn man gewisse Technologien strukturell und gezielt implementiert, so übertreffen die Einsparungen, die dadurch erzielt werden können, die Ausgaben deutlich. Das ist das Ergebnis verschiedener Studien, unter anderem unserer Studie in Bozen. Gerade dann, wenn ein hoher Grad der Personalisierung der Technologie gegeben ist, ist aber auch ein Modell der privaten Kostenbeteiligung empfehlenswert. Ich denke dabei an ein Abonnentensystem. Es gibt aber noch weitere, sehr originelle Methoden, die Kosten zu minimieren.
Zum Beispiel?
Es gibt ein sehr interessantes Housing-Konzept in den Niederlanden. Wohnhäuser sind dort in zwei Hälften unterteilt. Auf einer Seite des Stockwerks leben Pflegebedürftige, auf der gegenüberliegenden Seite Studenten, die sich bei Bedarf um die pflegebedürftigen Nachbarn kümmern und dafür reduzierte Mieten zahlen.
Sie haben ursprünglich Politikwissenschaften studiert. Wie kamen Sie von dort zu einem IT-Unternehmen wie IBM?
Das war ein fließender Prozess. Die soziologischen Aspekte der Politikwissenschaft haben mich am meisten interessiert. Das hat mich irgendwann dazu gebracht, mich mit Kommunikation zu beschäftigen. Das erste Mal im IT-Sektor war ich bei der TIM und bald darauf bei Microsoft. Damals beschäftigte ich mich noch mit Werbekampagnen. Von dort kam ich zu IBM und damit in die Welt der Technologie. Meine humanistischen Wurzeln habe ich aber nie verloren.
Braucht es allgemein mehr Zusammenarbeit zwischen dem IT-Sektor und den Humanwissenschaften?
Ich glaube, dass es ohne Zusammenarbeit gar nicht geht. Der Data Scientist, der in Zeiten von Big Data überall gefragt ist, kann Daten gewinnen, verarbeiten und lesbar machen. Aber wer interpretiert sie? Das ist eine Kompetenz der Geisteswissenschaftler. Gerade bei der Anwendung von Technologie, etwa von Künstlicher Intelligenz, kommt die Ethik ins Spiel. Das bekannteste Beispiel ist das selbstfahrende Fahrzeug: Wenn das Fahrzeug nur die beiden Möglichkeiten hat, über einen Passanten zu fahren oder den Fahrer gegen eine Wand, was soll es dann tun? Und ändert sich die Entscheidung, falls das Auto mehrere Insassen hat? Hier geht es um zutiefst ethische Fragen. Es muss daher eine rege Beteiligung von Philosophen und Humanisten geben.
Am 11. November wird Nicola Palmarini in Bozen sein und die Ergebnisse aus seiner Forschungsarbeit als TEDx-Speaker präsentieren. Tickets und Infos zur Veranstaltung gibt es hier.
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