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Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 20.08.2024
Leute18 Monate durch den Nahen Osten

„Manchmal vermisse ich den Muezzin-Ruf“

Veröffentlicht
am 20.08.2024
Matthias Schwarz war eineinhalb Jahre lang mit dem Rad in der Türkei, im Iran, in Saudi Arabien, Jordanien und Israel unterwegs. Auf den Straßen ging es da auch mal chaotischer zu – was nicht nur am Verkehr liegt.
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Geschlafen hat er meistens entlang der Straße in seinem Zelt, hinter einem Haus versteckt, in Moscheen, in verlassenen Gebäuden. Dort hat sich Matthias Schwarz, der es gerne ruhig hat, mit Ohrstöpseln vor dem Krach vorbeirasender Lastzüge geschützt. Tagsüber ging das nicht mehr. Dann mussten alle Sinne bereitstehen, um lauernde Gefahren – ob rücksichtslose LKW-Fahrern oder Tränengasgranaten – rechtzeitig zu erkennen und ihnen auszuweichen. 

Am 10. März 2022 ist Schwarz in seiner Heimatstadt Bozen in Südtirol losgeradelt und ist eineinhalb Jahre lang durch Südosteuropa und den Nahen Osten gereist. Mindestens so abwechslungsreich wie die Landschaft war dabei die Lautkulisse: von der menschenleere Stille der Rub-al Khali, den islamischen Gebetsrufen in der Türkei bis hin zu den „Tod dem Diktator“-Slogans während der regimekritischen Proteste im Iran.

BARFUSS: Auf deinen alten Reisekarten ist noch die Mongolei als Ziel der Reise markiert. Wie kam es, dass du stattdessen in den Dünen der Rub al-Chali gelandet bist?
Matthias Schwarz: Das stimmt, ich wollte eigentlich über Zentralasien in die Mongolei. Während meiner Schulzeit habe ich ein Auslandsjahr in Russland verbracht, seitdem spreche ich Russisch und habe zu den GUS-Ländern eine besondere Affinität. Außerdem befinden sich auf dem Weg dorthin einige der höchsten Straßen der Welt, der Karakorum-Highway und der Pamir-Highway. Das hat mich angezogen. Die Grenzen sind aber in Aserbaidschan und China auch nach der Corona-Pandemie geschlossen geblieben. Außerdem war die Grenze zu Pakistan zu unsicher und teilweise ganz geschlossen – zum einen wegen der großen Überflutungen im Sommer 2022, zum anderen wegen der Proteste im Iran wenige Wochen später.

Das Ergebnis: Du bist im Iran nach Süden abgebogen. 
Diese Kurswechsel haben die ganze Reise geprägt. Aber das Wie war mir ohnehin wichtiger als das Wo. Schöne Ecken gibt es meiner Meinung nach fast überall. Das Rad ist für mich einfach das ideale Verkehrsmittel, um sie zu entdecken. Du bist langsam genug, um ein Land wirklich kennenzulernen, aber nicht so langsam, dass du dich nicht aus dem Staub machen kannst, wenn es dir irgendwo mal überhaupt nicht gefällt.

Andererseits ist man der Umgebung viel stärker ausgesetzt: dem Wetter, den Gerüchen, den Geräuschen.
Ja. Gerade in den Ländern des Nahen Ostens, aber auch schon in Osteuropa findet das Leben der Menschen viel stärker auf der Straße statt. Ich denke da zum Beispiel an die kleinen Läden, die ich in Armenien entlang der Straße angetroffen habe. Die Menschen sitzen dort auf der Straße, schauen dem Verkehr zu und unterhalten sich mit dem Nachbarn oder mit Passanten. Der italienische Reiseschriftsteller Paolo Rumiz sagt, dass an solchen Orten nicht der Platz, die mediterrane „agora“, sondern die Straße der Gemeinschaftsort par excellence ist. Mit dem Rad erlebt man diese Orte, anstatt nur daran vorbeizufahren.

Je weiter du in den Osten fährst, desto öfter wird gehupt. Man hupt nicht nur, um zu warnen oder zu schimpfen, sondern auch um zu grüßen.

Oder man konzentriert sich darauf, pro Tag seine 120 Kilometer zu schaffen.
Ich schätze am Radfahren eher die Langsamkeit. Wenn du von Antalya nach Kappadokien fährst, siehst du nicht nur Antalya und Kappadokien, sondern auch alle Dörfer dazwischen, die vom Tourismus ausgelassen werden. Du erlebst die örtliche Kultur, stellst Vergleiche an und fragst dich: Könnten wir das nicht auch so machen? Ein dummes, aber sehr praktisches Beispiel: Im Nahen Osten wäscht man sich den Hintern mit Wasser, anstatt mit Klopapier. Ich finde das viel hygienischer.

Jedes Land hat ja auch so etwas wie eine charakteristische Verkehrskultur. Wie hast du das als Radreisender erlebt?
Das erste, was man mit dem Rad bemerkt, ist, dass es schon auf dem Balkan keine Fahrradwege mehr gibt und man auf gewöhnlichen Autostraßen navigieren muss. Bis Slowenien habe ich noch Schilder gesehen, die die Autofahrer dazu aufrufen, auf Radfahrer Acht zu geben. Dann hört das auf. Entsprechend wird auch der Umgang der motorisierten Verkehrsteilnehmer mit Radfahrern ruppiger. Besonders schlimm habe ich Bosnien in Erinnerung. Die Lastwagen nehmen da kaum Abstand und ziehen beim Überholen so schnell wieder in ihre Spur, dass sie dir fast den Vorderreifen mitnehmen.

Verlassene Karawanserei in der Wüste auf dem Weg nach Yazd

Kann man da als Radreisender irgendetwas tun, um nicht überrollt zu werden?
Es klingt erstmal kontraintuitiv, aber ich fahre ziemlich mittig statt ganz an der Straßenseite – vor allem in den Kurven! Dadurch sehen mich die Autofahrer einfach früher. Außerdem zeige ich auf diese Weise mehr Präsenz, ich werde nicht nur als kleines Hindernis am Straßenrand wahrgenommen, an dem man vorbeirasen kann, sondern als richtiger Verkehrsteilnehmer. Das zwingt die Autos hinter mir, erstmal abzubremsen und dann beim Überholen auf die andere Gegenfahrbahn auszuweichen. Ansonsten war ich einfach viel auf Nebenstraßen und Feldwegen unterwegs, die weniger befahren sind. Was auch den Vorteil hat, dass es da stiller ist. 

War es in manchen Ländern lauter, als du es sonst gewohnt bist?
Ja. Das liegt in erster Linie am unterschiedlichen Gebrauch der Hupe. Je weiter du in den Osten fährst, desto öfter wird gehupt. Man hupt nicht nur, um zu warnen oder zu schimpfen, sondern auch um zu grüßen. 

Und wenn dann einer auf einem vollgepackten Fahrrad daherradelt …
…verspüren eben sehr viele Autofahrer das Bedürfnis, ihn zu grüßen. Das war vor allem im Iran so. Die tröten, was das Zeug hält. Das ist auf die Dauer natürlich nervig, es ist aber auch verwirrend. Hupen klingt für mich im ersten Moment ja eher aggressiv. Dazu kommt, dass im Iran sogar normale Autos oft mit LKW-Hupe ausgestattet sind. Wenn so einer hupt, bläst es dich fast vom Rad herunter. Bevor ich mich nicht umgedreht und gesehen habe, wer tatsächlich hinterm Steuer sitzt, habe ich also nie gewusst, wer da eigentlich trötet: ein wütender, Radfahrer-hassender LKW-Fahrer oder ein lächelnder Familienvater mit winkendem Kind.

Bei Mitzpe Ramon, Israel

Im Iran hast du auch die Proteste gegen das Regime im Herbst 2022 miterlebt. Was hast du da gesehen – und gehört?
In Teheran bin ich wenige Tage nach Beginn der Proteste eingetroffen. Da war die Stimmung sehr angespannt. Die Menschen haben mir geraten, mich von bestimmten Straßen fernzuhalten, einmal habe ich den pfefferartigen Geruch von Tränengas gespürt. Abends haben die Menschen von ihren Häusern „Tod dem Diktator“ gerufen. Richtige Straßenproteste habe ich nicht gesehen, dafür aber sehr viel riot police, bis zu den Zähnen bewaffnet mit Schlagstöcken, Gewehren und Tränengasgranaten. Viele dieser Regimekräfte waren vermummt, das hatte schon etwas Einschüchterndes.

Ich bin an der politischen und gesellschaftlichen Lage interessiert, wenn ich gerade durch ein Land fahre. Ich habe immer versucht, möglichst viel zu verstehen.

Die Menschen sind damals auf die Straße gegangen, nachdem Mahsa Amini, eine junge Frau, in Gewahrsam der Sittenpolizei getötet wurde.
Man hat die Wut auch in normalen Alltagssituationen gespürt. Manche haben mich mit dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ begrüßt, andere haben einfach ihre Sympathie für die Demonstranten ausgedrückt oder über die Regierung geschimpft.

Haben dich solche Unruhen beim Radfahren auch mal behindert?
Ich war gerade in der türkischen Stadt Konya, als im Mai des letzten Jahres der türkische Präsident Erdogan in der zweiten Wahlrunde wiedergewählt wurde. Die Stadt gilt als Hochburg der Konservativen und das hat man auch gemerkt. Hupende Autokorsos haben die Straßen belegt, alle haben Flaggen geschwenkt, bengalische Feuer angezündet, Slogans gerufen oder das Wolfszeichen gemacht, das Erkennungszeichen extremistischer türkischer Nationalisten. Da wäre es auf jeden Fall schwer gewesen, die Stadt mit dem Rad zu durchqueren.

Viele Reisende versuchen, bei der Reiseplanung solchen politischen Verwerfungen eher aus dem Weg zu gehen. 
Es war nicht so, dass ich mich aktiv auf die Suche nach Krisenherden begeben habe. Aber ich bin grundsätzlich schon an der politischen und gesellschaftlichen Lage interessiert, wenn ich gerade durch ein Land fahre. Ich habe immer versucht, möglichst viel zu verstehen. Im Zelt habe ich abends viel gelesen, das waren entweder Bücher von anderen Radreisenden oder eben Bücher über die Geschichte, Kultur und Politik eines Landes. Was mich auch ungeheuer fasziniert hat, ist die rasante gesellschaftliche Entwicklung in Saudi Arabien.

Dort regiert Mohammed Bin Salman. 
Der saudische Prinz ist für seine eiserne Faust bekannt, zugleich will er das Land modernisieren. Bis vor kurzem durften Frauen nicht einmal Auto fahren. Jetzt sieht man ab und zu schon welche hinterm Steuer. Als ich dort war, ist das Gerücht umgegangen, dass es bald auch Bars und Clubs geben soll, wie im Westen.

Wie nehmen die Menschen das dort auf?
Überraschend gleichgültig. Im Gegensatz zu den Mullahs im Iran genießt das saudische Königshaus noch eine ganz andere Autorität. Viele Saudis sagen sich einfach: Wenn der Kronprinz es so will, dann wird es schon richtig sein.

Auf dem Weg von den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Riad bist du durch die Rub al-Chali gefahren, die größte Sandwüste der Erde. Was hört man, wenn man da mit dem Rad fährt?
Hin und wieder fährt ein Auto oder ein Lastwagen vorbei, aber sonst ist man schon sehr nahe an der absoluten Stille dran. Man hört nur den Fahrtwind und das Surren der Reifen auf dem Asphalt. Wenn ich ein- oder zweimal pro Tag an einem Geschäft entlang der Hauptstraße vorbeigefahren bin, war das schon viel. Die Rub al-Chali ist einer der menschenleersten Orte der Welt. Da habe ich mich nicht direkt nach Lärm gesehnt, aber nach Stimmen, nach menschlichen Stimmen.

Gibt es ein Geräusch, dass diese Reise besonders geprägt hat?
Das war eindeutig der Ruf des Muezzins. Vor allem in der Türkei ist er allgegenwärtig. Selbst wenn du mitten in der Natur oder noch im kleinsten Kaff bist, gibt es immer irgendwo ein Minarett, von wo fünf Mal am Tag der Gebetsruf ertönt. Ich muss sagen, das vermisse ich manchmal auch. Diese Geräusche wecken, ähnlich wie Gerüche, intensive Erinnerungen. Mittlerweile bin ich schon seit einem halben Jahr zurück, aber wenn ich mich jetzt auf das Rad setze und das Surren der Kette höre, ziehen wieder die Bilder der Reise durch meinen Kopf.

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