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Wien. 2. Bezirk. 10:00 Uhr. Der private Wohnzimmer-Slam mit Hannah Tonner beginnt mit einer amüsanten Verwechslung, die augenblicklich Hannahs liebenswert-schusselige Seite zum Vorschein bringt. Die gebürtige Laureinerin verfehlt zunächst die Haustür und klingelt unabsichtlich einige Nachbarn aus dem Bett, bevor sie das falsche Stockwerk betritt und vor geschlossenen Türen steht. Nach einem kuriosen Auf und Ab im Aufzug, öffnet sich die Fahrstuhltür – da steht Hannah nun, mit wildem Lockenhaar und verschmitztem Grinsen. Der perfekte Auftakt für ein Treffen mit der Südtiroler Landesmeisterin im Poetry-Slam: Hannah Tonner.
Worte wie Magie
Bevor die 20-Jährige im September den Titel Poetry-Queen für sich einheimsen kann, glänzt sie bereits bei anderen Slam-Auftritten in Österreich und Italien: In den vergangenen Wochen kommt Hannah beim Ö-Slam bis ins Finale und sie darf demnächst an der gesamtdeutschsprachigen Meisterschaft teilnehmen.
Hannahs außergewöhnliche Fähigkeit, mit Worten zu jonglieren, begleitet sie seit ihrer Kindheit. Aufgewachsen ist sie in Laurein, am Deutschnonsberg. „Ich sage immer gerne: Wir sind nicht nur am Arsch der Welt, sondern auch der Nabel der Welt, da Laurein an der Sprachgrenze liegt und wir so von einer doppelten Kultur profitieren.“ Ihre Wertschätzung für Vielfalt und ihre offene Art hat die Wortjongleurin mit Sicherheit ihrer progressiven Mama zu verdanken, die diesen Austausch und den Kontakt zu anderen immer sehr gefördert hat. Mit einem Schmunzeln verrät sie: „Bei uns gab es am zweiten Weihnachtstag statt der traditionellen Gerichte immer chinesisches Essen – bei uns sucht man das Gewohnte vergeblich.“
Als Kind wird Hannah nicht nur mit den Märchen der Gebrüder Grimm vertraut gemacht, sondern auch mit Erzählungen aus dem keltischen und orientalischen Raum – ihrer Mutter ist es wichtig, dass sie eine weltoffene Erziehung erfährt. Das Vorlesen ist ein fester Bestandteil ihres Alltags: „Sprache und die Magie von Worten war also schon immer mein täglich Brot … Eine unfassbar nährende Leidenschaft.“ So freut sich Klein-Hannah nicht etwa wie ihre Freund:innen aufs Wochenende, um länger Fernsehen zu dürfen. Für sie sind die Wochenenden deshalb so besonders, weil sie dann auch mal bis zehn Uhr abends und nicht nur bis halb acht lesen durfte. So beginnt bereits in der Grundschule ihre Begeisterung fürs Schreiben – in der Oberschule tritt sie erstmals neben Poetry-Slam-Fixstern Lene Morgenstern auf die Bühne, wodurch sie sich von einer schüchternen zu einer zunehmend selbstbewussten Powerfrau entwickelt. Ihr erster Solo-Auftritt findet erst vor zwei Jahren im Maturajahr im Rahmen des Projekts „Avanti Slamily“ statt, das Slammer-Neulinge mit erfahrenen Slam-Poet:innen zusammenführt. In diesem Kontext tritt sie in Freiburg mit Eeva Aichner auf. Die damals 18-Jährige stellt fest, dass die Slam-Kultur, die sich über Südtirol hinaus erstreckt, eine Atmosphäre der Wertschätzung erzeugt, die ihr zuvor fremd war. „Ich habe dort den zweiten Platz belegt, also dachte ich, dass das vielleicht irgendwie mein Ding sein könnte“, erinnert sich Hannah.
Nach der Matura zieht die Wortkünstlerin nach Wien, um Publizistik und Kommunikationswissenschaften zu studieren. Aufgrund ihrer jahrelangen Affinität für Worte ist es wenig verwunderlich, dass die Landesmeisterin auf jede Frage eine passende Antwort parat hat – sei es ein geistreiches Wortspiel, das zum Schmunzeln verleitet, oder eine tiefe Weisheit, die zum Nachdenken anregt.
„Zwischen meinen Beinen wird es warm. Irgendwas zieht, ich spüre Feuchtigkeit. 12-jährige Hannah rennt aufs Klo, Höschen runter: rot. Ein richtig schönes rot. Knallig glänzend wie die Erdbeermarmelade, die ich vor fünf Minuten auf fluffig weichen Biskuitboden geträufelt habe.“
– Auszug aus Hannahs Poetry-Slam-FinaltextWenn Hannah gerade mal nicht dichtet, slammt oder schreibt, bemüht sie sich, ihre innere Ruhe zu finden. Sie geht viel spazieren, meditiert oder macht Yoga. Auch ihre Leidenschaft für das Lesen würde sie gerne wiederbeleben, jedoch – so gesteht die 20-Jährige – findet sie kaum Zeit dafür.
Außerhalb der Bühne beschreibt sie sich als einen „Zoon Politikon“, der sich am wohlsten fühlt, wenn er unter Menschen ist und philosophiert: „Manchmal setze ich mich in ein Wiener Kaffeehaus und beobachte das Leben um mich herum. Das beruhigt mich. Es gibt mir die Möglichkeit, in einer Welt, in der ich oft nur gehetzt bin, zur Ruhe zu kommen und innezuhalten.“ Dabei wird sie aber nie träge – Faulheit empfindet sie als schlimme Eigenschaft, ebenso Stagnation in Verbindung mit Gleichgültigkeit. Die Wortliebhaberin verrät, dass sie am besten mit Menschen umgehen kann, die authentisch, empathisch und ehrlich sind.
Die Beständigkeit der Worte
Mit einer Mischung aus Stolz und Bescheidenheit erzählt die Studentin vom zweiten Platz bei einem Wiener Slam-Event. Nach der Preisverleihung schickt Hannah ihrem – mittlerweile verstorbenen – Opa ein Foto von sich und dem Preis. „Hannah, Menschen, die viel reden, leben lange!“, lautet seine Antwort. „Dann werde ich sehr lange leben”, überlegt sie lächelnd und mit einem wehmütigen Glitzern in den Augen.
„Mein neuer Lebensabschnitt als gebärfähiges Wesen wurde gebührend gefeiert. Ich war unheimlich stolz, dass ich jetzt ein Kind aus mir rausdrücken kann. Wenn ich denn will … ja, wenn ICH will!“
– Auszug aus Hannahs Poetry-Slam-FinaltextHannah hat im Sommer, den sie Zuhause in Südtirol verbringt, mit vielen Herausforderungen zu kämpfen: zwischenmenschliche Schwierigkeiten und große Veränderungen belasten sie. Obwohl sie Stillstand normalerweise verabscheut, plagt sie die Angst vor dem Unbekannten und der Tatsache, dass sie nicht alles kontrollieren kann. Sie stellt fest, dass sie überambitioniert zwei Jobs angenommen hatte, die sie an ihre Grenzen bringen. „So habe ich mich von einigen Freunden distanziert und mich dadurch einsam und isoliert gefühlt“, gesteht Hannah. „Hinzu kam dann noch der Abschied von meinem Opa.“
Trotz dieser schwierigen Zeit gewinnt Hannah Tonner im September den Titel im Poetry Slam 2023. „Es ist schön zu sehen, dass gerade in so schwierigen Zeiten immer etwas da ist, das beständig ist und Trost schenkt. In meinem Fall sind es Worte.“ In ihren Texten und Performances kann die Wahl-Wienerin all das verarbeiten, was sie bewegt. Daher beschreibt sie die Poetry-Slam-Abende als eine Art „Gratis-Therapie“.
Poetry, Performance, Politik
Sobald Hannah die heutige Wohnzimmerbühne – betritt, verändert sich etwas. Hannah wirkt älter und reifer, ihre Stimme wird sanfter …
„Am liebsten würde ich antworten, dass ich Babys als eine der Gesellschaft nicht zumutbare Plage ansehe, dass ich Kinder mit drei Worten assoziiere: Ekel, Unverschämtheit und Verzicht. Ja, ich oute mich, ich bin eine maßlose Egoistin, ich denke nur an mich, meine Karriere ist mir zu schade, meine Figur zu schön und meine Freiheit zu teuer …“
– Auszug aus Hannahs Poetry-Slam-Finaltext
Hannah slammt ihren Gewinnerinnentext: „Muttertiere“. Darin kritisiert sie den gesellschaftlichen Druck auf junge Frauen, Kinder bekommen zu müssen und die Glorifizierung der „ach so tollen und alles schaffenden“ Mütter. Ein Text, für den sie schon mehrfach kritisiert wurde und während dessen Performance in Wien eine schwangere Frau wütend das Publikum verlassen hat. Sie verrät, dass ihre Texte aus Momenten tiefer Emotionen – Liebe, Hass, Unverständnis usw. – entstehen: „Auch meine Gefühle haben ein Recht auf Raum – und den nehme ich mir. Die Worte müssen dann einfach raus, auch wenn das nicht allen gefällt“, meint die 20-Jährige entschlossen.
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Hannahs Worte hallen nach dem Verlassen der „Bühne“, eine Weile nach. Nach dem kurzen Wohnzimmer-Slam wird deutlich, was Hannah damit meint, dass der Slam für sie eine politische Performance sei. Hannah will gehört werden: „Es ist mir wichtig, meine Gedanken und Gefühle in eine schöne Form zu bringen, wodurch dennoch die gesellschaftskritische Message ankommt.“ Authentizität, Korrektheit und Ehrlichkeit ist für Hannah ein Schlüsselkriterium für ihre Wortwahl – beim Schreiben, aber auch im alltäglichen Sprachgebrauch. „Da kommt die Kommunikationswissenschaft-Studentin in mir durch!“, lacht die Südtirolerin.
„Ich genieße es, nicht zu wissen, was kommt“
Auf die Frage nach Zukunftsplänen antwortet Hannah: „Es ist, als stünde ich vor einem riesigen, unvollendeten Gemälde, dem ich immer noch weitere Kontraste und Akzente hinzufügen kann.“ Ob die Poesie-Königin nach ihrem Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaft, dem Journalismus, den Public Relations oder vielleicht doch den Public Affairs nachgehen wird, weiß sie noch nicht. Ende dieses Jahres wird Hannah auf jeden Fall zusammen mit drei anderen Slammer:innen Südtirol im Slam-Battle in Thüringen vertreten und beim Waag Slam #5 Christmas Slam in Südtirol auftreten.
Und noch eines ist sicher: Das Spiel mit den Worten und ihre Passion für Poetry-Slam wird Hannah Tonner nie aufgeben – sie will die Welt weiterhin mit ihrem Lockenkopf, ihrem Löwenherz und ihrer Wörterliebe verzaubern.
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