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Es ist wohl ein Privileg des Alters, dass man sich kein Blatt mehr vor den Mund nehmen muss, also ehrlich übers eigene Leben, über die schönen und weniger schönen Momente reden kann. „Alles Gut. Gespräche mit 90-Jährigen“ lautet der Titel des bei Edition Raetia soeben erschienenen Buches. Im Folgenden einige Auszüge aus den insgesamt 31 Gesprächen.
So zum Beispiel Anna Notdurfter Stolzlechner (*12.12.1923, Prettau). Wie sie Astrid Kofler gemeinsam mit dem Fotografen Thomas Wiedenhofer besucht, liegt sie auf der Ofenbank, vor Kurzem hat sie sich den Oberschenkel gebrochen. Anna Notdurfter Stolzlechner erzählt:
Das wichtigste Fach in der nationalsozialistischen Schule war der arische Nachweis. Und da wurde man angewiesen, darauf zu achten, dass man einen Vater für die Kinder erwischt, der Arier ist. Mich interessierte nicht, dass es Arier waren, aber ich beschloss damals, mir die Väter meiner Kinder auszusuchen, weil viele Kinder wollte ich immer schon haben und ob die Väter dann auch anwesend waren, das war mir nicht so wichtig. Mein Vater hat sich auch nicht viel um mich gekümmert, deshalb hatte ich auch keinen Bezug zu ihm. Ich habe so gelernt, dass der Vater nicht anwesend sein muss, damit aus den Kindern etwas wird, und so habe ich auch die Väter meiner Kinder nach dem Ausleseprinzip gesucht. Und ich habe zwei gute Väter gefunden für meine zwei ersten Kinder. Die sind neun Jahre auseinander. Die nächsten fünf Kinder waren dann von meinem Mann. Insgesamt habe ich sieben Kinder.
Sieben Kinder, drei Männer …
Mindestens drei. (Sie lacht.) Christian, mein zweites Kind, der Sohn des Offiziers, kam neun Jahre später. In der Zwischenzeit hatten meine Brüder all unsere Besitztümer ins Spielcasino getragen, wir hatten gar nichts mehr. Wir hatten alles verloren und deshalb habe ich dann auch geheiratet. Er hatte einen Vorteil davon – dass er eben nicht einrücken musste – und ich auch. Da war keine Liebe im Spiel. Wäre das mit den Brüdern nicht gewesen, hätte ich niemanden gebraucht, dann hätte ich für meine Kinder und mich selbst den Lebensunterhalt verdient, dann hätte ich mir weiter Väter für meine Kinder gesucht, so wie ich sie gerne gehabt hätte.
Sie hätten sich noch weitere Väter gesucht?
Ja sicher. Die Väter haben bei mir nur einen Zeugungsauftrag gehabt, sonst keinen. Natürlich mochte ich sie, aber ich wollte sie nicht binden, und ich wollte mich nicht binden. Ich wollte Kinder. Die Männer haben uns Frauen ja auch nur als Gebrauchsgegenstände behandelt, der Unterschied war nur der, dass die Geistlichkeit das Anliegen der Männer gutgeheißen hat. Das habe ich dem Pfarrer schon einmal sagen müssen, als er mir die Kommunion brachte, ihr Geistlichen habt uns Frauen zu Gebrauchsgegenständen degradiert. Und in einer Ehe war das dann noch schlimmer. Und er hat mir recht gegeben. Aber diese Zeiten sind jetzt hoffentlich vorbei.
Die gesellschaftliche und kirchliche Einschränkung hat viele Menschen charakterlich geprägt, sie zu Opfern ihrer Zeit gemacht, gar manche Beziehung hat darunter gelitten und tut es noch heute. So etwas Ida Geiser Renner (*23.11.1931, Lana) und Franz Renner (*31.5.1928, St. Pankraz). Franz Renner macht einen lebensfrohen Eindruck, spielt mit der Ziehharmonika auf, und erzählt, dass er die vier gemeinsamen Kinder auf dem Freitagsmarkt gekauft hätte.
Franz Renner: Seit 60 Jahren habe ich meine Frau nicht mehr nackt gesehen. Das ist doch schlimm, oder? Ist das nicht traurig?
Da warst du ja erst 30?
Franz Renner: Ja eben, genau. Und seit damals darf ich nichts mehr anschauen. Und wenn ich gleim zu ihr gehe, sagt sie, lass mich in Ruhe. Dann habe ich wieder nichts. Das ist schlimm, gell? Und die Liebe wäre das Wichtigste, das es gibt auf der Welt. Das ist schrecklich, so früh hat sie mich aushungern lassen. Jetzt darf ich dich [Astrid Kofler, Anm. d. Red.] anschauen, dein Gesicht, das ist auch schon viel wert. Wenn ich jetzt dich betrachte, bin ich schon ganz aus dem Zirkel. Eine Frau ist doch das Schönste, was auf der Welt umherläuft. Den ganzen Tag lang könnte ich eine schöne Frau betrachten. Was ist ein Leben ohne Liebe?
Sie haben einen lustigen Mann.
Ida Renner: Außen schon. Aber da im Haus ist er nicht immer so lustig. Da bin ich mir nicht sicher, was ihm wieder einfällt. Da schmeißt er mir manchmal alles nach, was er gerade in den Händen hat. Es ist schwer. Ein bisschen mehr Frieden wäre mir lieber. Ich bin nicht so eine Lustige. Ich bin eher ein stiller Typ.
Wenn man den richtigen Mann fürs Leben fand, war es nicht unüblich, viele Kinder zu haben. Der Fall von Anna Müller Matzoll (*3.4.1928, St. Walburg) ist hierfür ein beeindruckendes Beispiel: Kinder hat sie viele. 15 sind groß geworden, 18 Mal war sie schwanger.
Ich habe ein Foto in der Stube, da sind 13 Kinder oben. Zwei sind dann noch gekommen. Zwischen der Ältesten und der Jüngsten, der Lena und Erika, liegen 25 Jahre. Im gleichen Jahr bekam ich meine Jüngste und auch schon ein Enkelkind, ein Mädchen. Meine jüngste Tochter und mein erstes Enkelkind sind miteinander in die Schule gegangen. Bei meiner Jüngsten war ich schon 49 und mein Mann über 70. Die drei Letzten waren vier Jahre auseinander, zwischen den anderen lagen jeweils nur eineinhalb. Na, na, mein Mann ist schon ein feiner Mann gewesen.
Ich habe alle Geburtstage auf einem Kalender notiert, bei so vielen Kindern und Schwiegerkindern und Enkelkindern könnte ich sie mir nicht merken. 32 Enkelkinder habe ich mittlerweile. Und 16 Urenkel. Und das 17. kommt jetzt bald. (Sie lacht.) Manchmal vergesse ich schon einen Geburtstag. Das ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie glücklich sind.
Astrid Kofler | Thomas Wiedenhofer
Gespräche mit 90-Jährigen
Hardcover | 22 × 28 cm | 380 Seiten
Euro 35,00
ISBN 978-88-7283-692-7
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