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Sarah Meraner
Veröffentlicht
am 22.02.2024
LeuteInterview mit Regisseur Rudolf Frey

„Keine Opfererzählung“

Veröffentlicht
am 22.02.2024
Die Stauung des Reschensees hat tiefe Wunden hinterlassen. Die Vereinigten Bühnen Bozen greifen in einem Stück das Thema auf, Regisseur Rudolf Frey wählt aber einen anderen Zugang: Er rückt nicht die Opfer, sondern die Frage nach dem Fortschritt in den Vordergrund.
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Als Rudolf Frey vor zwei Jahren zum Intendanten der Vereinigten Bühnen Bozen designiert wird, setzt er sich eine Regiearbeit zum Ziel, das für das Haus gleichzeitig eine Uraufführung ist. Am 24. Februar feiert „Die treibende Kraft“ im Stadttheater Bozen nun Premiere. BARFUSS trifft Frey, der bereits an vielen österreichischen und deutschen Theatern als Regisseur für Schauspiel und Musik gewirkt hat, kurz nach den Proben am Vormittag in seinem Büro im zweiten Stock. Er ist auf dem Sprung – die Doppelfunktion zwischen Regiearbeit und Intendanz beansprucht ihn momentan sehr. Trotzdem lässt er sich nicht nehmen, uns von diesem Herzensprojekt zu erzählen, das nun endlich seine finale Form annimmt.

„Die treibende Kraft“ spielt vor dem historischen Hintergrund des Reschensees. Warum gerade diese Geschichte?
Rudolf Frey: Ich wollte ein Auftragswerk schaffen, das der Region entspringt. Der Blick in die Welt ist mir zwar wichtig, aber es soll eben diese Brücke geschaffen werden zu dem, was die Geschichte mit Südtirol zu tun hat. Dabei bin ich relativ schnell auf den vielschichtigen Themenkomplex in Zusammenhang mit der Entstehung des Reschensees gestoßen. Dieses Bild vom Kirchturm im See kennt jeder. Diese Geschichte markiert sehr viele Etappen der Geschichte Italiens, die aber unter der Oberfläche liegen. Das fand ich sehr spannend.

Wie ging die Entwicklung des Stücks weiter?
Zeitgenössisches Theater ist mir auf allen Ebenen sehr wichtig – somit auch inhaltlich: Ich möchte Autor:innenschaft fördern. Ich kenne Thomas Arzt schon seit seinen Anfängen als Autor und habe ihm von diesem Thema erzählt. Er hat dann intensiv recherchiert und sich zunächst mit der Historie – gerade jener vor der Stauung – auseinandergesetzt, mit diesem Musterprojekt Mussolinis, das ein physischer Eingriff in die Natur war und vielen Menschen die Lebensgrundlage genommen hat. Er hat begonnen zu skizzieren. Thomas fehlte aber der Bezug zum Jetzt und fragte sich: Was kann man noch erzählen, ohne „nur“ eine Anklage oder Rechtfertigung der Opfer zu machen? Also hat er ein Stück geschrieben, das auf zwei Zeitebenen funktioniert: einer historischen und einer gegenwärtigen Ebene. Die Frage: „Welche Erinnerungskultur brauchen wir?“ hat er über das ganze Stück gelegt.

Es gab also einen Austausch zwischen Thomas Arzt und dir?
Ja, das Tolle am Auftragsstück ist, dass wir den Dialog mit dem Autor suchen – und das ist natürlich sehr spannend. Thomas hat den ersten Entwurf geschrieben, wie das Stück aussehen könnte. Mit der Dramaturgin Elisabeth Thaler habe ich diesen besprochen, dann sind wir wieder mit Thomas in den Dialog gegangen und er hat wieder einige Monate geschrieben. Das Ganze hat sich über zwei Jahre gezogen, bis jetzt vor ca. zwei Monaten eine fertige Fassung vorlag und die Proben begonnen haben.

Ihr wart vor etwa einem Jahr am Reschensee und habt dort die Atmosphäre auf euch wirken lassen. Wie hast du dich als Regisseur sonst noch auf das Stück vorbereitet?
Genau, das Treffen am Reschensee war nach der ersten Fassung der erste Zwischenstand und Austausch. Wir haben vor Ort auch das Museum besucht und Gespräche mit Expertinnen geführt. Das war uns ganz wichtig.
Natürlich war auch der Dokumentarfilm „Das versunkene Dorf“ eine wichtige Inspiration und Vorbereitung. Es ist aber wichtig zu sagen, dass es bei dem Stück nicht um eine korrekte historische Nacherzählung geht. Es spielt mit historischen Fakten genauso wie mit fiktionalen Annahmen.

Autor Thomas Arzt und Regisseur Rudolf Frey am Reschensee im März 2023

Für Frey bedeuten Regie und Theater immer auch Emotion – und Vertrauen zwischen allen Beteiligten. Vor allem mit den Schauspieler:innen gehe man auf eine sehr emotionale Reise, die sich über längere Zeit erstreckt, erzählt der gebürtige Salzburger. Die intensive Auseinandersetzung mit den Menschen und mit dem Stück „mache etwas mit einem“. Das neunköpfige Ensemble von „Die treibende Kraft“ besteht aus Schauspieler:innen aus Südtirol, Österreich und Deutschland – besonders anregend findet Frey die Wahrnehmung und die Fragen von außen: Sie regen zum konstruktiven Austausch an, vor allem in Bezug darauf, wie diese Zeit von der jetzigen Generation gesehen wird. Wann darf man eine gewisse Distanz zu etwas haben? Gibt es eine kollektive Erinnerungskultur eines Ereignisses? Mit diesen und vielen weiteren Fragen beschäftigen sich Regisseur und Schauspieler:innen.

Wovon kann der Mensch im Fortschritt profitieren und was ist er dafür bereit, aufzugeben? Wie weit darf Fortschritt gehen?

Rudolf Frey

Wie hat sich das Ensemble in den Proben eingefunden?
Weil es die Geschichte vorher noch nicht gab, sind die Proben für dieses Stück sicherlich anders, als würde man jetzt zum Beispiel Romeo und Julia einüben, das schon zig mal aufgeführt und gesehen wurde. Die Annäherung an dieses Stück ist somit sehr viel freier und offener. Eine große Herausforderung ist das Spiel auf den zwei Zeitebenen, die sich immer wieder abwechseln. Das hat etwas sehr Filmisches. Jede:r der Darsteller:in spielt eine Figur aus der Vergangenheit und eine aus der Gegenwart. Sichtbar wird das für die Zuschauenden anhand von Licht, Ton und natürlich den Kostümen – jene der Vergangenheit sind bunt, die der Gegenwart sind schwarz. Spannend ist, wenn die Zeitebenen ineinander verschmelzen und der Wechsel vonstatten geht.

Die Welt ist nicht nur Schwarz oder Weiß, es gibt ja sehr viele Graubereiche. Wie empfindest du das bei einer heiklen Thematik wie dieser?
Uns allen ist es wichtig, dass das Stück keine Opfererzählung wird. So schlimm es auch ist, was den Menschen damals passiert ist, das Stück sagt nie: Das ist gut und das ist böse, sondern bemüht sich, diese Themen in all seinen Grauabstufungen zu behandeln. Es geht vor allem um die Fortschrittsfrage: Wovon kann der Mensch im Fortschritt profitieren und was ist er dafür bereit, aufzugeben? Wie weit darf Fortschritt gehen? Und wie kann man das entscheiden? Der anfängliche Grundgedanke einer Idee beruht ja meistens darauf, eine bessere Zukunft zu kreieren. Dieser Antrieb – und daher auch der Titel „Die treibende Kraft“ – kann auch etwas ganz Großes sein.

Woran scheitert dieser Antrieb letztlich?
Das Krasse damals war eigentlich, wie mit den Menschen damals kommuniziert wurde, bzw. nicht kommuniziert wurde. Einzelne Menschen haben ja zunächst an den Fortschritt geglaubt – und dann hat sie ein System überrollt und in dessen Getriebe verbrannt. So ist es auch mit dem Ingenieur. Er ist in unserem Stück ein Pionier, der an einen visionären Gedanken glaubt. Der faschistischen Firma dahinter ging es vor allem darum, vom Norden wirtschaftlich zu profitieren. Das ist eine der größten Wunden dieser Geschichte: Der Reichtum eines Ortes – das Wasser, die Landschaft –  wurde für das faschistische Ideal und das Prestige Italiens benutzt. Der Ingenieur verschreibt sich in unserer Geschichte nicht dem Faschismus und wird unter dem System verrückt.

Wo siehst du thematisch einen aktuellen Bezug?
Gerade gibt es auch in Ulten Proteste gegen den Bau eines Pumpspeicherkraftwerkes. Dieses Thema ist eigentlich auf der ganzen Welt hochaktuell. Oder nehmen wir die Windräder als alternative Energie her: Sie haben ein gutes Ansehen, aber auch dafür wird in die Natur eingegriffen. Die Idee der Nachhaltigkeit bringt auch viele Fragen mit sich: Was ist eigentlich natürlich? Wie weit darf eingegriffen werden? Oder wenn wir uns heute die Diskussion KI anschauen und wir annehmen, dass sie das Thema der nächsten Jahre sein wird, wissen wir: Sie könnte die nächste große Bedrohung der Menschheit sein und gleichzeitig hat sie aber vielleicht das Potenzial, viele tödliche Krankheiten zu heilen. Wie gehen wir mit diesen Annahmen um – als Individuum, aber auch als Kollektiv? Das ist eine sehr große Frage der heutigen Zeit, in der alles sehr stark polarisiert wird.

Das Stück „Die treibende Kraft“ erzählt von einzelnen Menschenschicksalen und ist eine Art Thriller, der laut Regisseur Rudolf Frey keine Antworten liefert, sondern definitiv Fragen aufwirft. „Kunst soll nichts verschließen, sondern öffnen und sinnliche Impulse setzen“, ist er überzeugt.

Mehr Infos zum Stück und alle Termine gibt es hier: https://www.theater-bozen.it/production/die-treibende-kraft/#dates

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