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Konzentriert blickt Angelika Rainer nach oben. 113 ist die Startnummer des Eisklettertalents aus Meran. Ein 25 Meter hoher Eisturm mit Holzelementen an den Seiten erstreckt sich vor ihren Augen in den fast wolkenlosen Himmel. Die zierliche Frau ist nervös – wie vor jedem Wettkampf. Heute aber vielleicht noch ein bisschen mehr. Es ist der 31. Januar, der Tag des Halbfinales der Weltmeisterschaft im Eisklettern „UIAA Ice Climbing World Championship“. Zum zweiten Mal findet sie hier statt, im 230-Seelen-Dorf Rabenstein in Passeier. Rainer geht mit dem Weltmeistertitel ins Rennen – den letzten Wettkampf vor zwei Jahren hat sie für sich entschieden. Ein großer Druck, der auf ihr lastet.
Es ist kurz nach halb fünf Uhr nachmittags als die 28-Jährige bei minus acht Grad an der Reihe ist. Rainer nimmt ihre zwei Eispickel fest in jede Hand, atmet tief durch und startet los. Langsam, mit überlegten Schritten, hakt sie sich in den befestigten Griffen ein und zieht sich, abgestützt mit den scharfen Steigeisen, an ihren Schuhen hoch. Schritt für Schritt erklimmt sie gekonnt die Route, atmet rhythmisch ein und aus und wird schneller. Währenddessen zählen die Sekunden auf einer Anzeige in großen leuchtend gelben Ziffern runter: von 700 auf Null. Wie bei den 21 Mitstreiterinnen aus 13 Nationen. Der Unterschied ist, dass bei Rainers Durchlauf deutlich mehr Zuschauer an der Absperrung gespannt nach oben blicken.
Rainer hängt jetzt einige Meter oberhalb vom Boden an der schrägen Holzwand mit Steingriffen. Sie nimmt einen der Eispickel in den Mund, hält sich nur noch mit dem rechten Arm an der Wand fest, über den sie jetzt das linke Bein schlägt. Sie schüttelt kurz die freie Hand, nimmt wieder den Eispickel und zieht sich weiter hoch.
Drei Tage zuvor. Ich treffe Rainer im Café Kunsthaus in Meran. Sie kommt fünf Minuten zu spät – hatte zuvor noch ein Interview. Besonders so kurz vor dem Wettkampf in Rabenstein ist sie bei den Medien gefragt. Dennoch blickt sie entspannt auf das Wochenende. Bei einem Macchiato erzählt sie, was das Klettern für sie bedeutet: „Man konzentriert sich auf den nächsten Griff und Tritt und hat keine Zeit, seinen Gedanken oder Sorgen nachzuhängen.“
„Auch ich habe in bestimmten Situationen noch Angst”
Durch das Klettern werde Rainer zufrieden und könne immer wieder etwas Neues erreichen und Erfolge erzielen. Und man müsse auch immer wieder die Angst vor der Höhe oder dem Herunterfallen überwinden. „Auch ich habe in bestimmten Situationen noch Angst”, gibt sie grinsend zu.
Rainer klettert überall, wo es Berge gibt. Auch im Urlaub. Griechenland und Spanien sind ihre Favoriten für das Sportklettern, für das Eisklettern Kanada. Für Wettkämpfe reiste sie bereits nach Russland, Südkorea, USA, Rumänien, Schweiz und Frankreich. „Durch das Klettern kann man sich die Welt ansehen“, sagt Rainer nach einem Schluck aus der Macchiato-Tasse. Schon als Kind geht sie mit ihrer Mutter in die Berge und klettert auf Bäume. Mit Zwölf beginnt sie mit dem Sportklettern. Mehrere erfolgreiche Wettkämpfe folgen. 2005 entdeckt sie das Eisklettern und ist motiviert, die neue Disziplin und Technik zu erlernen. Zwei Jahre später hört sie mit den Sportkletter-Wettkämpfen auf und widmet sich nur noch dem Eisklettern. Mit Erfolg. Noch im selben Jahr holt sie im „Italian Cup“ Gold. Sie wird dreifache Italienmeisterin 2007, 2008 und 2009, Europameisterin und Gesamtweltcupsiegerin 2012. Ihre drei Weltmeistertitel holt sie sich in den Jahren 2009, 2011 und 2013.
Die letzten Jahre hat Rainer im landwirtschaftlichen Versuchszentrum Laimburg gearbeitet. In Zukunft wird sie sich nur noch auf das Klettern konzentrieren. Das Training ist anspruchsvoll und zeitraubend, erzählt sie. Bereits Mitte August startet der Trainingsplan ihrer Trainer Helli Haller und Andi Sanin. Sechs Tage pro Woche, zwischen drei und sechs Stunden am Tag. Dazu gehören Klettern, Bouldern und Klimmzüge. Immer mit Zusatzgewichten im „Rucksackl“. Am siebten Tag geht Rainer laufen oder Mountainbiken. Als Ausgleich und „um eine gute Puste zu kriegen“, sagt sie schmunzelnd.
Für ihren Heimwettkampf in Rabenstein, den sie sehr gerne mag, erhofft sie sich das Beste. Aber sie weiß auch, dass alles zusammenstimmen muss, damit es super läuft. Man sei eben auch nicht jeden Tag gleich gut drauf. „Wir sind ja keine Maschinen“, lacht Rainer.
Zurück in Rabenstein. Rainer ist am überhängenden künstlichen Eisblock angekommen, an dem sie sich wieder mit dem Eispickel festkrallt. Mit einer Hand hakt sie ihr Seil im Karabiner, der sogenannten Express-Schlinge ein. Jede, die sie erreicht zählt später einen Punkt. Dann versucht sie sich auf die hintere Seite des Eisturmes zu schwingen – immer den Eispickel in der Hand, um sich an den Griffen zu fixieren. Einmal, zweimal. Das dritte Mal klappt. Rainer klettert auf die hintere Seite. Die Zuschauer folgen ihr am Boden.
Jetzt heißt es weiter nach oben. Die Spannung steigt, die Zeit zählt weiter abwärts. Souverän hakt sich Rainer in jedem einzelnen Karabiner ein, klettert weiter und erreicht die letzte Express-Schlinge rund eineinhalb Minuten vor Ablauf der Zeit. Sie schafft es bis ans Top, ans Ende der Route zu klettern. Die Menge jubelt, als sich Rainer sichtbar erleichtert ins Seil fallen lässt. Sie lächelt und strahlt übers ganze Gesicht, als sie den Boden erreicht.
„Shin war einfach ein bisschen schneller.“
Nach einer dicken Umarmung von Mitstreiterin Barbara Zwerger aus Bozen und Fotos mit Fans sagt Rainer mit schnellem Atem: „Ich bin zufrieden.“ Dann lacht sie. Ihre großen blauen Augen leuchten und die Anspannung fällt sichtlich von ihr ab. „Vor dem Halbfinale war ich sehr aufgeregt. Man darf nicht viel falsch machen, sonst ist man aus dem Finale draußen“, so Rainer. Die Enttäuschung wäre groß. Umso glücklicher ist sie jetzt, dass alles so gut gelaufen ist. Die zwanzig Minuten vor dem Start sei die Nervosität immer am größten. Die Athleten müssen in der Isolationszone abseits des Rennens warten, damit sie durch das Beobachten der Konkurrentinnen keinen Vorteil ziehen können. Die Strecke prägen sie sich bei der Routenbesichtigung zuvor ein. „Morgen ist nur noch Gas zu geben, dann werden wir schon sehen“, sagt Rainer.
Und sie kann zufrieden mit ihrer Leistung am nächsten Tag sein. Nach drei Goldmedaillen in Folge holt sie bei der heurigen WM die Silbermedaille nach der Koreanerin Woon Seon Shin. Rainer freut sich über den zweiten Platz. „Ich bin wieder bis ans Top geklettert. Shin war einfach ein bisschen schneller.“ Dieses Wochenende geht es schon wieder weiter. Diesmal nach Frankreich.
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