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Es ist der Moment, in dem er sich von der Kante abstößt, um zu springen, der Moment, in dem er weiß, er kann nicht mehr zurück: Dieser Moment ist für Uli Emanuele der Schönste an seinem außergewöhnlichen Sport.
Es ist ein sonniger, windstiller Tag. Emanuele steht oben am Gipfel. Brille, Helm und Kamera auf dem Kopf. Er atmet zweimal tief ein und aus. Und springt. Er rauscht vorbei an schroffen Felswänden und fliegt Slalom zwischen Nadelbäumen hindurch – nur wenige Zentimeter von den Baumstämmen entfernt. Wendig, schnell, wie eine Fledermaus in der Dämmerung. Für die Leute am Boden hört sich der 30-Jährige wie ein vorbei jagender Düsenjet an. Er trägt einen blauen, zwei bis drei Kilo schwerer Ganzkörperanzug aus Parapack, einem Nylongewebe, der sich beim Fliegen mit Luft vollsaugt. Zwischen Armen und Beinen sind Stoffflächen vernäht, die wie Flügel aussehen. Wingsuit wird der Fluganzug genannt, mit dem Emanuele durch die Luft segelt. Mit bis zu 160 km/h.
Das Wingsuit-Fliegen ist eine junge Sportart. Erst seit Juni 1999 kann man die Fluganzüge kaufen. Heute boomt die spektakuläre Sportart und zieht jedes Jahr mehr junge Leute in ihren Bann. Insgesamt 600 Wingsuit-Piloten gibt es zurzeit weltweit. Darunter Emanuele, den 1,80 Meter großen Leiferer mit blauen Augen. Ein Sprung durch ein 2,80 Meter breites Felsloch im Tal Lauterbrunnen in der Schweiz hat den Basejumper und Wingsuit-Piloten weltweit berühmt gemacht. Im September 2014 fliegt Emanuele das erste Mal durch das schmale Loch im Felsen hindurch. Nur seine Freunde wissen davon. Erst später kommt ihm die Idee, mit einem Video an die Öffentlichkeit zu gehen. Für das Projekt wanderte er insgesamt 45 Stunden, jeweils fünf Stunden brauchte er, um über einen Gletscher auf den Berg zu gelangen. Viermal flog er durch das schmale Felsloch – dann hatte er endlich genug Filmmaterial beisammen.
Damals arbeitete Emanuele für viereinhalb Jahre in einem Bergrestaurant als Küchenhilfe und Abspüler. Seinen Job als Drucker in Südtirol hat er für das Fliegen aufgegeben. „Ich hatte einfach zu wenig Zeit zu trainieren und hätte kein gutes Level erreicht”, sagt Emanuele. Und so zog er in die Schweiz und flog jeden Tag nach der Arbeit in seinem Wingsuit nach Hause. Jeden Tag ein Trainingssprung. Und genau dort entdeckte er das rund 2,80 Meter breite Loch. The Hole.
Um das Risiko zu minimieren, hat sich Emanuele drei Jahre lang auf den Sprung vorbereitet. Mit einem Kollegen habe er damals gescherzt, einmal durch das Loch zu fliegen. „Wir dachten, es ist unmöglich“, gibt Emanuele heute zu. Aber dann wurde der Pilot immer besser und wollte es versuchen. Er eröffnete jedes Mal einen anderen Exit, das heißt, er sprang an verschiedenen Punkten vom Berg, „um die richtige Linie zu finden.“ Bis er wusste, jetzt kann es klappen.
Die ganze Welt berichtete nach diesem waghalsigen Flug über den Weltrekord des Südtirolers. Schließlich sind bisher nur durch zwei Löcher Menschen durchgeflogen. Beide, in China und Spanien, waren breiter und konnten nur vom Hubschrauber aus erreicht werden. Die „USA Today Sports“ betitelte Emanuele als „die möglicherweise verrückteste Person der Welt.” Wingsuit-Fliegen gilt als gefährlichste Sportart der Welt. Schon über 200 Piloten haben dabei ihr Leben verloren. Vor allem das Proximity-Fliegen, das Fliegen über Hänge und entlang der Grate der Berge, ist riskant. Es hat den Sport verändert, ihn aufregender, aber auch gefährlicher gemacht.
Man muss also verrückt sein, wenn man diesen Sport ausübt. „Nein, ganz im Gegenteil“, meint Emanuele. „Wenn man verrückt ist, macht man den Sport nicht lange.“ Man müsse alles kalkulieren und sich langsam, Schritt für Schritt, steigern. Und aufpassen. Emanuele kennt die Gefahr. Jeder einzelne Sprung sei gefährlich in seiner Art. Bei einem ist es der Absprung, weil die Vertikale kurz ist oder weil er direkt an Felsen vorbeifliegt, beim anderen die kleine Landezone. „Die große Gefahr in diesem Sport ist es, einen Fehler zu machen“, sagt der Pilot bestimmt. Angst hat er keine, angespannt sei er aber noch immer vor einem Absprung. Und das obwohl er jeden Tag mindestens einmal springt. Bisher insgesamt 700 Mal vom Flugzeug und über 2.000 Mal vom Berg.
„Ich springe nicht, wenn es windig ist“, sagt Emanuele. „Oft gehe ich stundenlang bergauf, dann ist es windig und ich muss umkehren.“ Erst gestern musste er zwei Stunden am Exit warten, bis die Bedingungen ideal waren. Emanuele sagt, er fliege gewissenhaft und gehe kein Risiko ein. Dennoch musste er einmal notlanden. Beim Sprung von 3.450 Metern am Mönch in der Schweiz. Der Aufstieg zur Absprungstelle dauerte sechs Stunden, der Flug war sechs Kilometer lang. Emanuele musste in einem Canyon notlanden. „Genau in diesem Moment, wenn es mal nicht so läuft wie geplant, sieht man, wie gut man trainiert hat. Man muss ruhig bleiben und richtig reagieren. In diesem Moment panisch zu werden, wäre fatal“, erklärt er. Trotz der Gefahr, unterstützt Emanueles Familie den Extremsportler. „Meine Mutter freut sich für mich. Ich bin jeden Tag in den Bergen unterwegs und kann das machen, was mir Spaß macht“, strahlt Emanuele. Sie habe sich nach all den Jahren an den Sport gewöhnt.
Wenn Emanuele springt, bricht er bereits um vier oder fünf Uhr in der Früh auf, um rechtzeitig am Exit zu sein. Bepackt nur mit dem Nötigsten, aber mit doch mindestens 13 Kilo auf dem Rücken. Darunter immer einer seiner Fluganzüge. Ein schneller für Wettkämpfe, ein agiler, wenn er vorhat, zwischen Bäumen hinwegzufliegen oder einen ganz großen, wenn er neue Sprünge eröffnet. Und die eröffnet er zuhauf. Emanuele springt am liebsten an Plätzen, an denen noch nie jemand vorher gesprungen ist. Alle vertikalen Wände sind potentielle Plätze zum Fliegen. Er sucht sie auf Landkarten. „Es ist nicht nur das Fliegen, sondern auch das Hochlaufen. Ich sehe Plätze, an denen noch niemand war. Das ist das Coole“, schwärmt der Extremsportler.
Hinter einem Sprung steckt lange Vorarbeit. Zuerst muss er den Platz finden, dann stundenlang wandern und nach dem richtigen Startpunkt suchen. Alleine das Packen des Fallschirms dauert 40 Minuten. Nach dem ultimativen Adrenalinkick suche er im Sport aber nicht. „Wer es nur deswegen macht, macht es vielleicht 20 Mal, dann hat er keinen Bock mehr“, sagt Emanuele und lacht. Er ist schon überall auf der Welt gesprungen: Italien, Schweiz, Kroatien, Österreich, Spanien, Frankreich, China, Iran, Russland und Rumänien. Südtirol sei ein Paradies fürs Springen, die Dolomiten nahezu perfekt dafür. „Zehn Jahre würde ich brauchen, um hier überall zu springen“, sagt er und grinst.
„Mit dem Wingsuit erreicht man zwei Minuten freien Fall, wo man normalerweise nur zwei Sekunden hätte.“
Mit dem Wingsuit-Fliegen angefangen hat Emanuele vor sechs Jahren. Seit April 2015 macht er es hauptberuflich, versucht von Sponsoren und von Videos zu leben, die er verkauft. Er ist wieder bei seiner Mutter in Leifers eingezogen, „sonst würde es nicht klappen.“ Bevor er aber überhaupt damit anfangen konnte, so zu fliegen wie Superman, ist der Leiferer Fallschirm gesprungen. Mit 16 Jahren hat er den Sport seines Vaters begonnen. Als er mit 21 dann zum Basejumpen kam, blieb das Fallschirmspringen auf der Strecke. Es sei auf Dauer einfach zu teuer, aus Flugzeugen zu springen. Emanuele lacht: „Das war ein Grund, warum ich angefangen habe, von Bergen zu springen.“ Er ist an den Gardasee gefahren, an einen Ort, wo viele Leute springen, hat sie beobachtet und Kontakte geknüpft. Es dauerte Monate, bevor er es selbst versuchte. Zuerst von Brücken, um das Fallschirmspringen von festen Objekten und den stabilen Exit zu lernen, dann von Bergen. 800 Mal ist er in normaler Kleidung gesprungen. Erst dann mit dem Wingsuit. „Das nächste Level“, wie Emanuele sagt. Mit dem Wingsuit habe man noch mehr Möglichkeiten. „Man erreicht zwei Minuten freien Fall, wo man normalerweise nur zwei Sekunden freien Fall hätte“, schwärmt er. „Das ist super.“
2010 gewann Emanuele die Extreme Base Jump World Championship in Spanien. Für die Zukunft hat er noch viel vor. Er möchte in Japan fliegen, sofern das überhaupt möglich sei. Im April wird sein neuer waghalsiger Sprung gezeigt, den er hier in Südtirol vor zwei Wochen in Begleitung mit 28 Kameras absolviert hat. Bis dahin wird er wieder jeden Tag in der Früh aufbrechen, um von den Bergen zu fliegen und „so viel Spaß wie möglich zu haben“.
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