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Mara* ist 48 Jahre alt, arbeitet als Verkäuferin in einem Modegeschäft und lebt mit ihrem Mann Alex* und ihrer 16-jährigen Tochter Leonie* in einem Dorf in Südtirol. Mara ist glücklich. Zumindest meistens. Um genau zu sein: Immer dann, wenn sie ganz genau weiß, wo sich ihre Tochter aufhält. Bei einer pubertierenden Tochter also eher selten. Daher beginnt Mara, Leonie zu überwachen: Sie kontrolliert, spioniert und beschattet. Abends liegt sie häufig wach im Bett.
22:55 Uhr – Wo ist Leonie? Mit wem ist sie unterwegs? Was macht sie dort?
22:56 Uhr – Soll ich sie suchen gehen? Nein, so bin ich nicht.
22:57 Uhr – So will ich nicht sein.
22:58 Uhr – Egal. Nur mal nachsehen.
22:58 Uhr – Ihr Standort ist deaktiviert. Ich kann sie nicht orten. Ich geh sie suchen.
Mara ist eine Helikopter-Mutter. Marlene Munter von der Familienberatungsstelle Lilith in Meran kennt das Phänomen. Helikopter-Eltern sind Eltern, die ständig um ihre Kinder kreisen, sie überwachen und behüten, so die Psychotherapeutin. Außerdem kontrollieren sie ständig die Umgebung der Kinder, einschließlich der Beziehungen zu anderen Menschen. „Die Erziehung ist von Überbehütung und exzessiver Einmischung in die Angelegenheiten des Kindes geprägt“, weiß Marlene Munter. Auch wenn es sich bei Mara um einen Extremfall handelt, ist sie kein Einzelfall. Helikopter-Eltern sind ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das immer stärker auftritt. „In einer zunehmend komplexeren Welt, die den Erwachsenen immer mehr Strukturierung und Leistungswille abverlangt, werden Kinder oft als ein weiteres Projekt betrachtet. Dem Projekt Elternschaft soll zum Erfolg verholfen werden, indem alles für die bestmögliche Entwicklung des Kindes getan wird”, so Munter.
„Eltern müssen dem Kind den Weg freiwischen und zwar ohne Wenn und Aber.” (Psychologin Marlene Munter)
Dass Mara ein Kontrollverlust-Problem hat und im Vergleich zu ihren Mami-Freund:innen überfürsorglich ist, weiß sie schon seit geraumer Zeit. Vor acht Jahren, sei es ihr bei einer Geburtstagsfeier einer Grundschulfreundin von Leonie klar geworden: „Eine Party-Animateurin beschäftigte die Kinder im Wohnzimmer, während alle Mamas – froh über die kurze Pause – gemütlich am Tisch in der Küche saßen und tratschten. Ich konnte keinem Gespräch richtig folgen, weil ich mich nur um Leonie sorgte und wissen wollte, was sie gerade macht, ob sie sich gut versteht oder ob sie mich braucht”, erzählt Mara. Als sie es nicht mehr aushielt, kam ihre eine Idee: Sie behauptete, an einer Blasenentzündung zu leiden, weshalb sie im Fünf-Minuten Takt die Küche verließ, um – unter dem Vorwand die Toilette aufzusuchen – Leonie beobachtete.
Der Begriff Helikopter-Eltern geht auf die amerikanischen Psychiater Foster W. Cline und Jim Fay zurück. Im Englischen werden Helikopter-Eltern auch paranoid parents genannt und im Dänischen wird von curlingbarn gesprochen. Curling ist eine Sportart, die dem Boule-Spiel ähnelt. Hierbei wird jedoch auf dem Eis und mit großen schweren Steinen anstelle von Eiskugeln gespielt. Damit der Stein die gewünschte Schnelligkeit und Richtung beibehält, rennen zwei Spieler:innen mit ihm mit und wischen kleinste Hindernisse weg, die ihn auf seinem Weg zum Ziel verlangsamen oder von der Richtung abbringen könnten. „Dieser Begriff bringt sehr anschaulich zum Ausdruck, was sogenannte Helikopter-Eltern als vorrangige Erziehungsaufgabe sehen: Eltern müssen dem Kind – in dieser Metapher ist das Kind der Stein – den Weg freiwischen und zwar ohne Wenn und Aber”, erklärt Munter.
So war es auch bei Helikopter-Mama Mara. Sie stand unter dem ständigen Druck, der Fürsorge ihres Kindes nicht gerecht zu werden und erfand daher unzählige Geschichten, um ihre Art der Erziehung zu rechtfertigen. So richteten sich viele ihrer Lügengeschichten an die Erwachsenenwelt, um ihre Überfürsorglichkeit zu verstecken. Von der angeblichen Introvertiertheit der eigenen Tochter bis hin zu gefährlichen Krankheiten, hat sich Mara vieles einfallen lassen, um das eigene Kind möglichst nie aus den Augen zu verlieren. „Meine Lügen veränderten sich im Laufe der Jahre, weil sich mit der Zeit die anderen Eltern an meine ständige Anwesenheit gewöhnten, aber Leonie sich weiterentwickelte und immer mehr Zeit ohne mich verbringen wollte”, erzählt die Mutter.
Leonie kann sich gut an diese Zeit erinnern und berichtet davon, ihrer Mutter immer überall begegnet zu sein. Sobald Leonie ihre Mama damit konfrontierte, folgte eine Lüge auf die andere: Termine in derselben Gegend, Erledigungen und Zufälle. „Irgendwann kam es mir seltsam vor, dass meine Mama immer überall auftauchte, wo ich war. Also begann ich selbst zu lügen und verriet ihr nicht mehr, wo ich hingehen würde. Dadurch haben die Zufallsbegegnungen aufgehört. Zu mindestens kurz…”, erzählt Leonie.
„Heute ist es mir unglaublich peinlich über diese Zeit zu sprechen und zuzugeben, wie weit ich gegangen bin. Aber es war wie eine Sucht. Eine Sucht nach Kontrolle und Überwachung.“ (Mara)
Tracking-Apps sind besonders beliebt bei Helikopter-Eltern. Heutzutage gibt es sowohl für Nutzer:innen von Android wie IOS-Geräten unzählige Spionage-Apps, welche ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen. So gibt es Apps, die die Weiterleitung von Nachrichten veranlassen, die Bildschirmaktivität aufzeichnen, Anrufe aufnehmen oder den Standort des Geräts permanent übertragen. Zumeist verstecken sich diese Apps hinter einem unscheinbaren Design wie einem Kalender oder einem anderen App-Tool, damit die App nicht gleich entdeckt wird. Die nicht eingewilligte Überwachung des Smartphones einer anderen Person mittels Spionage-Apps ist strafbar. Die Überwachung des Handys der eigenen – zumeist minderjährigen – Kinder stellt allerdings einen gesetzlichen wie moralischen Graubereich dar, da Eltern das Recht auf Kontrolle haben, wenn sie eine Gefährdung des eigenen Kindes befürchten. Aus diesem Grund werden Hersteller:innen solcher Apps kaum angezeigt, weil sie auf genau diese Fürsorgepflicht der Eltern plädieren.
Ähnlich war es bei Mara und Leonie. Nachdem Mara ihre Tochter nicht mehr in den üblichen Orten antraf, griff sie auf digitale Hilfsmittel zurück. Eigentlich waren sich Mara und ihr Mann Alex einig, dass Leonie ihr Smartphone erst zu einem späteren Zeitpunkt ohne Zeitbegrenzung bekommen würde. Bis dahin gab es klare Regeln: zwei Stunden pro Tag Handy und basta. Weil sich Mara aber nicht mehr anders zu helfen wusste, überredete sie ihren Mann, dass es sicherer sei, wenn Leonie immer das Handy dabeihabe, um in einem Notfall erreichbar zu sein.
Bevor sie der Tochter das Handy zur freien Verfügung gab, installierte sie heimlich eine Tracking-App. „Heute ist es mir unglaublich peinlich über diese Zeit zu sprechen und zuzugeben, wie weit ich gegangen bin. Aber es war wie eine Sucht. Eine Sucht nach Kontrolle und Überwachung. Wenn ich sie nicht befriedigte, konnte ich nicht schlafen, nicht essen und nicht arbeiten. Ich war süchtig, meine Tochter zu überwachen“, verrät Mara mit Tränen in den Augen. Sichtlich beschämt berichtet die 48-jährige davon, wie sie heimlich in Teilzeit gegangen sei, um ihre Tochter, die gerade die erste Oberschulklasse in einem Gymnasium in Meran besuchte, in der Stadt zu „verfolgen“.
Die Kinder entwickeln eine „erlernte Hilflosigkeit“ und sie haben Schwierigkeiten, erwachsen und unabhängig zu werden.
Helikopter-Eltern argumentieren damit, dass die Welt und besonders das Leben in den Städten, wie in Maras Fall die Schulzeit von Leonie in Meran, viel gefährlicher geworden sei und sie ihr Kind gegen alles Übel dieser Welt beschützen möchten, klärt Marlene Munter auf. Die Psychotherapeutin weiß, dass sobald die elterliche Fürsorge zur Überfürsorge wird, die Eltern sich und ihren Kindern schaden, da sie damit zum einen die Kompetenzen der Kinder untergraben sowie die Kinder daran hindern, wertvolle eigene Erfahrungen zu machen. Alarmzeichen dafür seien laut Munter, wenn die Kinder die Ängste und das Kontrollbedürfnis ihrer Eltern bedienen müssen und sie kaum Möglichkeiten bekommen, sich Lebenskompetenzen und soziale Kompetenzen anzueignen.
Die Kinder entwickeln eine „erlernte Hilflosigkeit“ und sie haben Schwierigkeiten, erwachsen und unabhängig zu werden. So weisen überbehütete Kinder häufig größere Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Kindern auf: Sie sind entweder passiv oder dominierend und in der Schule wollen sie die gleiche Aufmerksamkeit von ihren Lehrer:innen, wie sie sie von ihren Eltern gewöhnt sind: „Nicht selten kritisieren dann die Eltern die Schulen, weil ihr:e einzigartige:r und kostbarer Prinz:essin nicht ausreichend wahrgenommen wird“, berichtet Marlene Munter.
Zwei Monate nachdem Mara ihre Arbeitszeit reduzierte, um Leonie zu beschatten, flog das „Spiel“ auf. Mara wurde von einer Bekannten der Familie mehrmals zu ihrer eigentlichen Arbeitszeit in Meran gesehen. Die Bekannte vermutete eine Affäre, weshalb sie Maras Mann davon in Kenntnis setzte. So beichtete Mara ihrem Mann und ihrer Tochter ihren Drang zur Kontrolle und ihr problematisches Verhalten. Das Geständnis eskalierte: „Es wurde so viel herumgeschrien, beschimpft und geweint“, erinnert sich Mara. Sowohl Leonie als auch Alex fühlten sich zutiefst verraten und zogen für drei Monate in eine Pension eines Freundes.
Was sind die möglichen Ursachen dieses Helicopter-Parenting, das ausgehend von den USA in Europa vorerst die höhere und mittlere Bildungsschicht erfasst hatte? Laut Expertin Munter dürfte Helicopter-Parenting wohl unter anderem aus Angst vor sozialem und ökonomischem Abstieg entstanden sein. Mit der Globalisierung, dem Ausbrechen aus Traditionen, sind immer mehr Familien in der Welt zerstreut und auf sich allein gestellt. „Das sprichwörtliche Dorf, das zum Erziehen eines Kindes notwendig wäre, fehlt. Eltern sind auf sich allein gestellt und das führt zu einer großen Verunsicherung. Eigentlich wollen Helikopter-Eltern nur das Beste für ihr Kind. Deswegen versuchen Eltern vermehrt über Elternratgebern Antworten zu finden, was dann zwangsläufig zu noch mehr Verunsicherung und Beunruhigung führt“, verrät die Psychologin.
Das Gespräch über diese schlimme Zeit, die vielen Streite und die Angst die eigene Familie zu verlieren, ist für Mara sehr aufwühlend. Leonie beginnt ihre Mama zu trösten. Auf die Frage, ob sie gar nicht wütend sei, antwortet die 16-Jährige: „Oh, und wie ich das war! Wir haben drei Monate nicht miteinander gesprochen. Ich habe sie gehasst.“
„Pubertierende brauchen von den Eltern zwei Dinge: Vertrauen und dass sich die Eltern von der vordersten Front im Leben der Teenager zurückziehen und als Sicherheitsnetz für den Notfall verfügbar sind.” (Psychologin Marlene Munter)
„Pubertierende brauchen von den Eltern zwei Dinge: Vertrauen und dass sich die Eltern von der vordersten Front im Leben der Teenager zurückziehen und als Sicherheitsnetz für den Notfall verfügbar sind”, sagt Marlene Munter. Sie erklärt, dass es beim Helicopter-Parenting eigentlich um die Auseinandersetzung mit sich selbst, um die Konfrontation mit den eigenen Ängsten, Unsicherheiten, aber auch Wünschen und Bedürfnissen geht. Es ist klug, so viel wie möglich über sich selbst und über das eigene Kind herauszufinden und seinen inneren Vater und seine innere Mutter zu entdecken und nicht irgendeinem fremden Drehbuch zu folgen, rät die Psychologin.
In der Zeit, in der Alex und Leonie getrennt von Mara lebten, suchte Mara eine Therapeutin auf, mit der sie sich zunächst mehrmals die Woche traf: „Ich musste diverse Ereignisse meiner eigenen Kindheit erst mit der Therapeutin aufarbeiten, um den Ursprung meines Bedürfnisses nach Kontrolle und Überwachung zu finden. Es war ein langer Weg, diese Sucht nach Überwachung in den Griff zu bekommen.“
Marlene Munter fügt hinzu, dass „das Wichtigste für die Gesundheit aller Beteiligten und auch für die Familie als Ganzes ist, dass Konflikte innerhalb der Familie zum Vorschein kommen dürfen.“ Diese existenziellen Konflikte nach Anpassung und Integrität sind laut Munter ein ewiges Thema in allen Familien. Dazu gehören zwangsweise Phasen der Ruhe und der Harmonie als auch Schlachten und Kriege, erklärt die Mitarbeiterin der Familienberatungsstelle Lilith in Meran.
„Heute bin ich auf meine Mama nicht mehr böse, weil ich gelernt habe, dass dieses Helikopter-Syndrom wie eine Krankheit ist beziehungsweise war.“ (Leonie)
Nach drei kontaktlosen Monaten zwischen Mutter und Tochter, war die Sechzehnjährige wieder bereit mit ihrer Mutter zu reden. In verschiedenen Familien-Therapie-Sitzungen und einer Familienaufstellung, einem psychologischen Verfahren, um Muster innerhalb des Familien-Systems erkennen zu können, konnten die drei eine neue Beziehung zueinander aufbauen. „Heute bin ich auf meine Mama nicht mehr böse, weil ich gelernt habe, dass dieses Helikopter-Syndrom wie eine Krankheit ist beziehungsweise war. Ich bin ja auch nicht böse auf jemanden, der traurig ist, weil er depressiv ist“, sagt Leonie.
Auch Mara ist sich sicher, den Kontrollzwang überwunden und Techniken für Vertrauen in die Freiheiten der eigenen Tochter gefunden zu haben. Um einen Rückfall zu vermeiden, besucht sie aber weiterhin regelmäßig eine Psychologin: „Damit werde ich auch nicht aufhören. Ich hätte fast meine Familie verloren und mit meinem Verhalten genau das Gegenteil erreicht, was ich mit meiner Überwachung eigentlich erreichen wollte: eine gute und standhafte Beziehung zu meiner Tochter“, so Mara.
* Namen von der Redaktion geändert
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