Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Es ist mein Großvater, der mich dazu bringt, diese Zeilen zu schreiben. Ein stämmiger, alter Mann, groß gewachsen, kräftig gebaut, um nicht zu sagen ein wenig zu dick. Weiße Haare, buschige, graue Augenbrauen und eine hohe Stirn, hinter der all die Weisheit verstaut ist, die er im Laufe seines Lebens ansammeln konnte. Ein Familienoberhaupt wie aus dem Bilderbuch dieser Mann, ohne den es weder mich noch Herzmensch geben würde. Immer das letzte Wort, oft in schroffem Ton, dem sich der Rest der Familie dann wortlos unterordnet. Wenn sich mein Opa über etwas aufregt, will man am besten nicht in seiner Nähe sein.
Doch dann kam dieser eine Moment, an dem Herzmensch gerade einmal zwei Tage alt war und ich ihn meinem Großvater das erste Mal in die Arme legte. Ein Blick, ein Lächeln, ein Gefühl. Dann kullerten diesem mächtigen Tyrannen plötzlich dicke Krokodilstränen über die Wangen. Die harte Schale war gebrochen und ich habe verstanden, dass Kinder mächtige kleine Zauberer sind.
„Bedingungslos zu lieben bedeutet frei zu sein.“
Momente wie diese haben sich seitdem gehäuft. So oft konnte ich beobachten, wie Herzmensch die Alltagszeit für einen Augenblick angehalten hat. Wie er aus einem grimmigen Alltagsgesicht ein strahlendes Lachen herausgelockt, müde Augen wieder mit Leben und schwache, alte Arme wieder mit Kraft gefüllt hat. Wie er Freudentränen über Freundeswangen kullern hat lassen und gestandene Männer in kleine Kinder verwandelt hat.
Egal welche Hautfarbe, welches Alter oder welches Geschlecht, egal ob dünn oder dick, reich oder arm, egal ob gut oder schlecht gelaunt, ob Tier, Pflanze oder Mensch. Ganz ohne Worte verzaubert Herzmensch sie alle gleich. Denn er liebt sie alle gleich: bedingungslos.
Was wir auch gerne können würden, haben wir seit Langem schon wieder verlernt. Denn bedingungslos zu lieben bedeutet frei zu sein. Frei vom Ego, frei von jeglichen Konventionen. Ohne Wenn und Aber. Ohne Vorurteile, ohne Vergleiche, Bilder und Vorstellungen. Und vor allem ohne all diese Schubladen in unserem Kopf.
In der Liebe dieser kleinen Geschöpfe gibt es das alles nicht. So frisch auf dieser Welt sind sie der Einheit, der wir alle entspringen noch so nahe, dass man sie als Erwachsener in ihrer Nähe wahrlich spüren kann. Und das berührt. So sehr, dass wir manchmal sogar vor Glück – und nicht mehr vor Hormonen 😉 – weinen müssen.
„Ohne je etwas gelernt zu haben auf dieser Welt, ist er doch schon so viel weiter als ich.“
Herzmensch liebt auch mich bedingungslos und löst dadurch jeden Tag aufs Neue das schönste Gefühl in meinem Herzen aus, das dort je Platz gefunden hat. Egal, ob ich schlechte Laune habe, komplett übermüdet, genervt oder überfordert bin, er sieht mich an und verzaubert mich. Das erfüllt mich mit großem Respekt vor diesem kleinen Wesen. Ohne je etwas gelernt zu haben auf dieser Welt, ist er doch schon so viel weiter als ich.
Denn obwohl ich diese Liebe jeden Tag spüren darf, fällt es mir schwer, sie selbst zu leben. Es fühlt sich geradezu so an, als hätten wir Erwachsene uns mit zunehmendem Alter einen Schutz dagegen antrainiert. Wozu? Ich weiß es nicht. Doch was auch immer wir sehen, fühlen, hören oder tun, alles wird von uns sofort mit einem Urteil beladen. Und was im Ursprung vermutlich als Schutzfunktion dienen mag, zerstört am Ende nicht nur unsere, sondern auch die freien Seelen unserer Kinder. Umso größer Herzmensch werden wird, desto mehr wird er Haltungen und Einstellungen annehmen, die ich ihm vorlebe und dadurch selbst anfangen zu urteilen. Und umso mehr wird er die Fähigkeit verlieren, diese Welt so bedingungslos zu lieben wie er es jetzt gerade tut. Und ich werde ihn mit keinem Mittel davor bewahren können. Das macht mich manchmal ein wenig traurig.
Deshalb versuche ich oft kurz stehen zu bleiben, im Trubel dieses Alltags. All das, was in meinem Kopf passiert, all die Pläne und Vorhaben, all den Stress und die Erwartungen einfach aufzugeben und mich dieser Liebe hinzugeben. Wenn sie mich durch das zahnlose Lachen in Herzmensch’ Gesicht und seine vor Reinheit strahlenden Augen nämlich so tief berührt, dann holt sie mich auch zurück auf den Boden der Realität. Zu dem, was wirklich wichtig ist. Einem Gefühl, das so mächtig ist und so viel bewegen könnte in dieser Welt, würden wir nicht verlernen, es zu nutzen und statt mit dem Herzen nur noch mit unserem Kopf zu handeln.
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support