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Die zebra. ist eine Straßenzeitung. Hinter ihr steht also nicht nur eine Redaktion, sondern auch der Anspruch, Menschen, die sich in einer schwierigen Lebenssituation befinden, zu unterstützen. Obwohl das Projekt prinzipiell allen offensteht, wenden sich vor allem Menschen mit Migrationshintergrund an uns, die – aufgrund fehlender Papiere oder anderer durch die Migration gegebener Schwierigkeiten – keiner regulären Arbeit nachgehen können. Durch den zebra.-Verkauf haben sie die Möglichkeit, autonom ein kleines Einkommen zu generieren.
Aber was bedeutet es eigentlich, jemanden in einer schwierigen Lebenssituation zu unterstützen? Jemandem zu helfen? Und welche Schwierigkeiten ergeben sich diesbezüglich im Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund? Darüber hat die zebra. Redaktion mit Kwanza Musi Dos Santos gesprochen. Die Schwarze Aktivistin, die sich als Italo-Afro-Brasilianerin bezeichnet, wurde in Hamburg geboren und ist später in Rom aufgewachsen, wo sie die Organisation „QuestaèRoma“ mitbegründet hat. Heute leitet Kwanza Musi Dos Santos Workshops zu Diversität und Rassismus, unter anderem auch in Südtirol.
zebra.: Was bedeutet es für Sie, jemandem zu helfen?
Kwanza Musi Dos Santos: Helfen ist ein egoistischer Akt und wir sollten uns nicht schämen, das zuzugeben. Aber es ist ein Akt, der beide Seiten bereichern kann, wenn wir es schaffen, die Linie zwischen unserem Ego und den Bedürfnissen der anderen zu finden. Das heißt: Bevor wir damit beginnen, müssen wir uns fragen, warum, wem und wie wir helfen wollen. Und wir müssen uns selbst infrage stellen. Wer bin ich in dem Ganzen? Warum mache ich das? Wer hat mich darum gebeten? Sonst passiert es, dass wir nicht von den tatsächlichen Bedürfnissen einer Person ausgehen, sondern ihnen unsere Erwartungen aufzwängen… Dankbarkeit zum Beispiel! Dankbarkeit ist kein Recht, das sich eine helfende Person erkaufen kann. Wir müssen unsere Position und Beweggründe also laut aussprechen – auch damit sich eine hilfesuchende Person eventuell darauf einstellen kann.
Wie können wir Hilfe hingegen verstehen, wenn es speziell darum geht, Menschen ausländischer Herkunft im italienischen Kontext zu unterstützen?
In diesem Fall ist es noch viel wichtiger die Würde der Person anzuerkennen. Nicht umsonst entscheiden sich viele Menschen, wenn sie vor der Entscheidung stehen Hilfe anzunehmen oder nicht, dagegen: Sie wollen ihre Würde nicht gefährden. In Italien wird die Menschenwürde aber oft als Nebensache angesehen; dabei müsste man genau von dieser Würde ausgehen.
Würde ist für mich, mich als Mensch fühlen zu dürfen.
Was ist das für Sie, Würde?
Würde ist für mich, mich als Mensch fühlen zu dürfen. Nicht als Objekt, nicht als Zahl, nicht als Tochter von Migranten, Ausländerin, Gefahr, zu rettende Person und auch nicht als Person der geholfen werden muss. Ich bin in erster Linie ein Mensch, der imstande ist, etwas zu wollen oder zu beabsichtigen – auch, wenn mir das nicht immer gelingt. Ich will mit meinem Namen, meiner Geschichte, meiner Persönlichkeit und meiner Komplexität anerkannt werden: als Mensch. Das bedeutet Würde für mich.
Sie sind Mitbegründerin der Organisation „QuestaèRoma“, eine Organisation, die von Personen mit Migrationshintergrund getragen wird und deren Subjektivität in den Mittelpunkt stellt. Was können wir uns darunter vorstellen?
Viele der Gründungsmitglieder waren in unterschiedlichen Organisationen aktiv. Dort waren wir manchmal die einzige Person mit Migrationshintergrund, was dazu führte, dass unsere Gesichter häufig in der Öffentlichkeit standen. Das kann sich nach außen hin natürlich positiv auf unsere Wahrnehmung auswirken, wenn neue Gesichter gezeigt werden. Aber wir haben irgendwann gemerkt, dass sich dieser Cover-Moment, nicht nur auf öffentliche Auftritte belief, sondern, dass wir auch innerhalb der Organisation nur als „die Schwarze Person“ oder „die Person mit Migrationshintergrund“ wahrgenommen wurden. Wir wurden nur dann gefragt, wenn es um Themen ging, die uns in diesem Sinn direkt betrafen. Unsere Interessen, Kompetenzen und beruflichen Erfahrungen wurden außer Acht gelassen. Aus dieser Frustration heraus haben wir „QuestaèRoma“ gegründet. Der Name der Organisation ist ein klares Statement, keine Frage. Wir haben niemanden darum gebeten, zu existieren, irgendwo integriert oder miteinbezogen zu werden; wir wollen für das angesehen werden, was wir sind: Menschen, Italiener:innen, Fachleute… mit einem zusätzlichen Wert, der dadurch gegeben ist, dass wir eine weitere Sprache sprechen, aufgrund der kulturellen Herkunft einen anderen Ansatz haben oder eine größere Sensibilität für gewisse Themen. Aber wir sind in erster Linie Menschen. Durch „QuestaèRoma“ wollen wir zeigen, wie bereichernd Heterogenität sein kann, wenn wir die Alibi-Funktion überwinden.
Sie sprechen darüber, dass „QuestaèRoma“ niemanden darum bittet, „existieren zu dürfen“, welche Erfahrungen stecken hinter dieser Prämisse?
Viele unserer Eltern sind Teil der sogenannten „ersten Generation“ von Migrant:innen. Sie sind mit 18 oder 20 Jahren nach Italien gekommen, mit bereits geformten Gewohnheiten und Identitäten. Sie kamen im Wissen, in ein anderes Land einzureisen und die Gegebenheiten dort akzeptieren und respektieren zu müssen. Grob gesagt: „Niemand hat sie darum gebeten, nach Italien zu kommen“. Wir nicht. Wir sind hier geboren und aufgewachsen, aber wir haben niemanden darum gebeten! Deshalb haben wir auch nicht das Gefühl, jemanden um etwas bitten zu müssen oder jemandem Dankbarkeit zu schulden – auch, wenn uns unsere Familien und die Gesellschaft in diese Richtung drängen: Wir sollen dankbar sein, uns integrieren, zeigen, dass wir durch und durch italienisch sind …
Der Ausdruck „niemand hat sie darum gebeten“ überrascht mich. In vielen Fällen sind es die unmöglichen Lebensumstände im Herkunftsland, die Personen zur Migration zwingen.
Natürlich. Aber wer sich für eine Migration entscheidet, gezwungenermaßen oder nicht, ist sich bewusst, in ein anderes Land zu reisen. Und dieses Bewusstsein kommt mit einer bestimmten Haltung. Aber wenn ich hier geboren und aufgewachsen bin, dann muss es mir jemand sagen, dass ich keine Italienerin bin. Wie soll ich das sonst wissen? Die Grundeinstellung ist also eine andere, das muss auch von der Gesellschaft endlich verstanden werden.
Auch Menschen ohne Migrationshintergrund sind Teil von „QuestaèRoma“. Wie kann ihre Rolle in der Organisation aussehen?
So wie die aller anderen auch: Wir haben alle einen anderen Hintergrund, unterschiedliche Blickwinkel und können die Diskussion auf unsere eigene Art bereichern. Genau das ist unser Reichtum: Es gibt eine ständige Konfrontation, nie Homogenität. Das ist die Philosophie, die uns eint. Die zebra. Redaktion ist eine weiße Realität, die versucht, sich der Vielfalt zu öffnen.
Wenn eine Geschichte von einem einzigen Blickwinkel aus erzählt wird, wird – bewusst oder unbewusst – eine bestimmte Perspektive gestärkt.
Aber als Redaktion haben wir natürlich auch eine gewisse Macht: Wir entscheiden, wem wir das Wort geben, wen wir wie darstellen und wen wir hingegen nicht darstellen. Welche Gefahren birgt diese Ausgangslage?
Einerseits die Gefahr der „single story“, wie Chimamanda Ngozi Adichie erklärt: Wenn eine Geschichte von einem einzigen Blickwinkel aus erzählt wird, wird – bewusst oder unbewusst – eine bestimmte Perspektive gestärkt. Zudem kommt, dass Weiß-Sein nicht als filternde Linse, sondern als neutrale Ausgangslage wahrgenommen wird. Dabei müsste man genau dieses Weiß-Sein in den Vordergrund rücken, um die Machtverhältnisse zu dekonstruieren. Es ist wichtig, sich infrage zu stellen und auch zu verstehen, warum die Redaktion so weiß ist, wie sie diverser werden könnte und welche Maßnahmen nicht umgesetzt werden, um sie vielfältiger zu gestalten.
Hinter der zebra. steht nicht nur eine Redaktion, sondern auch ein Sozialprojekt: Personen in einer schwierigen Lebenssituation und ohne stabile Arbeitsmöglichkeiten haben durch den Verkauf der Straßenzeitung die Möglichkeit, ein kleines Einkommen zu generieren. Inwiefern muss auch dieser Aspekt infrage gestellt werden?
Ich nehme hier eine gegenseitige Abhängigkeit wahr. Einerseits entscheiden sich die Personen, die die Straßenzeitung verkaufen, vielleicht nicht wirklich autonom für diese Verdienstmöglichkeit, sondern deshalb, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, um über die Runden zu kommen. Ich würde damit beginnen, den Menschen zuzuhören, um zu verstehen, ob es vielleicht andere Möglichkeiten gibt, um ihre Fähigkeiten und Bestrebungen zu realisieren.
Darum kümmert sich die Sozialarbeit, die Bedürfnisse und persönliche Entwicklung der Verkäufer:innen in den Mittelpunkt stellt. Der Verkauf der Straßenzeitung ist also nur als Überganglösung gedacht. Sollte es diese Möglichkeit irgendwann gar nicht mehr brauchen, wäre das ein Erfolg!
Habt ihr euch je gefragt, was passieren würde, wenn es die Straßenzeitung nicht mehr brauchen würde? Um bestimmte Systeme zu durchbrechen, muss man davon ausgehen, dass die Veränderungen bereits eingetroffen sind. Sonst reproduziert man ein System in der Hoffnung, dass es sich irgendwann ändern wird, ohne die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Indem wir uns eine andere Welt vorstellen, können wir Projekte gestalten, die wirklich zukunftsgerichtet sind.
Zu einem anderen Thema: Im August 2022 wurde der in Civitanova ansässige nigerianische Staatsbürger, Alika Ogorchukwu, durch eine rassistische Gewalttat ermordet. Daraufhin haben Sie eine Kundgebung organisiert, an der in erster Linie Schwarze Personen teilnahmen. Warum war es wichtig, als geeinte Gruppe aufzutreten?
Das war für mich ein großer Meilenstein. Antirassistische Kundgebungen und Proteste werden fast immer von weißen Menschen organisiert, mit der Idee, helfen zu wollen, etwas für andere zu tun – nicht mit ihnen. Dahinter stecken natürlich gute Absichten, aber das reicht leider nicht. Weil was dabei passiert, ist, dass eine weiße Person einen Platz besetzt, der anderen Menschen gehört. Wenn eine weiße Person nämlich eine Kundgebung organisiert und ich – aus welchen Gründen auch immer – nicht an dieser Kundgebung teilnehme, dann bin ich diejenige, die fehlt. Diejenige, die sich nicht kümmert. Wenn eine weiße Person also das Bedürfnis verspürt zu protestieren, ist das kein automatischer Freispruch, im Gegenteil: Wird die eigene Position nicht infrage gestellt, führt es dazu, dass sich das Machtgefälle verstärkt.
Es wäre interessant, wenn sie den Rassismus aus ihrem Blickwinkel angehen würden.
Bei vielen antirassistischen Kundgebungen nehmen weiße Organisationen, Gewerkschaften oder politische Parteien mit ihren Fahnen teil oder ergreifen das Wort. Ist das in Ihren Augen ein Problem?
Ja, weil der Antirassismus zur Propaganda wird. Ein Akt des Widerstands wird dazu verwendet, ein Produkt zu verkaufen – auch, wenn dieses Produkt gewerkschaftliche Unterstützung ist. Die Kundgebung für Alika war deswegen so wichtig, weil alle Beteiligten direkt Betroffene waren. Wir wussten alle, dass jeder und jede von uns Alika hätte sein können. Wir haben diese Kundgebung nicht für andere gemacht, sondern für uns selbst. Wir hatten das Bedürfnis zu spüren, dass wir nicht alleine waren, dass wir zusammen existierten und als solche genau verstanden, was passiert war. Wir haben auch keine Medien eingeladen. Für uns war es nur wichtig, dass wir, dass unsere Körper dort vereint waren. Später haben sich auch weiße Menschen zu uns gestellt, auch das war ein wichtiger Moment. Aber das war nicht das Ziel der Kundgebung. Es war ein Moment des Widerstands, des Erkennens und der Stärke. Andere Kundgebungen sind hingegen häufig voll von Paternalismus … „die armen Schwarzen Menschen“, wird dann gesagt.
Wie sehen Sie die Rolle weißer Personen im Kampf gegen den Rassismus?
Es wäre interessant, wenn sie den Rassismus aus ihrem Blickwinkel angehen würden. Das heißt, aus der Perspektive derjenigen, die den Rassismus aufgebaut haben und diesen – wollend oder nicht – reproduzieren. Dann nimmst du nicht meinen Platz ein, sondern trägst zur Sache aus deiner eigenen Perspektive bei. Eine Perspektive, zu der ich keinen Zugang habe. Ich werde nie wissen, was es heißt, weiß zu sein. Ihr müsst das Konstrukt selbst infrage stellen. Ich kann nur erklären, wie ich dieses Machtkonstrukt erfahre.
Häufen sich auf der einen Seite die Erwartungen an Menschen mit Migrationshintergrund, so steht auf der anderen Seite die Annahme, dass es unsere Aufgabe sei, sie zu „retten“. Wo drückt sich dieser Retter-Komplex in Italien heute aus?
In wohltätigen Vereinen und NGOs! Wenn ich könnte, würde ich sie alle morgen schon schließen. Diese Organisationen brauchen die Hilfesuchenden, um selbst über die Runden zu kommen. Aber Menschen wollen nicht immer geholfen, gerettet, verstanden oder bemitleidet werden! Das ist ja auch bei Freunden so: Sie wollen oft gar keinen Rat und auch kein Schulterklopfen. Nur jemanden, der ihnen zuhört. Oder jemanden, die mit ihnen einen Kaffee trinkt und fragt, wie es ihnen geht.
Wir schließen also die NGOs und dann?
Dann versuchen wir in erster Linie uns selbst zu helfen, uns infrage zu stellen und die Machtverhältnisse, die wir aufrechterhalten, zu dekonstruieren. Das ist ein sehr persönlicher und intimer Prozess – das hat gar nichts damit zu tun, links und rechts Workshops zu besuchen. Ich versuche in den Workshops zwar Denkanstöße zu geben, aber dann musst du dich selbst damit auseinandersetzen.
Dieses Interview erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (Ausgabe 10.05.2023 – 11.06.2023 | 85)
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