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Sara Gostner
Veröffentlicht
am 28.04.2025
LebenFibromyalgie

„Ich bin keine Diagnose auf zwei Beinen“

Veröffentlicht
am 28.04.2025
Triggerwarnung: Suizidversuch. Wenn der Schmerz zum Alltag gehört: Valeria leidet an Fibromyalgie – einer chronische Erkrankung. Über den schwierigen Weg zur Diagnose und wie es sich anfühlt, nach außen gesund zu wirken.
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Valeria ist 16 Jahre alt, sie wirkt fröhlich und positiv. „Gerade deshalb ahnen viele nicht, welche Schmerzen ich jeden Tag erleide“, sagt sie. Ihre Worte lassen erkennen, dass sie sich häufig erklären muss. Der Grund dafür wird im weiteren Gespräch deutlich.

Die Jugendliche leidet an einer chronischen Schmerzerkrankung: Fibromyalgie, die Schätzungen zufolge etwa zwei Prozent der Weltbevölkerung betrifft. Valeria ist eine davon. „Stell di net so un“, oder „Du bisch holt gern a kloane Prinzessin, gell?“ Diese und viele weitere taktlose Kommentare habe sie sich im Laufe der Jahre schon anhören müssen. Vor allem gehe es ihr darum, Sichtbarkeit für Menschen mit chronischen Schmerzen zu schaffen und gleichzeitig einen Appell an die Gesellschaft zu richten: Nur weil man den Schmerz eines Menschen nicht sieht, heißt es noch lange nicht, dass er nicht da ist.

Der mühsame Weg zur Diagnose
Valeria ist erst dreizehn Jahre alt, als sie plötzlich starke Schmerzen im unteren Rücken verspürt. Nach einer MRT-Untersuchung im Krankenhaus ist schnell klar: Sie leidet an Wirbelgleiten. Zu diesem Zeitpunkt „nur“ Grad eins, bei Grad sechs – der schlimmsten Form – kann sich ein Wirbelkörper komplett vom Kreuzbein lösen. Sie wird nach Hause geschickt, mit Muskelaufbau, Physiotherapie und Infiltrationen werden die Schmerzen besser – sagen die Ärzte. Die Schmerzen werden allerdings schlimmer. Nach acht Monaten wieder der Gang ins Krankenhaus. „Plötzlich war das Wirbelgleiten schon bei Grad fünf, das war ein großer Schock für mich und meine Familie“, erzählt Valeria. Einige Monate und vier Schrauben zur Stabilisierung in ihrer Lendenwirbelsäule später, muss die damals 13-Jährige wieder laufen lernen. „Die Regeneration war mühsam und langwierig“, so Valeria. „Zur Schule konnte ich auch nicht mehr gehen, ich habe immer von zu Hause aus gelernt.“

Die Abschlussprüfung der Mittelschule habe sie liegend in der Turnhalle absolviert. „Meine Schmerzen wurden einfach nie besser, ich konnte teilweise kaum sprechen vor lauter Weh.“ Nach erneutem Aufenthalt im Bozner Krankenhaus und umfangreichem Check steht zum ersten Mal der Begriff „chronische Schmerzen“ im Raum. Die Ärzt:innen empfehlen ihr dringend eine Schmerztherapie, woraufhin sie ihren vierwöchigen Aufenthalt in einem Zentrum für Schmerztherapie in Garmisch antritt. Mit Gehhilfe. „Die Zeit im Zentrum hat mir gut getan, ich konnte Hoffnung schöpfen, fast schon zu viel. Mir wurde versichert, dass ich das Zentrum schmerzfrei verlassen werde.“

Ich fühlte mich, als hätte ich ständig meine Hände auf der heißen Herdplatte und konnte nichts dagegen tun.

Zurück zu Hause fällt Valeria in ein tiefes Loch. Denn – anders als versprochen – verlässt sie das Zentrum für Schmerztherapie nicht ohne Schmerzen. Ganz im Gegenteil. „Ich konnte einfach nicht mehr, nichts schien mir zu helfen“, sagt sie. In ihrer Verzweiflung fängt Valeria an, sich selbst zu verletzen. Obwohl sie guten Rückhalt von ihrer Familie erfährt, fühlt sie sich zunehmend allein gelassen und ihren Schmerzen vollständig ausgeliefert. Sie entwickelt Suizidgedanken. „Mein Leben war einfach nicht mehr lebenswert. Pläne für die Zukunft zu machen, erschien mir sinnlos, weil eh nichts half“, so die Jugendliche. „Ich fühlte mich, als hätte ich ständig meine Hände auf der heißen Herdplatte und konnte nichts dagegen tun.“

Eines Abends, als ihre Eltern abends ausgehen, fasst Valeria den Entschluss, sich das Leben zu nehmen – so groß ist ihre Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Traumatisiert von ihrem eigenen Zustand schluckt sie Schmerzmittel, wie viele weiß sie nicht mehr genau. Ihr Hund ist bei ihr und weicht ihr nicht von der Seite. Genau dieser Hund ist es, der dem Ausgang dieses Abends eine glückliche Wendung bringen sollte: Er sieht sie an und Valeria spürt ganz deutlich, dass sie eigentlich bleiben will. Sie will leben. Sie will aber nicht nur ständig überleben, sondern leben. „Ich war in Panik und wollte einfach keine Schmerzen mehr haben“, sagt sie. „Danach habe ich weinend meine Freundin angerufen und schließlich meiner Mama Bescheid gesagt.“

Valeria kommt in die geschlossene Psychiatrie in Meran. Die Zeit dort bedeutet für sie nichts als noch mehr Trauma. „Es war schrecklich dort, gegen meine Schmerzen bekam ich gar nichts. Meine Gehhilfe wurde mir weggenommen, genauso wie der Rollstuhl.“ Anstatt – in einer solch vulnerablen Lebenssituation – Feingefühl und Empathie vom Fachpersonal zu erfahren, stößt Valeria auf Lieblosigkeit und ruppigen Umgang. Nach zwei Wochen obligatorischem Diagnose-Aufenthalt in der Psychiatrie wird sie entlassen, mit dem nicht sehr überraschenden Ergebnis: Valeria leidet nicht an einer psychischen Erkrankung, sondern an einer depressiven Verstimmung aufgrund ihrer Schmerzen und Krankheitsgeschichte. „Das Fehlen an Initiative und Menschlichkeit in der Psychiatrie damals belastet mich bis heute sehr“, sagt die heute Sechzehnjährige. 

Valeria gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester.

Warum wurde Valeria nicht ernst genommen?
„Für sehr lange Zeit galten chronische Schmerzerkrankungen als eingebildete Krankheiten – diese Annahme muss aus den Köpfen der Menschen verschwinden“, erklärt Andreas Varesco, Geschäftsführer der Rheuma-Liga Südtirol. Zum Teil sei das eben auf die Komplexität der Diagnosefindung und auch auf das Verwechseln mit anderen Pathologien wie zum Beispiel Depressionen zurückzuführen. „Manchmal kann man bei rheumatischen Erkrankungen im MRT Entzündungswerte sehen, manchmal nicht“, so Varesco. Auch das führe bei manchen Ärzt:innen noch zu der Annahme, dass die Schmerzen „eingebildet“ sind. Depressive Verstimmungen würden sich eher oft zusätzlich zum körperlichen Leiden einstellen, für Varesco ist das nachvollziehbar: „Das ist ja wie die Frage vom Huhn und vom Ei. Was war zuerst da?“ Wenn jemand täglich starke Schmerzen hat, sei es für ihn nur logisch, dass es den Patient:innen auch psychisch irgendwann nicht mehr gut geht. So oder so sei der Zustand eines Menschen immer ernst zu nehmen. 

Weil sich bei der Untersuchung der betroffenen Körperteile keine organischen Ursachen für die Symptome feststellen lassen, ist der Weg zur Diagnose oft mühsam und die Behandlung komplex.

Dann endlich: eine Diagnose
„Im Januar 2024 habe ich zusätzlich Schmerzen, Rötungen und Schwellungen an den Gelenken bekommen“, sagt Valeria. Zunächst vermutet sie, dass die Medikamente die Ursache sein könnten. Eine Woche später ist sie wieder im Krankenhaus. Dieses Mal aber bei einem Rheumatologen. Er diagnostiziert Fibromyalgie, auch Weichteilrheuma genannt. Dabei handelt es sich um ein Schmerzsyndrom, das durch tiefe Muskelschmerzen in verschiedenen Körperregionen gekennzeichnet ist, meist in der Nähe von Gelenken und in Muskeln. Fast immer ist auch die Wirbelsäule betroffen, wie bei Valeria. Ganzkörperschmerzen, Erschöpfungszustände und Schlafstörungen sind nur einige der zahlreichen Symptome, unter denen Betroffene leiden können. Von etwa hundert Menschen erkranken zwei an Fibromyalgie, Frauen sechs bis sieben Mal häufiger als Männer. Weil sich bei der Untersuchung der betroffenen Körperteile (etwa mittels MRT oder Ultraschall) keine organischen Ursachen für die Symptome feststellen lassen, ist der Weg zur Diagnose oft mühsam und die Behandlung komplex. Die Betroffenen haben oft unzählige Stunden in vielen verschiedenen Wartezimmern hinter sich und häufig wird Fibromyalgie nur durch Ausschlussverfahren erkannt. 

Die Diagnose für Valeria: eine Erleichterung. „Ich war so froh, vom Rheumatologen wahr- und ernstgenommen zu werden.“ Zum ersten Mal hat sie das Gefühl, eine Perspektive aufgezeigt zu bekommen. Sie wird aufgeklärt über die Möglichkeiten, die sie hat. „Er sagte mir, dass das jetzt nun mal meine Diagnose wäre, aber ich meinen Weg finden würde, damit umzugehen. Diese rationale, aber doch feinfühlige Art hat mir sehr gut getan“, so Valeria.

Was hat Fibromyalgie mit Rheuma zu tun?
Ärzt:innen sprechen vom rheumatischen Formenkreis, in welchen die unterschiedlichsten Krankheiten fallen. Arthritis, Vaskulitis, Arthrose, Gicht, Borreliose, Tennisarm und eben auch Fibromyalgie sind einige der zahlreichen Diagnosen, die unter den rheumatischen Formenkreis fallen. So unterschiedlich sie auch sind, eine Gemeinsamkeit haben sie alle: chronische Schmerzen. Der Rheumatologe schlägt Valeria daher auch vor, sich bei der Rheuma-Liga Südtirol einzuschreiben, um einen Austausch mit anderen Betroffenen zu ermöglichen. 

Valeria feiert ihren Geburtstag im Krankenhaus.

Sisyphusarbeit 
Wie wichtig der Austausch zwischen Betroffenen ist, weiß auch Andreas Varesco. „Ein Netzwerk zu schaffen, damit Betroffene sich nicht alleine in ihrer Krankheit fühlen, hat für uns höchste Priorität”, sagt er. Dafür gibt es zahlreiche Angebote wie zum Beispiel Selbsthilfegruppen speziell für Fibromyalgie in Bozen, Brixen, Bruneck, Schlanders und Neumarkt, die von Psycholog:innen professionell begleitet werden. Die neueste Gruppe „Young Rheumatics“ wurde speziell für junge Erwachsene mit rheumatischen Erkrankungen im Alter von 16 bis 35 Jahren gegründet, um sie bei den ersten Schritten ins Erwachsenenalter zu begleiten. 

„Wir organisieren auch Selbsthilfegruppen für Angehörige in Bozen“, sagt Varesco. Denn auch für sie ist die Krankheit eines Familienmitglieds und der Umgang damit eine große Herausforderung.  Varesco ergänzt: „Seit mehreren Jahren gibt es auch eine Ticketbefreiung für Menschen mit chronischen Schmerzen. Das unterstützt sie bei den aufkommenden Arztkosten.“ Auf diese Weise würden die Erkrankungen auch mehr ins Bewusstsein der Leute gerückt. „Manchmal fühlt es sich wie eine Sisyphusarbeit an, aber wir haben ein gutes Netzwerk aufgebaut und können so auch gute Lobbyarbeit leisten“, sagt Varesco.

Für die Rheuma-Liga Südtirol ist es außerdem sehr wichtig, Hausärzt:innen fortzubilden, weil sie oft die erste Anlaufstelle für Betroffene sind. „Deshalb bieten wir gemeinsam mit der Südtiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin regelmäßig Fortbildungen für Basismediziner:innen an, und das Interesse ist sehr groß.” In Bruneck, Bozen, Schlanders und Meran gibt es außerdem rheumatologische Dienste mit Notfall-Ambulanz. Es tut sich also was.

Die beiden Schwestern versuchen immer das Beste aus der Situation zu machen.

Balance finden
Fibromyalgie ist bisher nicht heilbar, es steht somit die Symptomlinderung im Vordergrund. Die Therapien sind bei allen Patient:innen unterschiedlich. Eine medikamentöse Therapie alleine reicht in der Regel nicht, deshalb bedarf es häufig einer Ergänzung durch nicht medikamentöse Verfahren, wie zum Beispiel eine physikalische Therapie, Krankengymnastik, Schmerztherapie oder psychologische Beratung. Generell gilt es als hilfreich, ein gutes Gefühl für den eigenen Körper und die eigenen Grenzen zu haben, um im Alltag Achtsamkeit zu entwickeln. 

Bewegung, gesunde Ernährung, nicht zu viel Zucker, Ruhepausen einlegen, Stress-Management, kaum Alkohol, zu große Hitze meiden: All das sind Dinge, die Valeria bereits in ihren jungen Jahren berücksichtigen muss, damit eine gewisse Lebensqualität für sie überhaupt möglich ist. 

Ich möchte mit meiner Krankheit leben, nicht für sie.

Auch Muskelaufbau ist ein wichtiger Faktor. „Ich mache Fitness, damit meine gesunden Wirbel nicht zu gleiten beginnen.“ Es sei oft eine große Herausforderung, die Balance in ihrem Leben zu finden. Viel auf sich zu achten, sich aber trotzdem mal hier ein Konzert oder da einen Abend in der Disco mit ihren Freundinnen zu gönnen. „Ich möchte mit meiner Krankheit leben, nicht für sie“, so Valeria. „Ich muss halt immer abwägen: Ist es dieses Konzert jetzt wert, dass es mir dann vielleicht zwei bis drei Tage nicht so gut geht?“

Manchmal nimmt sie für ein bisschen Spaß und Leichtigkeit die Verschlechterung der Symptome in Kauf, aber so ganz frei und gelassen fühlt sie sich dabei nicht. „Meine Erkrankung schwirrt mir dann halt doch oft durch den Kopf und ich habe Angst davor, wie es mir am nächsten Tag gehen könnte.“

Viel Halt erfährt Valeria von ihrer Familie, ihrem Hund und vor allem ihrer kleinen Schwester.  „Vor ihr muss ich mich nie rechtfertigen. Sie nimmt mich so, wie ich bin. Für sie bin ich keine Diagnose auf zwei Beinen. Ich bin ich, Valeria eben.“ 

Hast du den Verdacht, selbst unter einer chronischen Schmerzerkrankung zu leiden?Die Rheuma-Liga Südtirol bietet Unterstützung:

Rheuma-Liga Südtirol VfG
Pillhof 25 | 39057 Frangart – Eppan
Tel.: +39 0471 979959

E-Mail: info@rheumaliga.it

Du hast Suizidgedanken?

Wende dich an das Psychologische Krisentelefon 24/7:
Grüne Nummer 800 101 800
https://www.suizid-praevention.it/de/netzwerk-suizidpraevention-1231.html

Bei einem Notfall: 112

Caritas Telefonseelsorge: 0471 052 052

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