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Dass nach wie vor hauptsächlich Männer im Geschichtsunterricht eine zentrale Rolle einnehmen, mag mitunter an der Jahrtausende alten Tradition und Reproduktion einer Geschichtsschreibung liegen, in der Männer darüber entschieden, was niedergeschrieben und woran erinnert wurde. Die Heldinnen der Geschichte wiederzuentdecken und zu würdigen, ist daher gleichermaßen notwendig wie spannend.
Mozart hatte etwa eine große Schwester, mit der er als Kind gemeinsam konzertierte. Sie galt gleichsam als musikalisches Wunderkind wie ihr Bruder und alle, die ihrem Spiel lauschten, waren begeistert. Kennen Sie ihren Namen? Eben. Während Wolfgang Amadeus von seinem Vater gefördert wurde und Weltruhm erlangte, wurde seine Schwester Maria Anna „gut verheiratet“. Sie spielte weiterhin Klavier und war eine geschätzte Lehrerin. Ihren Namen kennt heute kaum jemand. Das hängt einerseits mit der patriarchalen Gesellschaftsstruktur jener Zeit zusammen, in der für Frauen eine Karriere schlichtweg nicht vorgesehen war. Andererseits hat es auch damit zu tun, wer wahrgenommen und an wen erinnert wird. Um jene sichtbar zu machen, die Bedeutendes geleistet, es aber nicht ins Geschichtsbuch geschafft haben, bedarf es einer Dekolonisation des Wissens. Von Kolonisation ist nicht nur die Rede, wenn es um nationale Gebietserweiterungen und Unterdrückung von Völkern geht. Eine viel subtilere Art der Kolonisation findet statt, wenn Themen unbehandelt bleiben oder Wissen selektiv vermittelt wird. Bevor es zu einer Zeitreise durch die Epochen geht, lohnt sich ein Blick in das Buch der Bücher:
Frauen in der Bibel
Die biblischen Völker lebten in patriarchal organisierten Gesellschaftsstrukturen. Dennoch ist von manch selbstbestimmter Frau die Rede, die entgegen der vorherrschenden Rollenbilder eine aktive Rolle einnahm: Judith setzte ihr Leben aufs Spiel und rettete mit ihrem Mut, Charme und ihrer Redegewandtheit ein ganzes Volk, indem sie erfolgreich Kriegsverhandlungen führte. Debora war Richterin, zu der Menschen kamen, um sich Rat zu holen und Recht sprechen zu lassen. Beide Frauen übernahmen erfolgreich Aufgaben, die eigentlich Männern zugedacht waren. Starke Frauen finden sich noch an diversen anderen Stellen der Bibel, nur werden sie selten rezipiert. Dieses Schicksal teilen sie mit Frauen von der Antike bis heute.
Frauen in der Antike leisteten Bedeutendes.
Visionärinnen der Antike
Erste Wurzeln eines abwertenden Frauenbildes, das Westeuropa seit Jahrtausenden prägt und sich durch die Kolonisation global verbreitete, lassen sich in der Antike finden. Namhafte Philosophen stellten sich die Frage, ob es eine Differenzierung von Mann und Frau gäbe. Platon beteuerte, dass Frauen eine Ausbildung erhalten sollten. Der Staat würde sonst nur seinen rechten Arm trainieren, was ihm unsinnig erschien. Sein Schüler Aristoteles war hingegen der Meinung, dass Frauen mit einem unvollständigen Mann vergleichbar seien. Offensichtlich setzte sich letzteres Frauenbild durch. Auch wenn die männliche Geschichtsschreibung dies nur spärlich dokumentiert: Frauen in der Antike leisteten Bedeutendes. Zu ihnen zählen etwa die griechische Dichterin Sappho (7. Jh.v.Ch), die römische Dichterin Sulpicia (1.Jh.v.Chr.), deren Gedichte als einzig erhaltene lateinische Lyrik einer Frau gelten, oder die griechische Mathematikerin, Philosophin und Astronomin Hypatia (4. Jh.). Im Mittelalter griff Thomas von Aquin das abwertende Frauenbild auf und untermauerte es mit Passagen aus der Bibel, ohne die dort beschriebenen starken Frauen oder die Vordenkerinnen seiner eignen Epoche zu berücksichtigen.
Denkerinnen des Mittelalters
Bildung war im entbehrungsreichen Mittelalter nur wenigen vorenthalten, vor allem Frauen waren davon ausgeschlossen. Eine kleine privilegierte Schicht erhielt jedoch Zugang: Töchter vornehmer Familien und Ordensfrauen. Im Vergleich zu Mönchsschulen wurden in Frauenklöstern zwar weniger Fächer unterrichtet, doch schien Bildung der Schlüssel dazu, um aus einzelnen Frauen selbstbewusste Individuen zu machen. Zwei mittelalterliche Klosterfrauen brachten es zu besonderem Ruhm: Hrotsvit von Gandersheim (10.Jh.) und Hildegard von Bingen (12. Jh.). Hrotsvit gilt als erste deutsche Dichterin und verfasste auch geistliche Schriften. Hildegard von Bingen hingegen war Dichterin, Pionierin der Naturheilkunde, Ordensgründerin und Universalgelehrte. Nur durch eine geschickte Gratwanderung konnte sie verhindern, von argwöhnischen männlichen Zeitgenossen der Hexerei bezichtigt zu werden.
Auch ihr politisches Engagement für Frieden und Freiheit ging in die Geschichte ein.
Wegweisende Malerinnen
Als eine Wegbereiterin der Renaissance gilt die italienische Malerin Sofinisba Anguissola (1535-1625). Ihr Bild „Drei Schwestern beim Schachspiel“ zeigt als erstes Bild der italienischen Malerei eine Alltagsszene. Die erste Frau, die an der renommierten Kunstakademie in Florenz aufgenommen wurde, war die Barockmalerin Artemisia Gentileschi (1593-1653). Sie war fasziniert von starken biblischen Frauen wie Judith, die sie in ihren Werken in Szene setzte. Zur bekanntesten modernen Malerin wurde die Mexikanerin Frida Kahlo (1907- 1954). Auch ihr politisches Engagement für Frieden und Freiheit ging in die Geschichte ein. Während diese Frauen auf ihren Leinwänden Neues wagten, brachen andere auf, um Abenteuer zu erleben.
Mutige Entdeckerinnen
Die Französin Jeanne Baret (1740-1807) umsegelte als erste Frau die Welt. Dafür musste sie sich als Mann verkleiden. Auch andere Frauen hatten wortwörtlich Hosen an: Die Deutsche Elly Beinhorn (1907-2007) war eine gefeierte Flugpionierin und stellte gleich mehrere Langstreckenrekorde auf. Nur wenige Jahre zuvor hatte eine Europäerin mit ihren Reisen in Asien Berühmtheit erlangt: Alexandra David–Néel (1868-1969). Angetrieben vom Vorsatz aufzuzeigen, was der Wille einer Frau bewirken kann, gelangte sie als erste weiße Frau bis in die verbotene tibetische Hauptstadt Lhasa. Ihre Erlebnisse hielt sie in Reisetagebüchern fest. Auch weitere Frauen wurden durch ihre Schriften zur Inspirationsquelle, um bestehende Normen zu hinterfragen.
Große Schriftstellerinnen
Jane Austen (1775-1817) zählt zu den weltweit populärsten Schriftstellerinnen. Im Mittelpunkt ihrer Literatur stehen junge Frauen, die schwierige Phasen durchleben und schlussendlich den „richtigen“ Mann heiraten, der ihnen eine angemessene Stellung in der Gesellschaft einbringt. Sie war eine genaue Beobachterin, die gesellschaftliche Normen aufzeigte, diese auf ihre Art kritisierte und gilt als frühe Vertreterin der Frauenbewegung. Viel deutlicher in ihrer Wortwahl wurden Autorinnen wie Virginia Woolf (1882-1941) und Simone de Beauvoir (1908-1986), die mit ihren Schriften die bestehenden gesellschaftlichen Normen ins Wanken brachten und einen Grundstein der modernen Geschlechterforschung legten. Frauen waren aber auch in anderen Bereichen Vorreiterinnen ihres Faches.
Wissenschaftlerinnen
Bis heute hält sich mitunter das Klischee, dass Frauen weniger für sogenannte MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) zu begeistern oder geeignet seien. Namhafte Frauen beweisen das Gegenteil: die deutsche Astronomin und Vermesserin des Weltalls Caroline Herschel (1750- 1848), die Physikpionierin und zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie (1867-1934) oder die Kernphysikerin Lise Meitner (1878-1968). Die Mathematikerin Emmy Noether (1882-1935) revolutionierte Algebra und wiederum eine Frau war es, die das erste Programm für eine informationsverarbeitende Maschine schrieb: Ada Lovelace (1815-1852).
Der Frauenanteil bei MINT-Fächern ist weiterhin gering.
Women of Color
Abgesehen davon, dass Frauen in der Geschichtsschreibung insgesamt wenig Beachtung finden, gibt es Frauen, die noch seltener beachtet werden: Women of Color, also jene Frauen, die Diskriminierung und Ausgrenzung auch aufgrund von Rassismus erfahren. Schon immer haben Schwarze Frauen die Geschichte mitgeprägt, gekämpft, entdeckt, geschrieben, erschaffen, geheilt und beeinflusst – und das angesichts unvorstellbarer Widerstände und Unterdrückung. Nzinga Mbande regierte 1624 bis 1663 über die Königreiche Ndongo und Matamba im alleinerziehende Mutter morgens vor ihrem Lohnarbeitsjob. Ihre visionären Werke brachten ihr 1993 den Literaturnobelpreis ein. Aung San Suu Kyi (*1945) wurde zum Sinnbild einer Freiheitskämpferin gegen soziale Ungerechtigkeit. Sie setzte sich für eine gewaltfreie Demokratisierung ihrer Heimat Myanmar ein und wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die erste arabische Frau, die den Friedensnobelpreis erhielt, ist die Journalistin Tawakkol Karman (*1979). Sie kämpft in ihrer Heimat Jemen unermüdlich für Pressefreiheit und Rechte der Frauen. Zarifa Ghafari (*1992) wurde mit 26 Jahren zur jüngsten afghanischen Bürgermeisterin. Während ihrer Amtszeit engagierte sie sich für Frauenrechte und musste nach der erneuten Machtergreifung der Taliban ins Exil fliehen. Diese Liste ließe sich noch lange fortführen.
Sie führte jene Berechnungen durch, die die Mondlandung ermöglichten.
Schlüsselrolle Bildung
Insgesamt lassen sich verschiedene Faktoren beobachten, die Frauen Erfolge in patriarchalisch geprägten Strukturen ermöglichen. Dazu zählen der soziale Status, das Privileg, von einem Mann gefördert zu werden, und vor allem Bildung. Noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurden Frauen in Europa als naiv und weniger gebildet erachtet – selbst jene, die an Universitäten studierten. So wird angenommen, dass sich die Studentin und Aktivistin Sophie Scholl (1921-1943) während der Verhöre durch die NS hätte herausreden können, hätte sie sich lediglich auf ihre Naivität und Unwissenheit als Frau berufen. Stattdessen hielt sie daran fest, die Flugblätter willentlich und aus vollster Überzeugung verbreitet zu haben und wurde zum Tode verurteilt. Noch heute wehren sich Frauen gegen unterdrückende Regime und setzen sich für gerechtere Bildungschancen ein. So etwa Malala Yousafzai (*1997), die sich in ihrer Heimat Pakistan engagierte und fast mit ihrem Leben dafür bezahlte. Die Menschheitsgeschichte ist durchwoben von erfolgreichen und wagemutigen Frauen, die mutig ihren individuellen Weg gehen. Couragiert, clever, ambitioniert und leidenschaftlich trotzen sie vorherrschenden Rollenklischees und werden in Bereichen aktiv, die als männliche Domänen gelten. Sie schreiben Geschichte, gestalten ihre Epoche aktiv mit und ihre Erfolge haben uns alle auf die eine oder andere Weise geprägt. Sie sind Pionierinnen und Vorbilder, denen gleich wie ihren männlichen Zeitgenossen gebührt, dass man sich ihrer erinnert.
Zum Titel dieser Geschichte: Herstory ist eine Wortkreation, die durch den Austausch des männlichen Personalpronomens „His“ im englischen Wort für Geschichte – History – mit dem weiblichen Pendant „Her“ die Leistungen von Frauen in der Geschichte thematisiert. Ausgehend vom Weltfrauentag am 8. März wird in den USA seit 1987 der „Women’s History Month“ begangen – der Monat der Frauengeschichte. Die Initiative breitete sich weltweit aus und seitdem machen Gruppen und Organisationen jedes Jahr im März durch diverse Veranstaltungen und Kampagnen vermehrt auf die Bedeutung von Frauen und ihren Errungenschaften für die Menschheitsgeschichte und die heutige Gesellschaft aufmerksam.
Text: Marlene Erschbamer
Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (Ausgabe 10.03.2022–10.04.2022, Nr. 73)
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