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Julia Tappeiner
Veröffentlicht
am 27.09.2021
LeuteJudith Hafner im Porträt

„Es regnet Möglichkeiten“

Veröffentlicht
am 27.09.2021
Judith Hafner will die Wende vom Kapitalismus zur Nachhaltigkeit, die sie selbst durchlebte, im Land anstoßen: „Das geht nur über etwas, das zutiefst inspiriert.“
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Judith Hafner 3
Trinkwasserstelle in Meki, Äthiopien

Als Judith Hafner das chinesische Dorf besucht, in dem die Weihnachtsengel bemalt werden, die sie für die „99-Cent“-Filialen Italiens einkauft, ist sie schockiert: Licht gibt es keines, einen Stundenlohn für die Arbeiterinnen ebenso wenig. Dafür ein Haufen strahlender Gesichter, gemalt auf die glitzernden Engelsfiguren.

Sechs Jahre arbeitete die Boznerin im Einkauf der italienischen Franchise-Kette, reiste jährlich nach China auf Messen und blendete die Kosten für Mensch und Umwelt hinter der Billigware aus. Heute gehört die 49-Jährige zu den Protagonisten, die Südtirol in ein nachhaltiges Zeitalter führen wollen und reist als Mitarbeiterin der Caritas jedes Jahr nach Afrika, begleitet Hilfsprojekte vor Ort. Die vergangene Arbeit dient ihr als Vorteil, sagt sie: „Du wirst ganz anders wahrgenommen, wenn du aus der Wirtschaft kommst, als wenn du immer schon einfach nur die Welt retten wolltest.“

Wenn Judith spricht, betont sie jede Silbe mit Nachdruck, und zeigt damit: Ihr ist es todernst mit der Wende. „Uns muss was anderes wichtiger werden als Geld“, sagt sie und hebt das Wort „muss“ mit einer Pause hervor.

Ich habe gesehen, wie viele auch diese Sehnsucht haben, dass wir noch die Kurve kratzen. Nur wissen sie nicht, wie oder mit wem.

Die Blumen in Judiths Garten – sie nennt ihn ihren „Kraftort“ – werden von Bienen umschwirrt; das Pferd des Nachbarn blickt neugierig herüber. Judith kommt erfrischt aus ihrem Schlafzimmer. Nach dem Mittagessen in ihrem Garten hat sie sich kurz für ein Schläfchen zurückgezogen. Sie will kräftig und positiv in das Gespräch gehen, nicht müde und zwanghaft.

„Wir machen so viel falsch, weil wir uns in einer Grundenergie des Mangels und der Hilflosigkeit befinden“, sagt Judith. Nachrichten vermittelten uns jeden Tag, die Welt sei schlimm und wir hätten es nicht in der Hand, sie zu ändern. Aus dieser Einstellung heraus leistet niemand einen positiven Beitrag, sondern schiebt beiseite, was weh tut, wie Judith den Anblick der lächelnden Weihnachtsengel im Kontrast zum prekären Arbeitsumfeld.

Gerade das will Judith in der Gesellschaft ändern: Weg von der Hilflosigkeit, hin zur positiven Motivation. “Wenn wir diese Wende wollen, erreichen wir sie nur über etwas, das zutiefst inspiriert. Nicht weil wir glauben, wir müssen“, ist sie überzeugt.

Um ebenjene intrinsische Kraft in Südtirol zu entfalten, fährt sie als Koordinatorin des „Südtiroler Netzwerk für Nachhaltigkeit“ von einer Ecke des Landes zur anderen, bringt Aktivistinnen mit Experten, Gemeindepolitiker mit Unternehmerinnen zusammen und vernetzt in „Klimakreisen“ oder „Dialogen“ Bürgerinnen mit Bürgern, um gemeinsam über Lösungen zu sprechen und Initiativen anzustoßen.

Wie Judith selbst aus der „Energie der Hilflosigkeit“ herausfand? Als sie ihre Arbeit im herkömmlichen Handel aufgab, und in die Entwicklungshilfe ging.

Judith stößt einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie erzählt von den Kindern in Äthiopien, die durch ein Hilfsprojekt der Caritas jetzt sauberes Trinkwasser haben, und von der Kraft, die diese Erfahrung in ihr freisetzte. Sie erinnert sich daran, wie diese Kinder zuvor wegen Hunger und Durst auf der Schulbank umgekippt waren.

Seit sie weiß, dass dort Kinder gleichzeitig Diabetes haben, weil Softdrinks zu billigen Preisen angeboten werden, während es für Wasser Hilfsgelder bedarf, kauft sie keine Coca-Cola oder Fanta mehr. Dieser Wandel sei nicht aus Zwang passiert, sondern weil sie mit der „Energie des Machbaren“ in Kontakt getreten sei. Sie weiß: Wenn weniger Menschen Softdrinks kaufen, fehlt den Konzernen der nötige Gewinn, um diese zu Billigpreisen im ärmeren Süden zu verkaufen.

“Mensch, bist du dir bewusst, wie viel ihr bei euch sagen könnt, ohne dass euch was passiert?”

Wer mit Judith spricht, weiß: Zu jeder ihrer Thesen kann sie eine persönliche Anekdote erzählen. Wenn Judith von dem spricht, was schief läuft in der Welt, schmückt sie ihre Meinung nicht nur mit hängengebliebenen Worten aus einem Zeitungsartikel. Kapitalismus, Ausbeutung, globale Ungleichheit sind für die Entwicklungshelferin keine abstrakte Vorahnung, die – wie für die meisten– irgendwo hinter lächelnden Weihnachtsengeln verborgen bleibt.

„Ich werde nie vergessen, wie ein kongolesischer Kollege mir sagte: Mensch, bist du dir bewusst, wie viel ihr bei euch sagen könnt, ohne dass euch was passiert? Ihr wisst, dass es Kinder sind, die bei uns die Rohstoffe aus der Erde holen. Warum sagt ihr dann nichts?“ zitiert Judith aus ihrer Erinnerung, wenn es in einem Klimakreis darum geht, wie direkte Demokratie und Partizipation in den Gemeinden gefördert werden kann.

“Als ich auf Reisen war, wurde mir überhaupt erst bewusst, dass das, was wir hier als Normalität bezeichnen, der absolute Luxus ist“, erzählt die Boznerin. Diese Erfahrungen –sowohl ernüchternder Realitäten außerhalb von Südtirol als auch positive Beispiele – sind ein Geschenk, das wenige so mitbringen können, wie Judith.

Judith Hafner im Gespräch.

Hinaus in die Welt hat es Judith anfangs aus anderen Gründen getrieben: Nach ihrem Studium in Französisch und Italienisch verliebt sie sich in einen Franzosen, und zieht mit ihrem kleinen Sohn in die Heimatstadt ihres neuen Partners. Fünf Jahre lebt sie in Frankreich, bis sie einen Norweger trifft. Die Liebe zu ihm zieht sie diesmal nach Südafrika, wo er arbeitet. Judith bleibt fünf Jahre dort, lernt chinesisch. Ihre Sprachkenntnisse führen sie schließlich zur Arbeit als Einkäuferin der 99 Cent-Shops nach China. “Ich bin immer mit einer Erleichterung in den Flieger gestiegen und habe gedacht ‘So, die Welt gehört mir und jetzt bin ich mal einfach nur ich’.” Nach Südtirol zurückkehren war für Judith keine Option. Dann kommt sie in die Produktionsstätte der Weihnachtsengel und erlebt den ersten Schlüsselmoment ihrer Bewusstseinsänderung.

Einen zweiten Schlüsselmoment erlebt Judith wieder mit dem chinesischen Lieferanten, der sie damals zu der Produktionsstätte der Weihnachtsengel geführt hatte. Diesmal war er in Europa zu Besuch und sah in einem Deko-Laden, zu welchem Preis die Engel verkauft wurden, die er in China produzierte. “Er war schockiert, als er merkte: die Hersteller bekommen keine 5 Prozent davon“, erzählt Judith heute, 15 Jahre später.

Du wirst ganz anders wahrgenommen, wenn du aus der Wirtschaft kommst, als wenn du immer schon einfach nur die Welt retten wolltest.

Aus ihren vergangenen Lehren mixt sich die Koordinatorin des Netzwerks für Nachhaltigkeit ihren eigenen Ansatz: Veränderung auf unterster Ebene umzusetzen, aber trotzdem global anzugehen. “Für mich ist Nachhaltigkeit das Bewusstsein, dass wir einander brauchen, wenn wir in etwas Neues hineinwachsen wollen.” Dazu gehöre die gesamte Menschheit, die Judith mit einem Gesamtkörper vergleicht. Wenn wir nur auf unsere Realität schauten und dafür die Auswirkungen in den Ländern des globalen Süden ignorieren, sei das so, als würden wir sagen; “Vom Handgelenk bis zur Fingerspitze geht’s mir gut, der Rest soll schauen, wie er tut.”

Judith spricht oft in poetischen Bildern. Und findet sie mit einer Leichtigkeit, als wäre der Alltag ein Apfelbaum, an dem Metaphern wie Früchte hängen, die sie einfach abzupft. „Judith war immer schon eine Schriftstellerin“, sagt ihre Mutter stolz über die Tochter, die eine Schulklasse übersprungen hat.

Über das Netzwerk für Nachhaltigkeit sagt Judith: “Uns Einzeltropfen muss bewusst werden: Es regnet Möglichkeiten! Auch wenn die ein oder andere versickert – nur gemeinsam kann ein positiver Druck entstehen, um systematisch was zu verändern.” Sie hofft darauf im Netzwerk: Dass einzelne Initiativen zu größeren, langfristigeren Projekten werden, um dann von oben Gehör zu finden, einen Unterschied zu machen.

In Südtirol sieht sie ein „unheimliches Potential“ für einen Wandel. So viele Menschen lebten in der Schlichtheit, engagierten sich im Bereich Nachhaltigkeit. Und jeder wisse, im Herzen, was das sei, diese Nachhaltigkeit. “Ich habe gesehen, wie viele auch diese Sehnsucht haben, dass wir noch die Kurve kratzen. Nur wissen sie nicht, wie oder mit wem”, sagt Judith.

Solche Leute hätten keine Entscheidungsmacht. Gerade deshalb sei ihre Sehnsucht, diese Menschen miteinander zu verbinden, sie zu ermächtigen. Dafür kämpft sie im Netzwerk.

Als einen „Kampf“ will sie es aber nicht sehen. Dafür sei das Leben zu kurz: “Ich will etwas, wo ich das Gefühl habe, wir sind gemeinsam an etwas dran, das Sinn macht. Alles andere liegt nicht in meiner Hand.”

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