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Aus den Töpfen stieg Dampf auf, die Kellner und der Chef riefen nach gefüllten Tellern. Mehr als 70 Gäste warteten auf ihr Essen. Heiß und hektisch ging es am ersten Augusttag 2006 her. Als Chefkoch war Werner Treibenreif fordernd und gefürchtet, Mittelmaß war nie sein Ding und am Ritten Hochsaison. Plötzlich fiel er um, einfach so. Seine Beine hatten ausgesetzt. Er schlug mit dem Gesicht auf den Fliesen auf, aufstehen war unmöglich.
Die Wangenknochen zucken, während der zweifache Vater das erzählt. Seine Hände sind bandagiert: Sie sollen so lange wie möglich beweglich bleiben. Beim Gehen benutzt er Krücken, beim Sitzen wechselt er häufig Position, dann legt er sich auf den Liegestuhl. Sechs Mal ist der Mann, der Ende Juli 50 Jahre alt wird, an der Wirbelsäule operiert, sechs Mal dachte er, danach würde es wieder werden. Heute weiß er: Es wird nie mehr wie früher. Vermutlich hat Rheuma die Schäden an der Wirbelsäule ausgelöst, obwohl die Entzündungskrankheit erst Jahre nach der ersten Operation erkannt wurde. Mit Rheuma hat er umgehen gelernt. Die größte Kraft kostet Werner Treibenreif CFS. Die Autoimmunerkrankung Chronic fatigue syndrome ist ein chronisches Erschöpfungssyndrom. Was es auslöst, ist unbekannt. Der Rittner Koch ist der erste Südtiroler Patient mit dieser Diagnose. Bereits zur Jahrtausendwende hatte er häufig Rückenschmerzen, Sehnen- und Schleimbeutelentzündungen. Er suchte Ärzte auf und nahm Schmerzmittel.
Werner Treibenreif hat in renommierten Häusern gearbeitet, wollte es weit bringen. „Bei dieser Arbeit musst du funktionieren“, sagt er. Öfters stand er fiebrig in der Küche, mehrere Wochen durchzuarbeiten war in den Sommermonaten üblich: Bis spätabends formte er Butterfiguren für Buffets, tüftelte an Menüs und Rezepten, bei Tag hieß es abarbeiten. Ab dem Frühjahr 2006 habe er sich nur mehr durch die Arbeit gemogelt, sagt er rückblickend. Ständig müde, seien ihm immer wieder Messer und Teller aus den Händen gefallen und beim Gemüseschwenken Pfannen entglitten. Ende Juli 2006 litt er zwei Wochen unter heftigen Rückenschmerzen, in den Tagen vor dem Zusammenbruch war er eigenartigerweise schmerzfrei. An jenem Morgen jedoch schleppte er sich schleifenden Gangs ins Bad. Nach der Essensausgabe zu Mittag brachte er Lachs zum Metzger und legte sich dann daheim auf die Couch. Das Aufstehen zwei Stunden später war noch mühsamer als in den Wochen zuvor, auch ein doppelter Espresso im Restaurant brachte keinen Auftrieb.
„Du schläfst erschöpft ein und wachst erschöpft auf.“
Eine Operation und viele Wochen später kehrte Werner Treibenreif zwar an die Arbeit zurück, aber die Müdigkeit ließ ihn nie mehr los. Wer von CFS betroffen ist, findet durch Schlaf keine Erholung: „Du schläfst erschöpft ein und wachst erschöpft auf“, erklärt der 50-Jährige. Das Schlimmste war die Nicht-Diagnose: Zehn Jahre unterschwellige Vorwürfe und laut ausgesprochene Anschuldigungen zehrten an ihm. Einbildung wurde dem Kranken nachgesagt, Verwandte und Bekannte forderten ihn zu Selbstbeherrschung auf. Ein Neurologe schickte ihn mit dem Auftrag heim, nur ja viel Kamillentee zu trinken. Als träume er einen bösen Traum, so kam es Werner Treibenreif vor. Der Albtraum hörte nicht auf. Nach einem längeren Aufenthalt an der in der Innsbrucker Uniklinik wurde er mit der Diagnose Burnout entlassen. Er nahm die Psychopharmaka nicht: „Mein Gefühl sagte mir, da ist was anderes.“ Nach vier Jahren Herumdoktern hatte er genug von Ärzten und immer neuen Vermutungen. Einen letzten Versuch solle er noch wagen, bat ihn seine Frau Monika. Sie hatte in Telfs Dr. Norbert Mair ausfindig gemacht, einen erfahrenen Wirbelsäulenspezialisten. Dieser bestätigte nach einer Untersuchung, dass etwas Schleichendes da sei, konnte es aber nicht spezifizieren. Zum ersten Mal fühlte sich der Patient ernstgenommen. Den meisten Ärzten in Südtirol sei CFS bis heute unbekannt, hat er festgestellt. Seit Kurzem gibt es amerikanische Tests, die das Erschöpfungssyndrom anhand von Viren nachweisen können. Werner Treibenreif kann sich an einen Einkauf für die schulpflichtigen Kinder im Herbst 2010 erinnern. Er ging neben seiner Frau durch Bozen. Nach jedem Verlassen eines Geschäfts war sie ihm ein paar Schritte voraus. Warum sie nicht neben ihm bliebe, rief er ihr hinterher, ob sie ihm davonlaufen wolle, witzelte er. Dass sein Schritt immer schleppender wurde, wollte er nicht wahrhaben.
Gehen wurde mit den Jahren schwieriger, seine Zehen verkrampften sich, er wird sie irgendwann einsteifen lassen müssen. Solange wie möglich will er sich auf Krücken halten, auswärts nimmt er sicherheitshalber den Rollstuhl mit. Training und Muskelaufbau funktionieren bei ihm nicht: Je länger er geht, umso erschöpfter wird er und umso langsamer erholt er sich. Es ist, als ob plötzlich der Lichtschalter umgelegt würde, sagt der Rittner, wie wenn ein Handy plötzlich auf null Prozent Energie falle. „Dann probiere wer zu telefonieren“, flachst er. Von einem auf den anderen Moment gehen die einfachsten Dinge dann nicht mehr: Er stürzt zu Boden, kann nicht mehr schlucken, Augenlider und Mundwinkel hängen runter, die Afterschließmuskeln beherrschen den Stuhl nicht mehr, die Blasenentleerung ist blockiert. Müdigkeit nach anstrengender Arbeit kenne jeder Mensch, sagt der Koch, aber solch plötzliche Aussetzer seien nicht normal. Das dauernde Müdegefühl belastet ihn. Manchmal bleibt er mitten im Gedanken stecken und sucht nach Wörtern. Wortfindungsstörungen gehören zum Krankheitsbild dazu. Er hat sich Sätze zurechtgelegt, um peinliche Situationen zu überspielen: „Es wird nie langweilig bei uns“ sagt er und grinst schief.
Als Chefkoch hat Werner Treibenreif gut verdient, nur deshalb konnte er sich bei drei Operationen an der Wirbelsäule den Privatarzt leisten. Hätte er wie früher weiterarbeiten können, wäre das Abzahlen machbar gewesen. So ist es schwierig. Die Invalidenrente reicht nicht. Nach der Zeit im Restaurant arbeitete er in Brixen einige Zeit mit psychisch und körperlich beeinträchtigten Menschen in einer Sozialgenossenschaft und bot Caterings an. Solange er problemlos gehen konnte, waren zwar Aufträge da, aber sie setzten den Koch danach jedes Mal außer Gefecht, auch mehrere Tage lang. Sein Körper und die Muskeln machten den Druck nicht mit. Er gab auf. Mit der Kraft haushalten lernen sei seine einzige Chance, sagten ihm Therapeuten.
„Jeder muss seinen Umgang mit der Krankheit finden.“
Erst ein mehrwöchiger Aufenthalt im Friedrich-Beyern-Institut in München im Winter 2016/17 und eine Muskelbiopsie brachten Licht in seine Müdigkeit. Als hätte jemand Steine aus seinem Buckelkorb entnommen, so empfand er die Diagnose CFS. Obwohl die Krankheit niederschmetternd und Heilung bis heute unmöglich ist: Sein Suchen hatte zumindest ein Ende. Aus Dokumentationen und Büchern erfuhr er, dass sich die Stärkegrade von CFS bei den Patienten unterscheiden, dass ähnliche Schübe wie bei Multiple Sklerose zu erwarten sind. Die Forschung steckt noch in den Kinderschuhen und basiert weltweit auf Spenden. Im Ausland sind auch Ärzte und Sportler von CFS betroffen. Aufgrund der Unbekanntheit der Krankheit kämpfen sie ebenfalls mit Irritationen. „Wenn ich selbst nicht weiß, was ich habe, wie kann ich von anderen Verständnis für meine ständige Kraftlosigkeit erwarten?“: Werner Treibenreif ist trotz erlittener Beleidigungen keinem mehr böse. „Jeder muss seinen Umgang mit der Krankheit finden“, sagt er. Bei anderen hat er früher auch oft vorschnell geurteilt. CFS hat ihn Achtsamkeit gelehrt, Hinschauen und Hinhören. Er ist dankbar für die bedingungslose Unterstützung seiner Frau und seiner inzwischen erwachsenen Söhne, für Besuche von Freunden oder wenn sie ihn zu Hockeyspielen begleiten: Im Jubel der Fangemeinde wähnt er sich im früheren Leben. Der diplomierte Diätkoch hat seine Ernährung umgestellt, wegen verschiedener Medikamente Zähne verloren und Verdauungsprobleme bekommen. Er hat Alternativen auf Naturbasis gesucht und sich mit Kinesiologie befasst. Wasser liebt er. Wenn der Schmerz unerträglich wird, duscht er kalt. In der Duschkabine hat er eine Halterung und eine Sitzgelegenheit montiert. Noch lieber schwimmt er in kalten Gewässern. Nahe seiner Wohnung ist ein kleiner See, doch die Stiegen vor seinem Haus in Unterinn werden immer mehr zur Barriere.
„Weinen reinigt die Seele“, sagt Werner Treibenreif. Wenn er mit dem Schicksal hadert, zieht er sich in sein Zimmer zurück und solange er es noch schafft, mit dem Auto in die Berge. Gerne reist er mit Ulli, den er bei der Arbeit in der Sozialgenossenschaft kennengelernt hat. Einer ist seit drei Jahren immer dabei: Jimmy, der Golden Retriever. Sein jüngerer Sohn hat dem Vater den Hund mit dem ersten selbstverdienten Geld gekauft. Jimmy kennt die Bedürfnisse seines Herrchens, bringt die Schuhe, trägt die Tasche, holt die Krücken, zieht ihn samt Tribike und Rollstuhl zum Auto zurück und hat ihm das Leben gerettet: Als Werner Treibenreif beim wilden Campen im Auto schlief, ging eine Schlammlawine ab. Hätte Jimmy den Schlafenden nicht geweckt, hätte er sich und das Auto nicht mehr in Sicherheit bringen können. Der Hund spürt, was den Kranken umtreibt: Derzeit plagt ihn blitzender Schmerz vom Ischiasnerv in das linke Bein hinunter. Achtsam fährt Jimmy mit seiner Pratze an dem Bein auf und ab. Wenn Werner Treibenreif des Hundes Ansicht nach zu lange auf der Couch verbringt, zupft der Vierbeiner solange an seiner Hose oder am Ärmel, bis er aufsteht und mit ihm ins Freie geht.
Seinen letzten starken Krankheitsschub hat Werner Treibenreif im vergangenen Winter durchlebt. Mehrere Wochen verbrachte er in der Waldburg-Zeil Klinik in Oberammergau. Die Sorge um seine Familie ist seither gewachsen. Irgendwann wird er ganz ans Bett gefesselt sein. Dann will er ins Pflegeheim, seiner Frau und den Buben das Leben nicht zusätzlich erschweren. Davor aber kümmert er sich so gut wie möglich um den Haushalt, kocht, spült, hängt die Wäsche auf. „Mein Kopf will noch viel“, sagt er. Was der Körper schafft, wird er erfahren.
Bei seinen Klinikaufenthalten hat Werner Treibenreif Menschen kennengelernt, die auch krankheitsbedingt aus dem Hamsterrad des Leistens und Konkurrierens ausgetreten sind. Er baut an einem Netzwerk „Kranke helfen Kranken“, besucht Menschen im Altersheim, spricht ihnen Trost zu, hat Sterbende begleitet. Mit 15 Jahren lag er schon einmal dem Tod näher als dem Leben am Boden. Ein Bienenstich hatte sein Gesicht aufgeschwollen, er sah und hörte nichts mehr, krächzte um Hilfe und trat weg. Das öfters zitierte Licht am Ende des Tunnels ist ihm seither ein Begriff. Er und seine drei Geschwister reagieren auf Wespen- und Bienenstiche höchst allergisch. Dem Lebensende begegnete Werner Treibenreif auch als Rettungssanitäter mehrfach: Nach dem Militärdienst hat er einige Zeit beim Weißen Kreuz gearbeitet. Vor seinem Tod hat er keine Angst, vor dem Sterben schon.
Vor 15 Jahren bestand vor den kritischen Augen des Rittner Chefkochs kaum eine Speise – immer gab es Verbesserungspotenzial. Im Herzen des Erkrankten flammt heute schon Freude auf, wenn genug Kraft da ist, um für Jimmy Hundekekse zu backen.
von Maria Lobis
Der Artikel ist erstmals in der 39. Ausgabe (Juli/August 2018) der Straßenzeitung zebra. erschienen.
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