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Vielleicht ist uns noch nie so deutlich klargeworden wie in diesen vergangenen zwei Monaten des Lockdowns und der Pandemie-Krise, wie stark alles miteinander verbunden ist. Wir sind nur ein winziger Teil des Ganzen. Wir hängen voneinander ab. Wir sind alle Brüder und Schwestern, ob es uns gefällt oder nicht.
Im Februar noch erschien uns dieses seltsame Virus endlos weit weg, und die Geschichten aus China erweckten den Anschein von Science-Fiction-Filmen. Wir fühlten uns immun dagegen, wir fühlten uns getrennt von dieser Welt. Wir fühlten uns vielleicht auch überlegen und unbesiegbar. Wir waren hier, die anderen dort.
Zu akzeptieren, dass „niemand eine Insel ist“, um es mit John Donne zu sagen, ist der einzige Weg, der uns aus der aktuellen menschlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Krise führen kann.
Oftmals, wenn ich im Rahmen meiner Arbeit die Gelegenheit hatte, von anderen Ländern, Kulturen und Situationen zu berichten, ist mir aufgefallen, wie wenig in vielen Menschen das Bewusstsein verankert ist, dass jenseits der eigenen Realität noch viele ganz andere Realtäten existieren. Wir neigen dazu, uns in dem einzuschließen, was wir kennen – hier und jetzt. Es fällt uns schwer, über uns selbst hinauszugehen und unseren Alltag und unsere Werte zu relativieren. Manchen Menschen ist das sogar gänzlich unmöglich. Ich finde das besorgniserregend, und es macht mir Angst. Wir sollten versuchen, die Legitimität unseres Herangehens an bestimmte Situationen kritischer zu betrachten, unsere Sichtweise zu relativieren.
Solidarität ist nur möglich, wenn ich als Mensch oder Gemeinschaft die Existenz von etwas anderem, das anders ist als ich, bewusst wertschätze. Nur dann kann ich zu jenem Prozess gegenseitiger Hilfe beitragen, der so zutiefst menschlich ist und von entscheidendem Wert für den globalen Fortschritt. Es ist das bewusste Wahrnehmen von Lebenssituationen, die anders sind als die meine, das mich menschlich bereichert. Denn es erweitert den Horizont – einen Horizont, der anderenfalls nicht weiter als bis zu meiner eigenen Nasenspitze reichen würde.
Egal, wie wir es drehen und wenden: Der und das andere bedeuten Reichtum! Zu akzeptieren, dass „niemand eine Insel ist“, um es mit John Donne zu sagen, ist der einzige Weg, der uns aus der aktuellen menschlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Krise führen kann. Solange wir auf die anderen immer nur den ersten Stein werfen, solange wir „Schuldige“ suchen, solange wir nur auf das Problem starren, statt dahinter zu schauen, solange wird es uns immer nur schlechter gehen.
In Afrika spielt es keine Rolle, ob du an Malaria stirbst, an Grippe, HIV oder COVID, denn du hast sowieso keine Chance.
Seit Monaten bereits sprechen wir über das Virus, über die Epidemie, die Krise, die wirtschaftlichen Schäden und sozialen Katastrophen. Wir rezitieren das Vaterunser des Lockdowns: Social Distancing, Hygiene, Gesichtsmasken, Tests. Wir sorgen uns um die Zertifizierung unserer Masken, um den Nachschub an Desinfektionsgel, um Tests, um Mindestabstände. So legitim diese Maßnahmen auch sind, wir schauen dabei jedoch nur auf unsere Nasenspitze und haben Schwierigkeiten, unseren Blick zu erweitern.
Ein sehr großer Teil der Welt da draußen ist nicht so privilegiert wie wir. Ein sehr großer Teil der Welt hat keinen Zugang zu Trinkwasser und Sanitäranlagen. Er verfügt schon deshalb nicht über die Möglichkeit, sich zuhause zu isolieren, weil er gar kein Zuhause hat. Er kann keinen Mindestabstand von eineinhalb Metern einhalten, weil in den fünf Quadratmetern Wellblechhütte, die er sein Zuhause nennt, noch weitere zehn Menschen leben. Ein sehr großer Teil der Welt weiß nicht, wie er seine Kinder ernähren soll, wenn er nicht jeden Tag auf den Markt gehen kann, um sein selbst angebautes Gemüse zu verkaufen.
In Afrika droht nicht der Zusammenbruch der intensivmedizinischen Versorgung, weil es in den allermeisten Fällen gar keine Intensivstationen gibt.
Wenn wir uns auf der Karte die weltweite Verbreitung von COVID-19 ansehen, dann sieht es aus, als gäbe es auf der südlichen Halbkugel, vor allem in Afrika, nur ganz wenig Fälle. Manche behaupten, das läge an der sehr jungen Bevölkerung oder am Klima, weil es dort wärmer ist, was die Verbreitung beeinträchtigt. Doch wenn wir unser Hirn ein wenig anstrengen, dann begreifen wir, dass es in Afrika – und wenn ich Afrika sage, meine ich damit auch viele andere Regionen unserer Welt in ähnlichen Verhältnissen – praktisch kein Gesundheitssystem gibt, keinen Sozialstaat.
Zig Millionen Menschen leben dort in Slums. Zig Millionen Menschen leben von der Hand in den Mund. In Afrika droht nicht der Zusammenbruch der intensivmedizinischen Versorgung, weil es in den allermeisten Fällen gar keine Intensivstationen gibt. Den Menschen in Afrika zu empfehlen, sich mehrmals täglich die Hände zu waschen und Social distancing zu betreiben, ist nichts weiter als ein schlechter Scherz. In Afrika spielt es keine Rolle, ob du an Malaria stirbst, an Grippe, HIV oder COVID, denn du hast sowieso keine Chance. In Afrika geht es auch nicht darum, die „Risikogruppe“ alter Menschen zu schützen, denn die Lebenserwartung dort ist gerade mal halb so hoch wie die unsere.
Unsere geschlossenen Grenzen sind ein Sieg für die Populisten und eine Niederlage für unsere europäischen und menschlichen Werte.
Unsere Abschottung wiegt uns Privilegierte in der Illusion, sicher und geschützt zu sein. Für die Menschen in jener anderen Welt hingegen, die Nahrungsmittel, Sanitärmaterial, Solidarität und Hilfe noch viel mehr bräuchten als wir, sind die geschlossenen Grenzen und unterbrochenen Handelsketten ein Todesurteil. Unsere geschlossenen Grenzen sind ein Sieg für die Populisten und eine Niederlage für unsere europäischen und menschlichen Werte.
Die Illusion, dass das Virus vor einem geschlossenen Schlagbaum und einem Grenzbeamten, der nach dem Ausweis fragt, haltmacht, ist eine Illusion in dem verzweifelten Versuch, uns selbst zu überzeugen, dass wir mit den anderen da draußen nichts gemein haben. All das bedeutet natürlich nicht, dass wir nicht auch weiterhin alles Mögliche unternehmen müssen, um aus dieser Krise so gut wie möglich herauszukommen. Es bedeutet nur, dass wir dabei nie die anderen vergessen dürfen – unsere Brüder, unsere Schwestern.
Elide Mussner Pizznini leitet seit 2011 die Costa Family Foundation.
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