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Michael Ende hat 1978 das Kinderbuch „Das Traumfresserchen“ veröffentlicht. 13 Jahre später bringt der deutsche Komponist Wilfried Hiller eine Opernfassung des Traumfresserchens auf die Bühne, das eine der meistgespielten deutschsprachigen Opern der Nachkriegszeit wird. Tanja Regele hat nun eine Stückfassung für die Vereinigten Bühnen Bozen inszeniert. Sie erzählt uns, was die Geschichte besonders macht, welche Ziele sie mit dem Stück verfolgt und warum sich Erwachsene einiges von Kindern abschneiden können.
BARFUSS: Tanja, wie hast du heute geschlafen? Hast du etwas geträumt?
Tanja Regele: Ich habe lange nicht eingeschlafen können, dann aber gut geschlafen. Und obwohl ich mich oft an meine Träume erinnern kann, weiß ich gerade gar nichts mehr.
Was macht deine neue Theaterinszenierung „Das Traumfresserchen“ besonders? Welche Geschichte wird erzählt?
Die Geschichte des Traumfresserchens ist auf vielen Ebenen besonders. Einerseits ist es die Geschichte eines kleinen Mädchens, das plötzlich nicht mehr einschlafen kann. Andererseits ist es die Geschichte einer Königstochter, deren Familie über das Schlummerland regiert. Und im Schlummerland ist es unerhört, dass ausgerechnet die Königstochter nicht schlafen kann, denn Schlaf ist dort das Wichtigste. Die Schlaflosigkeit der Königstochter löst innerhalb der Familie Stress aus, die Eltern machen sich Sorgen. Die Königin begibt sich auf Reisen und sucht im ganzen Land nach einer Lösung, um Schlafittchen helfen zu können. Letzten Endes landet die Königin beim Traumfresserchen, und dieses Traumfresserchen erklärt ihr dann, wie sie dem Mädchen mit einem Zauberspruch helfen kann.
Das Traumfresserchen ist eine liebevoll erzählte Familiengeschichte von Michael Ende, die mit Märchenelementen versehen ist. Allerdings tauchen auch reale Elemente auf, es geht nämlich nicht nur um das schlaflose Kind, sondern auch um einen Vater beziehungsweise eine Mutter, der oder die sich um das eigene Kind sorgt und auf der Reise viele Dinge erlebt, für sich selbst mitnimmt und lernt. Es ist auch eine Gute-Nacht-Geschichte, da sich Schlafittchen vor dem Einschlafen fürchtet.
Kanntest du die Geschichte schon vorher?
Nein, die Geschichte vom Traumfresserchen kannte ich nicht. Ich habe mir das Buch besorgt, das mit wunderbaren Illustrationen aufbereitet ist. Eigentlich ist es eine Geschichte, ohne dialogische Stückfassung. Also musste ich die Dialoge vielfach erfinden, damit ein Theaterstück aus der Geschichte entstehen kann – allerdings habe ich versucht, so nah wie möglich am Originaltext zu bleiben, damit man die Originalgeschichte auch in der neuen Theaterfassung wiederfindet.
Der Grund für Schlafittchens Schlaflosigkeit ist eine vorgefertigte Zukunft. Was ist daran problematisch?
Als ich das erste Mal die Geschichte von Michael Ende gelesen habe, ist mir ein Satz länger im Kopf geblieben. Und dieser Satz lautet: „Du musst schlafen“. Der König sagt diesen Satz zu seiner Tochter und erklärt ihr, dass er der König von Schlummerland und sie die Prinzessin von Schlummerland sei und dass sie eben schlafen müsse, weil sich das für die Prinzessin in diesem Land so gehöre. Außerdem sagt er, dass die Leute schon schlecht reden würden. Diese Sequenz hat etwas in mir ausgelöst und ich dachte mir: Boah, das ist ja voll Druck-belastet. Die Prinzessin kann nichts dafür, dass sie in diese Familie hineingeboren wurde, sie hat sich die Familie nicht ausgesucht. Trotzdem wird sie massiv unter Druck gesetzt, weil sie nicht schlafen kann, aber schlafen muss. Und das alles nur, weil sie die Tochter vom König ist. Meine Idee war, von diesem Problem ausgehend, die Fassung zu schreiben. Diese vorgefertigte Zukunft ist deswegen in unserer Version das eigentliche Problem für Schlafittchens Schlaflosigkeit.
Mein Ziel ist es, dass Kinder verstehen, dass sie sich ihre kindliche Art beibehalten sollen.
Soll dein junges Publikum aus dem Stück etwas lernen? Hast du ein Ziel, wünschst du dir bestimmte Reaktionen?
Es ist wahnsinnig schwierig, eine Inszenierung für Kinder zu erarbeiten. Schwierig deshalb, weil man sich aus der Erwachsenenperspektive heraus und in die Kinder hineinversetzen muss. Man denkt dann viel an die eigene Kindheit zurück, versucht die Welt noch einmal mit Kinderaugen zu sehen. Als Regisseurin will ich ihnen eine Geschichte erzählen, die sie nicht langweilt, sie sollen Spaß dran haben. Mein Ziel ist es, dass Kinder verstehen, dass sie sich ihre kindliche Art beibehalten sollen. Dieses Sensible, das Spüren, dass etwas nicht richtig ist. Schlafittchen kann nicht schlafen, weil sie spürt, dass sie etwas bedrückt. Sie bleibt aber dran, will das Problem lösen und lässt sich dabei von der Außenwelt bzw. von irgendwelchen Meinungen nicht aus der Ruhe bringen.
Wenn die Kinder zu dir ins Theater kommen, werden sie von Erwachsenen begleitet. Was sollen die Begleitpersonen aus dem Stück mitnehmen?
Eigentlich genau das Gleiche. Auch die Erwachsenen sollen sich bei der Geschichte nicht langweilen, auch sie sollen Spaß haben. Die Erwachsenen können sich vielleicht mit der Königin, die in der Originalfassung ein König ist, identifizieren. Sie macht sich zu Beginn furchtbare Sorgen um das Kind, dreht fast durch. Als sie dann die Reise antritt, um Hilfe zu suchen, lernt sie auf dem Weg so viel Neues und irgendwo findet sie sich auch selbst wieder. Sie hat Spaß und ist entspannt, sie vertraut auf ihr Gefühl. Und das ist auch etwas Kindliches, das sie auf dieser Reise zurückerobert. Es ist in der Realität ja auch so – als erwachsener Mensch fügt man sich einem System. Man macht manchmal Dinge, auf die man überhaupt keine Lust drauf hat. Man denkt gar nicht mehr darüber nach, weil man so sozialisiert wurde. Klar kann man nicht von der Arbeit wegbleiben, weil man gerade keine Lust darauf hat. Aber ich meine das anders. Als Kind lebt man in der Gegenwart, im Jetzt, im Unmittelbaren. Ich denke, dass es auch als Erwachsener sehr befreiend sein kann, dass man sich einen kleinen Moment nimmt, um sich selbst wiederzufinden.
„Das Traumfresserchen“ ist für Kinder ab sechs inszeniert. Du hast aber auch schon Bühnenfassungen für Erwachsene realisiert. Wie verändert sich der Arbeitsprozess, wenn man weiß, dass ein Stück für Kinder konzipiert werden soll?
Nicht alles ist anders. Am Probenprozess ändert sich zum Beispiel gar nichts. Der bleibt immer derselbe, man trifft sich mit der Besetzung und probt das Stück durch, also wie bei allen anderen auch. Wenn man allerdings beginnt, eine Stückfassung zu schreiben, macht man sich bei Inszenierungen für Kinder andere Gedanken, als bei Stücken für Erwachsene. Da fragt man sich dann, ob Kinder bestimmte Dinge, zum Beispiel eine Schreibmaschine, noch kennen – vielfach ist es eine Generationenfrage.
Auch das Tagträumen ist unglaublich, oder? Man kann sich für kurze Zeit irgendwo anders hinträumen, weil man gerade Lust dazu hat.
Noch größer sind die Verständnisfragen: Wie schreibe ich das Stück, dass es verständlich ist? Verstehen sie diesen Satz, die Aussage, den Inhalt? Hier muss man aufpassen, dass man nicht zu sehr vereinfacht, ich will nicht irgendwie „erklärerisch“ daherkommen. Ich denke, dass Kinder sehr viel mitkriegen. Man traut ihnen manchmal nur zu wenig zu. Und da finde ich es wichtig, dass man mit ihnen so viel wie möglich redet, sie nicht zu sehr abschirmt. Es ist eine Gratwanderung. Man will verständlich sein, ohne aber die Welt aus der Erwachsenenperspektive zu erklären.
Wie wichtig ist Träumen für dich? Auch im übertragenen Sinne …
Ich träume sehr viel und ich liebe das. Meistens kann ich mich dann auch an die Träume erinnern. Ich finde es faszinierend, dass ein Gehirn in der Nacht solche Sachen produzieren kann. Auch das Tagträumen ist unglaublich, oder? Man kann sich für kurze Zeit irgendwo anders hinträumen, weil man gerade Lust dazu hat oder weil man sich ablenken will. Im Leben Träume zu haben empfinde ich als wichtig und als etwas, das uns hilft, es ist ein idealisierter Zustand, eine Art von Hoffnung. Träumen kann ein positives Vorausschauen sein, es erlaubt und letzten Endes auch, Visionen zu verfolgen, die Motivation beizubehalten. Ich wünsche mir, dass sich Kinder das Träumen beibehalten. Und, dass Erwachsene träumen können, als wären sie noch einmal Kinder.
Wie zeitgemäß ist analoges Theater? Können sich Kinder, die schnelle, bunte TikTok-Videos und Computerspiele kennen, 60 Minuten lang auf ein Theaterstück konzentrieren?
Das ist eine gute und schwierige Frage, die sich gerade sehr viele in dieser Branche stellen. Eine Freundin von mir wollte dieses Stück unbedingt sehen, schafft es aber nicht zu einer Vorstellung, weil sie gerade in den USA ist. Sie hat dann gefragt, ob es eine Aufzeichnung vom Stück gibt. Die gibt es nicht. Allerdings könnte man auch mit einer Aufzeichnung nie das festhalten und einfangen, was Theater ausmacht. Das Theater unterscheidet sich vom Film und von Videos dadurch, dass es unmittelbar für das Publikum inszeniert ist und mit diesem in einem direkten Kontakt steht. Der Zuschauerraum steht der Bühne gegenüber, die beiden Komponenten reagieren aufeinander, das macht die Qualität vom Theater aus.
Natürlich ist es nicht so schnell, so bunt und so kurz wie ein TikTok Video, aber ich denke, dass Kinder – wenn sie sich auf das Theater einlassen – eine tolle Erfahrung machen können. Es ist manchmal deprimierend, dass man es als analoge Theaterschaffende nicht immer mit digitalen Medien aufnehmen können. Andererseits tröstet mich dann immer die Tatsache, dass es Theater bereits seit über tausend Jahren gibt, und in irgendeiner Form hat es sich erhalten. Und noch was: Bisher haben die Kinder nicht Raum nicht verlassen, sondern 60 Minuten lang der Geschichte von Schlafittchen gelauscht.
Die gebürtige Südtirolerin Tanja Regele studierte an der Universität Wien Psychologie. Durch Zufall ist sie ans Theater gekommen, zuerst durchs Schauspielern, dann durch erste Hospitanzen, dann als Regieassistentin. Für die Spielzeit 2023/24 inszeniert sie „Oskar und die Dame in Rosa“ von Eric-Emmanuel Schmitt am Landestheater in Linz. Nach dem Klassenzimmerstück „Titus“ ist Tanja Regele nun zum zweiten Mal an den Vereinigten Bühnen Bozen engagiert.
„Das Traumfresserchen“ tourt bereits seit Mitte November durch Südtirols Theater und ist noch bis einschließlich 15. Dezember zu sehen. Hier geht es zu den Terminen: https://www.theater-bozen.it/production/das-traumfresserchen/#dates
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