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Thomas Hanifle
Veröffentlicht
am 04.12.2017
Leute

Die vier Gesichter der Selma Mahlknecht

Veröffentlicht
am 04.12.2017
Für Selma Mahlknecht ist Schreiben eine Obsession. Ihre Romane sind preisgekrönt, vom Schreiben kann sie dennoch bis heute nicht leben.
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Ein warmer Herbsttag in Zernez auf knapp 1.500 Meereshöhe. Am Dorfrand, keine fünf Gehminuten vom Bahnhof entfernt, lebt Selma Mahlknecht mit ihrem Mann Kurt Gritsch, einem Historiker und Konfliktforscher. Im Engadin hat die gebürtige Plauserin eine neue Heimat und neue Aufgaben gefunden. BARFUSS hat sie zwei Tage lang begleitet.

Selma, die Beobachterin

Am frühen Nachmittag spaziert sie mit ihrem Mischlingshund Puck auf einem Schotterweg vorbei an weitläufigen Wiesen und Getreidefeldern, das Korn ist längst geerntet. Im Hintergrund leuchtet in orangen, grünen und gelben Farbtönen der Gebirgswald des Schweizer Nationalparks. Selma Mahlknecht liebt diese Ruhe, ein Grund, warum sie 2012 hierher gezogen ist. Sie wirft einen alten Tennisball auf eine Wiese, Puck läuft los.

Sie achtet unentwegt auf Kleinigkeiten, die sie später schriftlich festhalten wird: Die gelben Lärchennadeln am Boden, die Vögel, die, von Puck erschreckt, wegfliegen. Ihr neuer Roman soll im August beginnen und im Juli enden, er wird im Engadin spielen. Sie geht weiter. Plötzlich bleibt sie stehen und schaut Richtung Himmel. Bei einem ihrer Spaziergänge stand da oben ein Turmfalke in der Luft, beinahe unbeweglich, als zögere er, ob er sich auf seine Beute stürzen solle oder einfach weiterfliegen. Der Vogel spielt eine wichtige Rolle am Ende ihres letzten Romans über die schwangere Luba, die nicht recht weiß, ob ein Kind ihr ins Lebenskonzept passt. „Das ist eine Metapher für ihr ganzes Leben, das sie sich irgendwie anders vorgestellt hat“, erklärt Mahlknecht.

Ein Stück weit ist es ihre Biografie, die Mahlknecht in ihren Romanen verarbeitet. Das ist ihr Antrieb, immer wieder aufs Neue zu schreiben. Mit den Figuren ihrer Romane bewohnt sie eine Parallelwelt. Sie begleiten sie in den Stunden, in denen sie nicht ihren Lebensunterhalt als Lehrerin verdient. „Es ist, als ob Figuren in mir wohnen, ich aber nicht weiß, wozu sie da sind“, sagt sie. Manchmal teilen sie mit ihr den Alltag, etwa bei Spaziergängen mit ihrem Hund.

Mit den Figuren ihrer Romane bewohnt sie eine Parallelwelt. 


Selma Mahlknecht bei der Theaterprobe an der Academia Engiadina in Samedan 

Selma, die Theatermacherin

Cilgia steht vor Gericht. Sie wird verdächtigt, ihre Schwester Chantal umgebracht zu haben. Im Hintergrund brüllt der Mob: „Lügnerin.“ Freunde verteidigen die Angeklagte: „Nein, sie ist sehr ehrbar.“ Auf der Bühne stehen zehn Gymnasiasten der Academia Engiadina in Samedan nahe Zernez. Vom Publikumsraum aus gibt Selma Mahlknecht Regieanweisungen, sie gestikuliert, ballt die Faust, korrigiert: „Nein, sie ist eine Respektsperson. Ruhe.“

Selma Mahlknechts  Enthusiasmus überträgt sich auf die Bühne, der Mob wird lauter, einige lachen. Es ist kurz nach 12 Uhr, ein Montag Ende Oktober. Einmal die Woche proben die Gymnasiasten im kleinen Theatersaal ihr Stück „Der gute Mensch vom Engadin“, eine adaptierte Version von Bert Brechts Theaterstück „Der gute Mensch von Sezuan“. Mahlknecht hat das Stück ins Engadin und in die Gegenwart verlegt. Das Thema ist geblieben: Kann ein guter Mensch in einer schlechten, kapitalistischen Welt überleben?

Ein Problem, das die Autorin kennt. Vom Schreiben allein kann sie nicht leben. Das Schreiben allein wäre Selma Mahlknecht auch zu wenig, das Theater ist ihre zweite große Leidenschaft. In Wien studierte die gebürtige Plauserin Drehbuch und Dramaturgie und setzt seither mit Vorliebe gesellschaftskritische Stücke um. Die Komödie „Gruß und Kuss vom Pluralus“, die im Frühjahr 2018 in Naturns Premiere feiern wird, handelt von der Flüchtlingskrise, dreht den Spieß aber um. Die Erde ist unbewohnbar geworden und die Naturnser suchen Unterschlupf auf dem Planeten Pluralus.

„Das Beobachten alleine reicht mir nicht“, sagt Mahlknecht. Sie will sich einmischen, sie will gestalten. Und das macht sie auch außerhalb des Theaters, als Lehrerin, auf Facebook oder mit Beiträgen auf dem Onlinemagazin telepolis.de. Dort schrieb sie jüngst zur aktuellen Sexismusdebatte: „#metoo ist kein Aufruf zu Männerhass. Es ist kein Generalverdacht und er ist kein Anspruch auf einen kollektiven Opferstatus. Es ist im Gegenteil der Versuch, die Tatsache, dass man Opfer geworden ist, von Weinerlichkeit und Pathos zu befreien.“

Die Theaterprobe neigt sich derweil dem Ende. Mahlknecht bespricht eine der letzten Szenen mit den jungen Darstellern.  Nie kritisiert sie. Sie gibt Hinweise. Denkanstöße. Wie Brechts Figuren gegenüber dem Publikum.

„Das Beobachten alleine reicht mir nicht.“

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Selma, die Entertainerin

Pünktlich um 10:16 Uhr startet der Zug in Meran Richtung Vinschgau. In einem der mittleren Abteile sitzen auf einer Stufe Selma Mahlknecht und daneben auf einem gepolsterten Sessel ihr Mann Kurt Gritsch. Er spielt Gitarre, sie trägt Lieder und Gedichte vor. Das „Zugige Gedicht“ etwa: „Und auch die Totgeweihten liegen zum Schluss noch in den letzten Zügen“, so endet Mahlknechts Komposition. Das Publikum klatscht, einige lachen. Bei Durchsagen und an den Stationen unterbrechen Mahlknecht und Gritsch die Performance, Fahrgäste steigen aus, neue ein.

Mehr als sieben Jahre sind seither vergangen. Mit ihrem Mann sitzt sie an diesem Montagvormittag in der Mensa der Berufsschule in Samedan. Sie hat Pause, bevor der Unterricht am Gymnasium weitergeht. Sie sagt: „Bei solchen Auftritten kann ich meine schauspielerische und musikalische Ader ausleben.“ So wie bei den Weihnachtslesungen mit ihrem Mann. Im November und Dezember finden elf Auftritte in vier Wochen in Südtirol, Österreich und der Schweiz statt. Im letzten Jahr trug sie in der Bibliothek Naturns „Die Plätzchentherapie“ vor, Mahlknecht enlädt darin den Frust des ablaufenden Jahres. Sie hält kurz inne und rezitiert das Gedicht in der Mensa: „Und ich schlag die Sahne und zerbreche die Eier. Und ich knete den Teig und zerstückle ihn in Teile. Und ich mache ihn platt und ich steche ihm die Augen aus. Und ich schieb ihn in den Ofen hinein und lasse ihn anbrennen!“ Selma Mahlknecht lacht spitzbübisch. 

Die Sprache ist Mahlknechts Haus, in dem sie lebt. Sie kann nur durch die Fenster der Sprache die Welt sehen. Durch die Sprache übersetzt sie sich die Welt. Sie denkt in Worten, in Klängen, in Wortgeräuschen. Eine Geschichte muss nicht nur gut erzählt und spannend sein, sie muss für Selma Mahlknecht auch klingen und den richtigen Rhythmus haben.

„Und ich knete den Teig und zerstückle ihn in Teile.“

„Dieser Roman geht dem aufmerksamen Leser ‚unter die Haut’ und stellt eine besonders raffinierte, in schnörkelloser und nüchterner Sprache qualitativ hochwertige Familienchronik dar, die mitunter starke kriminalistische Elemente aufweist und eine gute Portion Spannung bereithält.“ Berliner Literaturkritik, Barbara Tumfart 

„Die Erzählung weiß präzise, wo sie hin will, die Sprache dazu ist schön und dennoch klar. Dieses Phänomen der mahlknecht’schen Sprache sorgt dafür, dass das Buch eine unheimliche Kurzweiligkeit ausstrahlt, auch für Menschen, die grundsätzlich nicht auf klassische Stoffe fliegen.“ Florian Müller, Literaturhaus Wien

„Es gelingt Selma Mahlknecht ein starkes und detailliertes Bild von einer sehr unsicheren Frau zu vermitteln, die lernt über sich hinauszuwachsen. Die Reise in Lubas skurrile Gedankenwelt reißt mit und macht Spaß.“  Julius Handl, Literaturhaus Wien

Selma, die Schriftstellerin

Der Schreibtisch einer Romanautorin im Spielfilm sieht anders aus. Bei Selma Mahlknecht aber: Keine Bücherwand, kein Chaos aus Notizen und Zetteln, nicht einmal ein abgeschlossener Raum, in dem sie sich verkriechen könnte. Stattdessen ein schlichter Holztisch in der hinteren Ecke des offenen Ess- und Wohnraums. Vor ihr eine Südtiroler Eckbank, hinter ihr das Klavier, auf dem sie als Kind das Spielen gelernt hat und heute Songs komponiert. Links vom Schreibtisch hat sie ein Bild des Südtiroler Zeichners und Karikaturisten Paul Flora auf den Sims gestellt: „Der Elfenbeinturm“. Die Miniatur zeigt eine Stadtlandschaft, im Vordergrund hat sich zwischen zwei Bäume ein Häuschen eingeschlichen. Mahlknecht legt ein Notizbuch auf den Tisch. Darin hält sie Sprüche, Gedichte und Beobachtungen fest, die sie während ihrer Spaziergänge macht. Zum Beispiel: „Schwüler Junitag. Ich gehe an einem blühenden Rapsfeld vorbei. Zwei weiße Schmetterlinge tanzen darüber hinweg, flattern ganz nahe beieinander wie ein schäkerndes Pärchen.“

An diesem Schreibtisch verfasste sie ihren Roman über Luba, eine Enttäuschung, wie sie sagt: „Zwei Wochen nach Erscheinen gab es keine Notiz mehr davon.“ Das war nicht bei allen Büchern so. Nach einigen Erzählungen erschien 2009 im Bozner Verlag Edition Raetia ihr erster Roman „Es ist nichts geschehen“. Eine Familiengeschichte voller Geheimnisse, die sie bis zum Ende Schicht für Schicht entfaltet. Das Buch wurde von der Kritik gefeiert, auch im Ausland. 2010 wurde es ins Schwedische übersetzt. Das Buch hätte ursprünglich bei einem deutschen Verlag erscheinen sollen, dieser wollte jedoch, dass sie der Geschichte eine neue Form gibt. Sie lehnte ab. Für „Helena“ (Edition Raetia, 2010) erhielt sie den Sir Walter Scott Preis als bester deutschsprachiger historischer Roman 2012. Auch nach dem Künstlerroman „Lunarda“ (Edition Laurin, 2011), den sie mit Erfolgsautor Herbert Rosendorfer verfasste, winkte ihr ein Vertrag bei einem deutschen Verlag. Und wieder wurde nichts daraus. „Vielleicht war es gut so“, sagt sie. Sie wolle keinen Stempel tragen als Autorin, die nichts als Künstlerromane, Frauenbücher oder Alpenkrimis verfasst. Sie wolle Bücher schreiben, die aus ihr herauswachsen.

So wie ihr nächster Roman. Die Hauptfigur, eine Frau, ist diesmal deutlich älter als sie, schwer krank und kommt ins Engadin, um ihren Zwillingsbruder zu besuchen. Als sie eintrifft, ist er tot. Sie forscht nach und entdeckt, dass sein Tod mit einem Umweltskandal zu tun hat. Eigentlich angereist, um zur Ruhe zu kommen, findet sie sich plötzlich in einer aufwühlenden Geschichte wieder. Der Roman soll den Titel „Freund Hain“ tragen, die allegorische Bezeichnung im Deutschen für den Tod.

Den ersten Satz hat sie bereits im Kopf, will ihn aber nicht verraten. Den letzten auch nicht.

Fotos

Thomas Hanifle, Edition Raetia

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