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Wie wird der Sohn eines Magazinarbeiters, 1901 in Franzensfeste geboren, in einer der spektakulärsten Karrieren der Nazizeit, zur grauen Eminenz der größten Gestapozentrale des deutschen Reiches? Wie wird ein Hilfsreferent der Gestapo, dessen Aufgabe die Korrektur von Rechtschreibfehlern in dienstlichen Schriftstücken ist, in drei Jahren zum Herrn über Leben und Tod? Wie ist die Doppelmoral eines Intellektuellen zu verstehen, dessen abendliche Lieblingslektüre Dantes „Göttliche Komödie“ war und der am nächsten Morgen als Erstes ein Todesurteil bestätigte?
Der Januskopf
Die zwei Seelen in seiner Brust verstand Karl Ebner virtuos zu kombinieren. Der Mann, der stolz an den Gauleiter von Niederdonau schrieb, dass er „48.500 Juden […] aus meinem Dienstbereich (Wien-Niederdonau) nach den Ostgebieten evakuiert habe“, hatte zum gleichen Zeitpunkt bereits begonnen, „Menschen aus den Fängen der Gestapo zu befreien“: Der Gestapo-Täter begann heimlich für Gestapo-Opfer zu intervenieren, als private Rückversicherung „für die Zeit danach“. Wie alle Insider des Regimes von der Niederlage des Reiches früh überzeugt, wurde so aus dem falschen Engel, der nur an sich dachte, der „Engel vom Morzinplatz“. Dem Domprälaten von St. Stephan, den er aus seinen eigenen „Fängen“ gerettet hatte, begründete er sein Verhalten mit den Worten: „damit ich mir einige Gutpunkte für den Himmel erwerbe“.
Ein Zeuge in seinem Nachkriegsprozess fand für Ebners Doppelmoral eine plastische Bezeichnung. Er nannte ihn „Mann mit einem Januskopf“, der zwar wenige Menschen geschützt, viele aber rücksichtslos verfolgt habe: ein Januskopf mit dem Antlitz des Täters und des Wohltäters, ein Januskopf mit österreichischen Zügen, beweglich auf einem Wendehals sitzend, an wechselnden persönlichen und politischen Opportunitäten ausgerichtet. Nicht wie „Der Herr Karl“ als subalterner Blockwart, sondern im Spitzenfeld der Nazihierarchie als „Der Herr Dr. Karl“ vom Morzinplatz.
Und doch ist Ebner heute selbst zeitgeschichtlich Interessierten kaum bekannt. Er hatte rechtzeitig vorgesorgt, aus seiner Gestapozeit nur wenige Spuren zu hinterlassen. Nach Kriegsende tauchte er, in den Tagen seines Volksgerichtsprozesses, kurz im Rampenlicht auf und blieb anschließend weithin unbeachtet und unbehelligt.
Aber Ebner stand als Verantwortlicher an einer Schaltstelle der zentralen Organisation nationalsozialistischen Terrors. Er bediente ihr Räderwerk, in der Regel pflichtgemäß, zu Lasten der Verfolgten, als Ausnahme zu ihrer und damit auch seiner Rettung. Nicht die wenigen, die er gerettet, sondern die vielen, die er in den Tod geschickt hat, sind als moralischer Maßstab seines Handelns relevant.
All dies betrieb Ebner nicht als lärmender Protagonist, sondern bewusst als Regisseur im Hintergrund – leise, unauffällig, Risiko und Ertrag sorgsam kalkulierend. Ebner als schicksalhaft handelnde Person stilisierte sich selbst zur Unperson der Zeitgeschichte. Er fand dadurch keinen Eingang in die Geschichtsbücher – nicht als Übeltäter und schon gar nicht als Wohltäter –, aber er hatte ihn auch gar nicht gesucht.
Aufgewachsen in Südtirol
Was war aus dem tief katholisch erzogenen Jungen geworden, der – wie er in einem Lebenslauf ausführte – als Ministrant bei Bischof Geisler in Brixen den Weihrauchkessel schwenkte? Was aus dem 13-Jährigen, der sich auf der Marmolata in einer Eishöhle auf seinen jüngeren Freund legte, um ihn vor dem Erfrieren zu schützen? Blieb ein lebenslanges Trauma zurück, als er den Freund unter sich sterben sah? War dieses Erlebnis für ihn „prägend“ gewesen, wie seine Tochter überzeugt war? Prägend für sein späteres Amt als „Judenreferent“ der Gestapo? Wie passt das alles zusammen?
Ebners ausdrücklicher Wunsch war es gewesen, nach dem Staatsgymnasium in Brixen auf eine technische Hochschule zu gehen. Er betonte später immer wieder, „ein verhinderter Techniker und unwilliger Jurist“ geblieben zu sein. Die wirtschaftliche Notlage der Familie zwang ihn, nach der Übersiedlung nach Osttirol, schließlich zum „kürzeren Studium“ der Jurisprudenz, erst in Graz, dann in Wien.
Dort traf Ebner auf das unruhige, unbehagliche politische Milieu der ungeliebten Ersten Republik, auf das Rote Wien der 1920er-Jahre, auf christlichsozialen und sozialdemokratischen Antagonismus. Er traf auf den zum Lokalkolorit der Stadt gehörenden, verhängnisvollen Volksantisemitismus Lueger’scher Prägung. Und er kam, im Umfeld seiner Studentenverbindung, wohl erstmals in Kontakt mit nationalsozialistischem Gedankengut.
Nach seiner Promotion zum Dr. jur. an der Universität Wien folgte der „aufhaltsame“ Aufstieg über mehrere Stationen: im Polizeidienst der Republik, dann im austrofaschistischen Ständestaat. Dabei hatte er das Glück, schon in seiner ersten Anstellung auf einen Landsmann zu treffen: Dr. Benno von Braitenberg-Zennenberg, Jurist aus Bozen, Oberleutnant des Ersten Weltkrieges, Nationalsozialist der ersten Stunde. Er wurde Ebners Freund und Mentor, er förderte seine Karriere und ihm hatte Ebner seine frühe und nachhaltige NS-Sozialisation zu verdanken. Als durch ihre Beteiligung am Juliputsch 1934 erst Braitenberg und dann auch Ebner größere Probleme mit ihrer nationalsozialistischen Untergrundarbeit bekamen, Ebner sogar kurzfristig in Jugoslawien untertauchen musste, schienen die Karrieren der Landsleute am Ende angelangt.
Aber als Hitler am 15. März 1938 auf dem Heldenplatz und „vor der Geschichte“ den „Anschluss“ Österreichs verkündete und den „namenlosen Idealisten in den langen Jahren der Verfolgung“ dankte, durften sich die beiden durchaus angesprochen fühlen.
Der Dank nahm für Ebner bald konkrete Form an. Tadellose Zeugnisse verschiedener Parteiorganisationen, die seine Untergrundarbeit lobten, verschafften ihm das Eintrittsbillett ins Hotel Métropole, dem Sitz der Gestapoleitstelle Wien. Und hier begann nun die beispiellose Karriere des Arbeitersohnes aus Franzensfeste, des Ministranten, begabten Technikers und „unwilligen Juristen“ Dr. Karl Ebner.
Unrühmliche NS-Karriere in Wien
[…] Schon nach einem Jahr avancierte der Hilfsreferent Ebner zum Leiter des berüchtigten Referates II B „Weltanschauliche Gegner“. Unter dieser Bezeichnung wurden Organisationen und Personengruppen zusammengefasst wie „Politisierende Kirchen“, „Sekten“, „Bibelforscher“, „Wahrsagerei“, „Anthroposophen“, „Theosophen“, „Freimaurer“, „Rotarier“ und viele mehr. Sie alle trugen in der paranoiden Lebenswelt des Nationalsozialismus das Etikett „Staatsfeinde“. Am Ende dieser langen Liste stand auch „Ausbürgerung“ und „Beschlagnahme und Einziehung von Vermögenswerten“ sowie vor allem: „Allgemeine Judenfragen“ – die Zuständigkeit des Referates, in Zusammenarbeit mit der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, für die Beraubung, Deportation und Ermordung von 48.500 Wiener Jüdinnen und Juden.
Ebner leitete das Referat II B bis April 1942, also zur Zeit der großen Deportationen von Juden, Sinti und Roma in das Getto Łódź (1940 von den Nazis in Litzmannstadt umbenannt) und die Vernichtungsstätten des „Generalgouvernements“. Er leitete es mit so großem Erfolg, dass sein Chef seine Beförderung mit der Begründung vorschlug: „SS-Sturmbannführer Dr. Ebner hat als Leiter des Referates II B Außerordentliches geleistet und sich bei der Lösung der Judenfrage in Wien ganz besondere Verdienste erworben.“ Ebner selbst formulierte in aller Bescheidenheit seinen Leistungsbeitrag so: „Unter meiner Leitung des Judenreferates wurde Wien eine judenfreie Stadt. Rund 1 Milliarde Sachwerte wurden durch die von mir aufgezogene Organisation dem Reiche zugeführt.“
Das Beförderungsschreiben hatte Erfolg: Schon im Frühjahr 1942 ernannte Reinhard Heydrich, Chef der Terrorzentrale des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in Berlin, Ebner zum stellvertretenden Gestapoleiter. Wenige Monate später kam erfreuliche Post aus dem Führerhauptquartier: Hitler beförderte Ebner zum Oberregierungsrat. Und schon kurz darauf konnte sich Ebner wieder über Post freuen. Diesmal kam sie aus der Feld-Kommandostelle des Reichsführers-SS: Himmler beförderte ihn zum SS-Obersturmbannführer, Ebners höchsten SS-Rang, dem militärischen Rang eines Oberstleutnants vergleichbar.
Verhaftung und Flucht
Der Münchner Franz Josef Huber, fast sieben Jahre lang Chef der Gestapo Wien, und sein Stellvertreter Ebner entwickelten ein nahezu symbiotisches Verhältnis. […] Da Huber es schaffte, auch in kritischen Kriegszeiten ausgiebig Urlaub zu machen und immer öfter Krankheiten simulierte, übernahm Ebner praktisch die gesamte Verantwortung für die größte Gestapoleitstelle des Deutschen Reiches und führte sie monatelang völlig selbstständig. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte die düstere Metapher „graue Eminenz“ für Ebner fraglos ihre Berechtigung.
Als mit dem Tod Heydrichs Huber seinen Berliner Schutzpatron verloren hatte und sein Intimfeind Ernst Kaltenbrunner Chef des Reichssicherheitshauptamtes geworden war, verschlechterte sich mit der Position Hubers auch die seines Stellvertreters. Es begannen filmreife interne Intrigen gegen Huber und Ebner, die mit Mitteln nach Art des Hauses ausgetragen wurden. Aber erst Ende 1944, als Huber kaum noch am Morzinplatz anzutreffen war, gelang es Kaltenbrunner, ihn hinauf- und gleichzeitig aus der Gestapo hinauszubefördern.
Ebner war nun, nach Verlust seiner symbiotischen Beziehung, als bedingungsloser Gefolgsmann Hubers schutzlos den von Berlin gesteuerten Denunziationen der eigenen Kollegen ausgeliefert. Dr. Robert Mildner, der provisorische Nachfolger Hubers, ein Landsmann und Vertrauter Kaltenbrunners, erstattete gegen Ebner Anzeige wegen „Wehrkraftzersetzung“, „Häftlingsbegünstigung“ und „Korruption“. Ebner wurde am 9. Januar 1945 in seinem Arbeitszimmer verhaftet und vom Höchsten SS- und Polizeigericht München dreifach zum Tode verurteilt.
Da er vor den Angehörigen der Leitstelle Wien hingerichtet werden sollte, wurde er nach Neunkirchen, südlich von Wien, gebracht. Unter abenteuerlichen Umständen, in den Trümmern des zerfallenden Nazireichs, gelang es Ebner, in sein Elternhaus bei Lienz zu fliehen.
Ebner, der in prominenter Umgebung von Nazigrößen wie Schirach oder Kaltenbrunner auf der ersten Kriegsverbrecherliste der Alliierten auftauchte, wurde kurz darauf von den Briten verhaftet und in Kärntner Lagern interniert. Im Februar 1947 wurde er an die österreichischen Behörden überstellt und im Dezember 1948 zu 20 Jahren schweren Kerkers verurteilt.
Strategie der Rückversicherung
Während unmittelbar nach Kriegsende die österreichische Justiz rigoros gegen NS-Verbrecher vorging, lief der Prozess gegen Ebner bereits vor der Kulisse des einsetzenden Kalten Krieges. Gab es in den Jahren 1946 und 1947 noch über 13.000 Verurteilungen (davon 43 Todesurteile, von denen 30 vollstreckt wurden), ging ab 1948 die Zahl der Verurteilungen schlagartig zurück. Dass Ebners Prozess ein gewaltiges Pressespektakel auslöste und die Intervention aller vier Besatzungsmächte erforderte, ist nicht untypisch für diese Phase des Übergangs. Hatten die Volksgerichte der unmittelbaren Nachkriegszeit, in erster und einziger Instanz, noch möglichst viele NS-Täter abgeurteilt, ging es nach 1948 bereits zunehmend um die geräuschlose Wiedereingliederung ehemaliger Nazis in die Gesellschaft und damit um die Akquirierung ihrer Wählerstimmen.
Da der Staatsanwalt seine Funktion weniger als Ankläger, sondern eher als Verteidiger Ebners auffasste, wurde er auf Betreiben der Alliierten aus dem Verkehr gezogen und durch einen anderen ersetzt, der für Ebner die Todesstrafe forderte. Nur seine vorausschauende Strategie der Rückversicherung, mit dem Ergebnis eines beeindruckenden Aufmarsches von Entlastungszeugen, rettete sein Leben.
Nachdem ihn Bundespräsident Körner 1953 begnadigt hatte, verbrachte Ebner den Rest seines Lebens in völliger Bedeutungslosigkeit. Er arbeitete von 1955 bis 1968 als Hausverwalter einer Wohnbaugesellschaft in Wien, überqualifiziert und unterbezahlt, tief deprimiert wegen der Undankbarkeit der Menschen, vor allem der „vielen Geistlichen“, die er damals gerettet hätte.
[…] Das Leben der grauen Eminenz versank in grauer Alltäglichkeit. Seit Langem durch Asthma und Herzschwäche schwer angeschlagen, starb Dr. Karl Ebner 1983 in Lienz; er wurde nach Wien überführt und am Heiligenstädter Friedhof bestattet.
*Der vorliegende Text ist eine leicht gekürzte Fassung der Einleitung zum Buch „Die Unperson. Karl Ebner: Judenreferent der Gestapo Wien. Eine Täterbiografie“, soeben erschienen in der Edition Raetia. Das Buch des Historikers Thomas Mang wird am 22. Oktober an der Freien Universität Bozen vorgestellt (20 Uhr, Raum D1.03).
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