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Vera Mair am Tinkhof
Veröffentlicht
am 17.12.2014
LeuteFlüchtlinge und Asylwerber

Die Schatten am Brenner

Veröffentlicht
am 17.12.2014
Hin und her und wieder zurück: Wie sich die Flüchtlinge am Brenner abmühen gegen Grenzkontrollen und europäische Asylpolitik.
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Natürlich soll ein Journalist objektiv sein, natürlich nur Beobachter. Natürlich sollte an dieser Stelle nur erzählt werden, wie wir uns aufgemacht haben zum Brenner, wem wir dort begegneten, und vielleicht sollten wir wirklich nur erzählen, was man uns erzählte.

Doch die Thematik sprengt den Rahmen einer Momentaufnahme, auch wenn sie in dieser Form für uns vielleicht angenehmer wäre. Es ist zunächst nur ein Mensch am Brenner. Oder auch: Ein fremder Mensch in diesem Land. Was hat der da zu suchen, fragen manche, die hier schon vor ihm waren. Die Antwort darauf findet man nicht nur bei diesem Menschen allein. Es sind Dinge, die auch mit uns zu tun haben.

Das Unwissen des Wohlstandes

Letzten Herbst war ich in Südafrika. Meine Mitbewohnerin kam aus Nigeria. Eines Abends kamen wir auf ihren Ehering zu sprechen, der eigentlich kein solcher war. Ein Provisorium, sagte sie. Sie hatte vom ihrem Mann einen schönen, großen Ring bekommen, ewig hatte er dafür gespart. Den trug sie immer. Bis zu jenem Tag, als sie in Nigeria auf dem Weg nach Hause war, über holprige Straßen fuhr und von bewaffneten Männern aufgehalten wurde. Sie forderten all ihr Geld, ihren Schmuck, und sie weinte nur und gab ihnen alles und bat, nur nicht zu schießen. Es mag nicht nur am Englisch gelegen haben, dass es in unserem Gespräch ein kurzes Missverständnis gab – ich hatte gedacht, ein einzelner, leicht bewaffneter Mann stand da am Straßenrand. Ich sagte in meiner Naivität, warum sie sich nicht geduckt hatte in ihrem Auto, aufs Gaspedal gedrückt und losgeprescht war, an ihm vorbei in Richtung nach Hause. So oder so ähnlich. Sie sah mich mit großen Augen an, „Wie stellst du dir das vor bei einer Gruppe von Männern, die Maschinengewehre auf dich richten“, und in meiner Aussage offenbarte sich das ganze westliche Unwissen eines privilegierten Wohlstandes, das in solchen Dimensionen von Gewalt nicht zu denken vermag.

Vielleicht liegt es daran, dass wir in solchen Dimensionen – von Armut, Gewalt und Elend – nicht denken können, dass das Schicksal der Asylwerber manchen wenig am Herzen liegt. Wir wachsen auf in einer Welt, die von Menschenrechtsverletzungen nur aus Büchern und Fernsehen hört. Wir wachsen auf ohne Angst um Leib und Leben, wir vertrauen auf funktionierende Infrastruktur und funktionierende politische Organisationen, und wir gehen zur Schule, jahrelang, ob wir wollen oder nicht. Wir wissen wenig von einer Welt, die unter Korruption und Bürgerkriegen leidet, und in der eine florierende Wirtschaft erschwert wird durch Maßnahmen, von denen wir profitieren. Wir sind auf der Gewinnerseite einer europäischen Handelspolitik, die die eigene Landwirtschaft durch hohe Subventionen künstlich wettbewerbsfähig macht. So werden EU-Produkte auf afrikanischen Märkten billiger als lokale Erzeugnisse angeboten, ebenso wie stark subventionierte US-amerikanische Baumwolle – ein kleines Paradox, da gerade die USA und die europäische Union in Fragen der weltweiten Handelspolitik von den anderen Ländern unbedingten Liberalismus fordern. Hält man sich vor Augen, dass etwa in Burkina Faso der landwirtschaftliche Sektor 35 Prozent des BIP und Baumwolle 50 Prozent der gesamten Exporte ausmacht, kann man erahnen, was die knappe Milliarde Dollar an Agrarsubventionen bedeutet, die die reichen Industrienationen täglich für ihre Produkte aufwenden. Der Anteil Afrikas am Welthandel betrug 2013 ganze drei Prozent. Neben diesen wirtschaftlichen Aspekten sorgen Diktaturen oder Terrorgruppierungen (wie die IS im Nahen Osten oder Boko Haram in Nigeria) dafür, dass Europa wie das gelobte Land erscheint.

„Und dann schicken wir sie zurück, und im Senegal entsteht das nächste Silicon Valley.”

Vor einigen Wochen waren Südtiroler Politiker bei einer Diskussionsrunde an der Uni Innsbruck zu Gast. Es ging, natürlich, um die Flüchtlinge, die Asylwerber und sogenannten Wirtschaftsmigranten. Ein Streitpunkt war die oft geforderte Notversorgungsstelle am Brenner. Noch gibt es dort keine organisierte Struktur für die rund 200 Menschen, die wöchentlich von den österreichischen Ordnungskräften an die italienische Grenze zurückgeschickt werden. Der Freiheitliche Pius Leitner sprach sich gegen solche Unterkünfte aus, so wie auch eine breite Mehrheit von 26 Landtagsabgeordneten bei einer Abstimmung in den Tagen zuvor.
Sven Knoll meinte, der Aufenthalt der Gestrandeten solle so gestaltet sein, dass das (unbedingte) Zurückkehren in die Heimat zur Erfolgsgeschichte wird: Die Leute sollten einfach hier etwas von uns lernen, damit sie dann bald wieder in ihr Herkunftsland zurück und dort etwas aufbauen können. Das sagte er dreimal. Als läge das Problem einzig in einem Mangel an Fähigkeiten, den wir mit unseren Superkräften schon beheben können. Und dann schicken wir sie zurück, und im Senegal entsteht das nächste Silicon Valley.

Keine menschliche Flüchtlingspolitik

Es ist ein an sich schöner Gedanke, dass Wissen und Bildung die Dinge besser machen. Trotzdem ignoriert er die Tatsache, dass manchen Zuständen damit nicht beizukommen ist, ebenso wenig wie mit Diplomatie und an Bedingungen geknüpfte Entwicklungshilfe, mit Wirtschaftsmaßnahmen und Waffenembargos. Er ignoriert auch die Tatsache, dass fast ein Viertel der Menschen, die den Weg über das Mittelmeer nehmen, aus Eritrea kommen – ein Land, das die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ein einziges „gigantisches Gefängnis“ nennt. Grund dafür ist ein System der Sklaverei, das sich als Militärdienst maskiert: Nach dem Abitur wird jeder eingezogen, offiziell für 18 Monate. Tatsächlich dauert der Wehrdienst, der Zwangsarbeit miteinschließt, oft Jahrzehnte. Einen Beruf ausüben, studieren, frei leben – kaum möglich in diesem Land, in dem ein Mensch nur Söldner ist. Auf Desertation steht Folter. Seit 2005 verlassen monatlich 3.000 Eritreer ihr Land, schreibt Amnesty International.

Wenn man der Flüchtlingsdebatte ihr Pathos nimmt, ist es am Ende wohl – simpel gesagt – ein unglückliches Zusammenspiel aus wirtschaftlichen, geographischen und politischen Faktoren, das diese Menschen an den Brenner bringt. Und es ist wohl – simpel gesagt – eine glückliche Fügung unseres Schicksals, dass wir in unseren warmen Häusern über diese Menschen sprechen und zu Gericht sitzen, ob wir sie denn mögen wollen oder nicht.
Dagegen ist es kein Glück oder Unglück – als solches dem eigenen Handelsspielraum größtenteils entzogen –, dass die zuständigen EU-Institutionen nicht annähernd Antworten auf die vielen Fragen finden. Die stern-Autorin Frauke Hunfeld kann zu recht nicht begreifen, „dass Europa die Harmonisierung von Staubsaugerbeuteln durchsetzen kann, aber nicht eine menschliche Flüchtlingspolitik“ (so im Anhang einer ihrer Artikel zur Debatte).


Das politische Versagen zeigt sich wohl nirgends so offensichtlich und bildhaft wie am Brenner, wo die Einwohner regelmäßig Beobachter eines mäßig geglückten Ping-Pong-Spiels werden: An einer Seite kommen die Menschen vom Norden zurück, zurückgebracht von österreichischen Ordnungskräften. Die meisten wollen nach Deutschland, wenige schaffen es dorthin. Sobald sie ohne Papiere erwischt werden, kommen sie zurück an die italienische Grenze. Von dort geht es dann meist sofort wieder weiter, in die Richtung, von der sie eben kamen. Hin und her und hin und her. Träume treffen auf Gesetze, und keiner will sich beugen. Die meisten der Flüchtlinge, Asylwerber, Wirtschaftsmigranten – es gibt viele Begriffe für die Reisenden – haben ein Ticket bis nach München.
Dorthin wollen auch zwei junge Männer, die offen mit uns reden. Einer der beiden kommt aus Marokko, der andere aus Kolumbien. Alle anderen, die man befragt, kommen aus „Bressanone“, so sagen sie zumindest. Es scheint, als hätte ihnen diese Antwort jemand vorgegeben, als Pauschalreplik auf die Frage ihrer Herkunft. Alle sind vorsichtig, skeptisch gegenüber weißer Neugier.

Auf dem Weg Richtung Norden

Vorsichtig ist auch das Bahnhofspersonal, und die Polizei natürlich auch: Zur Flüchtlingsproblematik könne man nichts sagen, so der einhellige Kanon. Geht nicht, darf man nicht, sensibles Thema. Man kann also nur selbst beobachten, was so vor sich geht. Ein Zug kommt an, ein EC Richtung München. Kaum öffnen sich die Türen, treten aus jedem Ausgang bewaffnete Polizisten. Eine Fahndung, sagt einer, wegen der Flüchtlinge. Jeden Tag seien welche ohne Papiere unterwegs, auf dem Weg Richtung Norden. Vor einer Tür drückt sich ein junges Pärchen herum, beide schwarz. Das Mädchen versteckt ihren Kopf in ihrer großen Kapuze, der junge Mann legt einen Arm um sie. Sie versuchen unauffällig in den Zug zu kommen. Kaum erblicken sie den Polizisten vor der Zugtür, halten sie inne. Der Polizist scannt alle Einsteigenden mit Blicken, das Pärchen weicht nach links aus, aus seinem Blickfeld. Sie steigen nicht ein. Als die Polizei weiter patrouilliert, verlassen sie den Bahnsteig.

Der junge Mann aus Marokko meint, es seien zwei Libyer. Es scheint eine Gemeinschaft unter diesen Menschen zu geben, sie wissen voneinander. Gleich darauf sitzen alle zusammen in der Bahnhofsbar, weit hinten im Raum mit den Spielautomaten. Wir fragen das Pärchen, das in den Zug nicht eingestiegen ist, woher sie denn kommen. Bressanone, sagen sie.

„Die Menschen am Brenner, sie sind moderne Helden des Absurden: Wie Sisyphos mühen sie sich und kommen doch immer wieder an den Fuß des Berges zurück, weil sie den Gipfel nie erreichen.”

Der junge Marokkaner erzählt, er sei schon seit sechs Jahren unterwegs. Sechs Jahre gelebt in einem Vakuum, wie in einer fiktiven Wartehalle – aus dem einen Staat gegangen, im neuen noch nicht angekommen. In der Zeit hätte er schon mal sechs Monate in Deutschland gelebt. Er sagt nicht, ob er dort Asyl beantragt hat. Hätte er dies getan, wäre aufgrund der Dublin III- Verordnung jede Möglichkeit in Italien verspielt. Ein abgelehnter Asylantrag in einem EU-Mitgliedstaat verhindert jeden weiteren Versuch in einem anderen. Klappt es nicht beim ersten Mal, bleibt einem die gesamte europäische Union endgültig verwehrt.

Ort zwischen zwei Welten

Wie er anfangs nach Italien gekommen ist, fragen wir. „Lunga storia“, sagt er und lacht. Mehr sagt er nicht. Wo sie heute schlafen, fragen wir ihn. Die Antwort bleibt vage. Wenn er keine Antwort darauf hat, nimmt er das mit bewundernswertem Leichtmut. Er blickt auf den Zugfahrplan, in einer Stunde fährt ein Zug nach Innsbruck, den werden sie nehmen. Auf ein Neues. Sie probieren es weiter, vielleicht kommen sie irgendwann wirklich an – und nicht wieder am Brenner, an diesem Ort zwischen zwei Welten, der nur Haltestelle und keine Heimat ist. Die Menschen am Brenner, sie sind moderne Helden des Absurden: Wie Sisyphos mühen sie sich und kommen doch immer wieder an den Fuß des Berges zurück, weil sie den Gipfel nie erreichen. Hin und her und vor und zurück, ohne Aussicht auf Erfolg, und so vergehen die Tage. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen, schrieb Camus dazu, und wenn diese Gipfel die Mühlen der europäischen Flüchtlingspolitik sind, dann muss das Herz vieler sehr gut gefüllt sein.

Überdurchschnittlich lange dauert dieser Kampf. Im Jahr 2013 betrug die durchschnittliche Bearbeitungsdauer von Asylanträgen beim deutschen Bundesamt über sieben Monate. Somalier müssen mit einer Wartezeit von etwa 15 Monaten rechnen, Eritreer warten knapp 17 Monate. Dafür haben letztere besonders hohe Chancen auf positive Bearbeitung ihres Asylantrags: Von diesen knapp 10.000 Anträgen seit Jahresbeginn wurden nur elf abgelehnt. Doch bis dieser Antrag gestellt werden kann, steht ein langer Weg bevor. Das Passieren der italienischen Grenze ist ein letzter Schritt auf einer langen Reise, bei der vieles schiefgehen kann. Schlepperbanden profitieren vom neuzeitlichen Exodus, bezahlt werden sie oft mit den Ersparnissen ganzer Familien. Zwischen Ziel- und Herkunftsland liegt auch noch das Mittelmeer, dessen Überfahrt viele nicht überleben. Immer mehr Aktivisten plädieren daher für die Möglichkeit, bereits im Herkunftsland Asyl anzusuchen, um dann auf sicherem Weg nach Europa zu kommen. Bis es allerdings soweit ist, bleibt die Flucht ein Spiel mit vagen Möglichkeiten. Der ganze Weg besteht aus Hoffnung und keiner Sicherheit. Viele aus Eritrea, Somalia und dem Südsudan nehmen daher die weit kürzere Route ins Nachbarland Äthiopien. Dieses verfolgt eine open-door-policy, eine Politik der offenen Türen. Jeder darf hinein. Im August dieses Jahres beherbergte und versorgte das Land 580.000 Flüchtlinge. Ausgerechnet Äthiopien, ein Land, das selbst von allem zu wenig hat. Gleichzeitig sprechen europäische Länder von mangelnden Ressourcen und ausgereizten Kapazitäten.

Menschen, die auf Menschen treffen

Im Nahen Osten ist die Zahl der Flüchtlinge noch höher. Ein Strom von 2,6 Millionen Syrern erreichte die Nachbarstaaten wie Jordanien, den Libanon und die Türkei, so das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (Stand März 2014). Zum Vergleich: Im ersten Halbjahr 2014 beantragten 230.000 Menschen Asyl in Europa. In Italien wurden laut Innenministerium zwischen Jänner und September diesen Jahres 44.040 Asylanträge gestellt (eine anschauliche Darlegung der Verteilung von Asylbewerbern auf EU-Länder bietet DER SPIEGEL in dieser Grafik).

Die EU-Debatte ist umso verstrickter, da der Komplex aus Schuldzuweisungen – Italien registriert die Ankommenden nicht! Dublin III schiebt alle Last auf die südlichen Länder! Und alle stehlen sich aus ihrer Verantwortung! – diese menschliche Angelegenheit zu einer unpersönlichen institutionellen Problematik macht. Dies zeigt die gängige Wortwahl: Drittstaatsangehörige gegen Grenzen und Gesetze – es sind selten Menschen, die auf Menschen treffen. Die, die die Regelungen machen, die sie ausführen, die sie betreffen. Die Migranten, die zwischen Brenner und Hoffnung pendeln, und die EU-Beamten, die dasselbe zwischen Brüssel und Heimat tun.

Der Ur-Held des Absurden versteht das Schicksal letzten Endes als „eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muss“. Vielleicht gilt dasselbe für die Flüchtlingsdebatte. Vielleicht liegt es daran, dass die Harmonisierung von Staubsaugerbeuteln so viel einfacher erscheint.

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