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Illustrations by Sarah
Thomas Hanifle
Veröffentlicht
am 25.04.2025
LebenInterview mit Thomas Casagrande

Die langen Schatten der Väter

Die Väter waren SS-Männer: eine Kindheit zwischen Schweigen, Angst und Gewalt, Vertrautheit, Zuneigung und Liebe. Thomas Casagrande hat sich auf Spurensuche begeben. In seinem neuen Buch spricht er mit anderen Nachkommen von Tätern – und zieht erschütternde Parallelen zur heutigen gesellschaftlichen Kälte.
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Otto Casagrande und Sohn Thomas
Thomas mit Vater Otto Casagrande

Thomas Casagrande kennt den Abgrund aus nächster Nähe. Sein Vater Otto war Ortskommandant des Völkischen Kampfrings Südtirols (VKS) in Neumarkt, einer illegalen NS-Organisation, und meldete sich 1939 freiwillig zur SS. Er kämpfte an der Ostfront, wurde mehrfach verwundet und stieg bis zum SS-Untersturmführer auf. Nach dem Krieg versteckte er sich in Südtirol, half ehemaligen Nationalsozialisten bei der Flucht und arbeitete später für den westdeutschen Geheimdienst. In den 1950er-Jahren baute er sich ein bürgerliches Leben in Frankfurt auf.

In seinem neuen Buch „Schatten. Unsere Väter in der Waffen-SS“ (Raetia 2024) macht sich sein Sohn, der Autor und Politikwissenschaftler Thomas Casagrande, erneut auf Spurensuche. Er spricht mit anderen Kindern von SS-Männern, über ihre Väter, ihre Kindheit, über Gewalt, Schweigen und das, was sich im Innersten abgelagert hat. Es ist ein Buch über Verdrängung und Aufarbeitung, über biografische Brüche und die lange Nachwirkung von Täterschaft.

Im Interview mit BARFUSS erzählt Thomas Casagrande, warum die SS für seinen Vater „wie die Faust aufs Auge“ passte, wie er als Kind von der SS-Vergangenheit erfuhr – und warum ihn die emotionale Kälte, mit der heute auf Gräueltaten geblickt wird, zutiefst erschüttert.

BARFUSS: Dein Vater war bei der Waffen-SS. Warum?
Thomas Casagrande:
Bei meinem Vater spielen verschiedene Momente ineinander. Ich fange jetzt erstmal mit dem Persönlichen an. Vor Jahren ist das Buch von Bernd Wegner „Hitlers Politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933–1945“ erschienen, das für uns SS-Forscher so etwas wie ein Türöffner war. Darin werden zwar keine Biografien aufgearbeitet, aber es legt die Struktur des SS-Führungskaders, also der SS-Führer, offen. Besonders eindrücklich blieb die Erkenntnis, dass bei vielen dieser Männer die bürgerliche Biografie aus dem Lot geraten war – wie auch bei meinem Vater.

Thomas Casagrande

Wie war seine Kindheit?
Mein Vater war ein uneheliches Kind, sein Vater ist unbekannt. Die Mutter wurde früh krank, und diese Krankheit hat eine bürgerlich angepasste Biografie unmöglich gemacht. Er konnte die Schule nicht mehr besuchen, hatte keinen geregelten Weg. Und das hat in ihm den Wunsch sehr stark ausgeprägt: Er wollte „etwas werden“. Aber das klassische „Normalleben“ – Vater, Mutter, Familie, Schule – war ihm verwehrt. Er hat sich das nicht eingestehen wollen. Und genau das spielte in seiner Entscheidung, zur SS zu gehen, eine große Rolle. Und dann kommt noch etwas hinzu.

Und zwar?
Die SS beschwerte sich 1943 darüber, dass die Südtiroler zwar hervorragende Soldaten seien, aber durch die starke Anbindung an die katholische Kirche in den Elternhäusern davon abgehalten würden, zur SS zu gehen. Die katholische Kirche hatte sich über den antiklerikalen Ton der SS beschwert. Mein Vater hatte aber ein sehr schwieriges Verhältnis zur katholischen Kirche, zum einen, weil er an einer Klosterschule als Bub missbraucht wurde – das hat er mir einmal erzählt, sehr glaubwürdig. Zum anderen, weil der Pfarrer seinen Großeltern gesagt hatte, sie dürften ihn nicht zu sich nehmen, weil er ein uneheliches Kind sei. Das ließ man damals nicht ins Haus. Er war also antiklerikal – und da passte die SS wie die Faust aufs Auge.

Wann hast du das erste Mal erfahren, dass dein Vater bei der SS war?
Das habe ich schon als kleines Kind mitbekommen. Ich erinnere mich, dass er mir einen Bildband zeigte – oder mehrere, ich weiß es nicht mehr genau. Darin waren Bilder von SS-Männern. Er erklärte mir: „Das waren meine Vorgesetzten.“ Und dass er selbst bei der SS gewesen sei. Aber ich wusste nicht, was das bedeutete. Erst in der Schule – in den 1970ern in Frankfurt – wurde das Thema auf einmal präsent. Da waren wir 15, 16 Jahre alt, und da kam das Thema Nationalsozialismus auch im Unterricht zur Sprache. Und mit dieser schulischen Auseinandersetzung wurde mir bewusst, was es heißt, wenn der Vater bei der SS war. Für mich war das kein Schock – es passte einfach zu dem Mann, den ich kannte.

Ich machte keine Hausaufgaben, hatte keine Disziplin. Und mein Vater reagierte mit Gewalt. Heftig. Ich war dann irgendwann größer als er – mit 16 – und habe gesagt: Wenn er mich noch einmal schlägt, schlage ich zurück.

Was heißt das?
Mein Vater hat seine väterliche Ordnung auch mit Gewalt durchgesetzt. Diese Gewalt traf vor allem mich – weniger meinen Bruder. Mein Bruder war angepasst, ich war es nicht. Ich bekam mehr Schläge, mehr Drohungen. Besonders heftig wurde es, als sich abzeichnete, dass ich die Träume meines Vaters hätte verwirklichen können: Ich kam aufs Gymnasium. Darauf war mein Vater stolz, wahnsinnig stolz. Aber als ich in die Pubertät kam, lief es nicht mehr so gut – ich machte keine Hausaufgaben, hatte keine Disziplin. Und mein Vater reagierte mit Gewalt. Heftig. Ich war dann irgendwann größer als er – mit 16 – und habe gesagt: Wenn er mich noch einmal schlägt, schlage ich zurück. Das war der Wendepunkt. Von da an war ich frei. Und ich konnte die SS gegen ihn einsetzen.

Inwiefern?
Wenn wir uns gestritten haben und er mich kritisierte, konnte ich kontern: „Du warst bei der SS! Was habt ihr denn gemacht? Leute umgebracht. Ihr wart Rassisten!“ Ich war politisch links. Frankfurt war eine Hochburg der Linken damals – Häuserbesetzungen, Demos, Straßenschlachten. Ich war dabei. Und die SS meines Vaters war für mich ein Angriffspunkt, ein Ventil. In meinem Buch beschreibe ich eine Szene, in der mein Vater ausrastet und es fast zu einer Schlägerei zwischen uns gekommen wäre. Die SS war ein Punkt, an dem sich der Konflikt mit meinem Vater zuspitzte – politisch und persönlich. Aber ich möchte auch sagen: Ich wurde oft gefragt, ob mich das überrascht hat – dass mein Vater bei der SS war. Und ich sage: Nein. Es hat einfach zu ihm gepasst. Zu seiner Haltung. Zu seiner Art. Zu seinem Denken. Es war in sich stimmig.

Was empfindest du für ihn?
Mein Vater war sehr widersprüchlich. Ich habe ihn geliebt – und ich war auch voller Zorn auf ihn. Er war ein Mensch, der mich geschlagen aber auch geliebt hat, der für mich da war. Das macht es kompliziert. Ich habe oft darüber nachgedacht, was er sagen würde, wenn er wüsste, dass ich seine Geschichte öffentlich gemacht habe – in meinen Büchern, Vorträgen, Interviews. Es war eine große Herausforderung für mich. Ich habe gehadert, gezweifelt, mich gefragt, ob ich das Buch überhaupt hätte schreiben dürfen. Aber ich denke, mein Vater wäre heute damit zufrieden. Dass ich ihn aus der Namenlosigkeit geholt habe. Dass er in den „Dolomiten“ porträtiert wurde. Dass er in meinen Büchern vorkommt. Das würde ihm gefallen.

In seinem Buch spricht Thomas Casagrande mit anderen Kindern
von SS-Männern, über ihre Väter, ihre Kindheit, über Gewalt,
Schweigen und das, was sich im Innersten abgelagert hat.

Auch, dass du seine Ambivalenz beschreibst?
Ja, das könnte er akzeptieren. So war er. Ich war übrigens mehrere Jahre in psychoanalytischer Therapie. Und meine Therapeutin bestand darauf, dass ich anerkenne, dass mein Vater mich geliebt hat. Sie sagte: Kinder, die nicht geliebt wurden, tragen tiefere Wunden. Und sie hatte recht. Ich bin nicht daran zerbrochen. Ich bin nicht verbittert. Das liegt daran, dass da trotz allem Liebe war.

Hast du mit der Geschichte deines Vaters Frieden geschlossen?
Auf eine gewisse Weise, auch wenn das Gleichgewicht fragil ist, es jederzeit kippen kann. Aber ja: Ich habe der Geschichte etwas abgerungen. Sie hat mich verändert. Ich habe dadurch auch einen Teil meiner Herkunft zurückgewonnen. Ich war jahrelang nicht in Südtirol. Und dann kam ich wieder – durch meine Forschung. Heute fühle ich mich dort nicht mehr fremd. Ich fühle mich zur Hälfte als Südtiroler. Ein besonderer Moment war, als der Wirt von der Enoteca in Neumarkt einem deutschen Gast sagte: „Na, der ist doch halb von da.“ Das war wie ein Ritterschlag. Ich bin durch diese Arbeit bei mir angekommen.

Was hast du von der Auseinandersetzung mit deinem Vater gelernt?
Ganz klar: Wir alle sind voller Ambivalenzen und zu Mitgefühlslosigkeit fähig. Auch ich. Wenn wir uns nicht regelmäßig mit uns selbst auseinandersetzen, passiert das schneller, als wir denken. Heute wird oft mitgelitten – aber nur verbal. Die Empathie ist häufig eine Floskel. Und das hat mich die Geschichte meines Vaters gelehrt: Wie schnell man zum Unmenschen werden kann. Es braucht nicht viel. Und das gilt nicht nur für damals – das gilt auch heute, für uns.

Es ist leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Viel schwerer ist es, zu erkennen, dass auch wir nicht gefeit sind.

Wurdest du schon gefragt, ob du deinen Vater verstehst?
Häufig, ja. Und ich verstehe, wie man so wird. Aber das heißt nicht, dass ich es gutheiße. Es ist kein Freispruch. Es ist kein „Waschgang“. Es ist ein Versuch, den Menschen dahinter zu sehen – und die Prozesse zu begreifen. Wie der Philosoph Tzvetan Todorov sagte: „Wenn wir an ihrer Stelle gewesen wären, hätten wir werden können wie sie.“ Das ist kein Freispruch, sondern eine Mahnung. Es ist leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Viel schwerer ist es, zu erkennen, dass auch wir nicht gefeit sind.

Du sprichst davon, dass Menschen in bestimmten Situationen zu Mördern werden können. Wie gehst du mit dieser Erkenntnis um?
Die Väter im Buch waren damals in einer bestimmten Situation. Einige sind zu Mördern geworden. Andere zu Mittätern, selbst wenn sie nicht selbst am direkten Morden beteiligt waren. Sie wurden zu dem, was Europa bis heute in Schrecken versetzt: SS. Aber das allein reicht nicht. Wichtig ist der kritische Blick – nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit. Es bringt nichts zu sagen: „Was hätte ich damals getan?“ Ich lebe heute. Was machen wir mit der Welt, wie sie ist? Wo sind die Konsequenzen? Wo leisten wir Widerstand? Diese Auseinandersetzung hat mich sehr geprägt, auch versöhnt mit vielem. Sie hat meinen Blick auf heute geschärft.

In deinem Buch hast du auch das Gespräch mit deinem Bruder dargestellt. Wie war das für dich?
Wir sind zusammen in einem kleinen Zimmer groß geworden, aber unterschiedlicher könnten wir nicht sein. Das war mir schon immer klar. Unsere Biografien, unser Weltbild – komplett verschieden. Und trotzdem verstehen wir uns gut. Wir essen zusammen, verbringen Zeit miteinander. Ich stellte ihm die Frage, wie es für ihn war, zu erfahren, dass unser Vater bei der SS war. Er antwortete, er hätte sich vorstellen können, selbst zur SS zu gehen. Und dann sagte er zu mir: „Und du wärst bei den Partisanen gewesen.“ Das war ein Schlüsselmoment. Da habe ich gemerkt, wie verschieden selbst Kinder einer Familie auf das Gleiche blicken können.

Karl Nicolussi-Leck, SS-Hauptsturmführer und Ritterkreuzträger, mit seinen
drei Enkeln.

Wie hat dein Bruder die Gewalt deines Vaters erlebt?
Er sagt, er sei kaum geschlagen worden, höchstens mal eine Ohrfeige. Für ihn war das nicht schlimm. Ich habe das ganz anders erlebt. Ich bekam viel mehr ab. Mein Bruder sagte damals zu mir: „Warum sagst du ihm denn, was du denkst? Sag doch einfach ja.“ Aber ich konnte das nicht. Ich wollte nicht lügen, wenn ich dachte, dass mein Vater unrecht hatte.

Was sagt er zu den belegten Verstrickungen eures Vaters?
Mein Bruder sagt, es interessiert ihn nicht. Ob unser Vater bei Partisanenerschießungen oder im KZ-Außenlager war – egal. Ich glaube, mein Vater hat nicht nur zugesehen. Ich bin sicher, er hat auch selbst Hand angelegt. Wer sein Kind prügelt, der kann auch einem Gefangenen gegenüber brutal sein.

Wie gehen deine eigenen Kinder mit deiner Forschung um?
Mein Bruder hat keine Kinder, ist aber sehr stolz auf meine Arbeit. Meine Kinder, ich habe drei, sind, soweit ich das beurteilen kann, frei von transgenerationalem Trauma. Ich hatte immer Angst, besonders bei meinem Sohn, aber ich habe sogar eine Familienaufstellung gemacht. Da kam nichts. Sie stehen hinter mir. Und sie sagen auch: „Wir müssen das nicht mehr aufarbeiten, weil du es getan hast.“

Das Dritte Reich war vorbei, aber der Anspruch an die Kinder, sich in eine nicht mehr existierende Weltordnung einzufügen, blieb.

Was war dein Antrieb, deine Recherchen auf andere Familien mit SS-Vätern auszuweiten?
Zuerst waren es Zufälle. Gespräche, in denen ich mitbekommen habe, dass andere auch Väter in der SS hatten. Viele wollten nicht wissen, was sie da getan hatten. Und ich habe mich gefragt: Wie kann man das nicht wissen wollen? Dass daraus ein Buch wurde, hat sich durch Gespräche mit dem Verleger ergeben. Als mir klar wurde, wie viele Menschen das betrifft, habe ich gesagt: Das machen wir.

Hat dir das geholfen, auch deine eigene Geschichte besser zu verstehen?
Absolut. Die Struktur war ähnlich. Diese Väter waren autoritär. Auch dort, wo keine Gewalt war, war die Drohung da. Viele Kinder wurden nicht geschlagen, weil sie sich angepasst haben. Und ich habe erkannt: Diese Muster lassen sich auf viele übertragen. Bei einigen porträtierten Vätern in meinem Buch war das Verhältnis zu ihren Kindern ausgesprochen schlimm. Diese Kinder haben in ihren Familien wirklich furchtbare Dinge erlebt. Das sind erschütternde Zeugnisse. Und das war für mich etwas, das mir im Rückblick nochmals klarer wurde.

Einer deiner Interviewpartner sagte, sein Vater habe sein Kriegstrauma an der Familie ausgelassen. Trifft das auf alle zu?
Ich denke, ja. Ich habe bewusst keine Bewertungen vorgenommen, weil es um echte Menschen mit echten Namen geht. Einige konnten nicht alles sagen, aus Rücksicht auf Geschwister. Aber alle waren konfrontiert mit einem traumatisierten Vater. Die Frage ist, wie viel davon an sie weitergegeben wurde. Und ob sie selbst reflektieren konnten. Nicht alle konnten das. Aber das wollte ich auch so stehen lassen. Und das war mir besonders wichtig: Dass die Leser:innen auch mitbekommen, dass manche Menschen gar nicht in der Lage sind, kritisch zu reflektieren – wie etwa mein Bruder. Das ist die Realität in Deutschland, in Europa. Ich bin da vielleicht ein extremes Beispiel in die andere Richtung, aber es ist nicht so, dass meine Generation flächendeckend kritisch mit der Geschichte der eigenen Väter umgegangen wäre.

Gab es Geschichten, die dich besonders berührt haben?
Ja, sicher. Was mich besonders beschäftigt hat, war der Umgang der Vätergeneration mit ihrer Vergangenheit in der SS. Ich habe das bei meinem eigenen Vater erlebt: Wenn er später in ein Lokal ging, setzte sich oft jemand im gleichen Alter an seinen Tisch. Und dann begann das typische Kameradentreffen: „Wo haben Sie gedient?“ – „Wehrmacht, Division X.“ – „Ah, ich war bei der SS-Division „Das Reich“.“ Und dann wurde angestoßen. Das war ein beinahe ritualisiertes Verhalten, geprägt von Glorifizierung, Kameradschaftsseligkeit und völliger Verdrängung.
Gleichzeitig spürte man bei allen diesen Vätern eine latente Bedrohung, die von ihnen ausging. In manchen Familien wurde das nie offen ausgesprochen, in anderen war es sehr deutlich – etwa bei Martin Sieder, der in meinem Buch sagt, dass er seinem Vater nie verzeihen konnte, sein Trauma an ihnen ausgelassen zu haben. Dieser hatte seine Kinder regelrecht tyrannisiert, um sie in ein Schema zu pressen, das mit der Realität nach dem Krieg nichts mehr zu tun hatte. Das Dritte Reich war vorbei, aber der Anspruch an die Kinder, sich in eine nicht mehr existierende Weltordnung einzufügen, blieb.
Am stärksten bewegt hat mich allerdings das Interview mit Giulia. Ihr Vater war im Zentrum des Genozids. Er war in Krakau, Teil der SS-Strukturen, die wir aus dem Film Schindlers Liste kennen. Viele kennen die Szenerie: das Ghetto, das KZ Plaszow, Amon Göth. Dort war ihr Vater.


Martin Trojer Anfang der 1960er-Jahre mit Tochter Giulia: „Mit ihm zu leben,
wie ein Gefängnis.“

Wusste Giulia, dass der Vater direkt am Genozid beteiligt war?
Sie wusste, dass er bei der SS war, sie wusste von Verbrechen, aber dass er dortdabei war – das war neu für sie. Und das unterscheidet ihre Geschichte von vielen anderen im Buch. Bei ihr war es nicht nur eine Vermutung, sondern ein belegter direkter Zusammenhang zu den systematischen Morden.
Was mich so tief berührt hat: Giulias Geschichte spiegelt auf erschreckende Weise meine eigene wider. Sie ist heroinabhängig geworden, ich selbst habe früh zu Alkohol und Drogen gegriffen – nur bin ich glücklicherweise nicht so tief gefallen wie sie. Ich war auch exzessiv, durchaus gewaltbereit, ab 15 Jahren ziemlich außer Kontrolle. Und diese Radikalität war mein Weg, mich dem Einfluss meines Vaters zu entziehen. Bei ihr war es Heroin – der perfekte Panzer. Wer auf Heroin ist, ist nicht erreichbar, nicht berührbar. Keine Angst, kein Schmerz kommt durch. Und das hat mich wirklich erschüttert.
Denn ich habe gespürt: Es hätte mir genauso ergehen können. Die Parallelen waren unheimlich. Auch sie hatte diesen Beginn mit Alkohol, Tabletten, Haschisch, LSD – genau wie ich. Aber bei ihr ging es tiefer, sie ist zunächst nicht mehr rausgekommen. Und erst später, mit großer Stärke, hat sie es geschafft, sich davon zu befreien. Diese Offenheit, mit der sie ihre Geschichte erzählt, hat mich sehr bewegt. Es war ein Moment der tiefen Verbindung – über Generationen hinweg.

Du sagst, du hättest einen Spiegel vorgehalten bekommen. War diese Auseinandersetzung mit den anderen Nachkommen auch für dich selbst eine Art Therapie? Hat dich das persönlich noch einmal ein Stück weitergebracht?
Ja, ich würde schon sagen. Es hat mir noch einmal klargemacht, dass jeder Mensch ein Individuum ist. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten – psychische, emotionale Strukturen, die sich über Generationen hinweg zeigen.
Durch das Buch und die Auseinandersetzung mit den anderen habe ich besser verstanden, woher bestimmte Haltungen heute kommen – insbesondere in Deutschland. Aber natürlich lässt sich das auch weiter fassen.
Es geht mir um die aktuelle emotionale Kälte, die ich wahrnehme. Vieles wirkt für mich überhaupt nicht reflektiert – weder inhaltlich noch emotional. Als Politikwissenschaftler und SS-Forscher – und damit auch ein Stück weit Militärhistoriker – kann ich bei manchen politischen Haltungen heute nur noch den Kopf schütteln. Es fehlt nicht nur an analytischer Tiefe, sondern auch an Mitgefühl.

Was mich aber am meisten erschüttert, ist die emotionale Gleichgültigkeit, mit der viele auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober reagieren – und gleichzeitig auf das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza. Da ist keine echte Anteilnahme spürbar, weder hier noch dort.

Was meinst du damit?
Ein Beispiel: Angela Merkel hat sich dagegen verwahrt, als man sie als „Putin-Versteherin“ diffamierte. Sie hat klargestellt, dass man Putin sehr wohl verstehen müsse – nicht, um ihn zu entschuldigen, sondern um überhaupt mit ihm kommunizieren zu können. Ohne Verständnis kein Waffenstillstand, keine Verhandlung, kein Widerstand. Das ist eine rationale Haltung, die heute kaum noch Gehör findet.
Was mich aber am meisten erschüttert, ist die emotionale Gleichgültigkeit, mit der viele auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober reagieren – und gleichzeitig auf das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza. Da ist keine echte Anteilnahme spürbar, weder hier noch dort. Alles wirkt wie ein Lippenbekenntnis.

Es ist, als ob man sagt: „Ja, der Holocaust – das war ganz schlimm, wir stehen an eurer Seite.“ Aber man fühlt nichts. Es wird keine Träne verdrückt. Niemand will sich aufregen – schließlich möchte man selbst kein Trauma spüren. Und deshalb ist es scheinbar völlig in Ordnung, wenn der Staat Israel nun mörderisch militärisch zurückschlägt. Sogar Vertreibung wird relativiert, nach dem Motto: „Na ja, die Palästinenser haben es ja auch provoziert.“
Ich finde: Jede Mutter und jeder Vater – gerade in Deutschland – der die Bilder der toten Kinder vom 7. Oktober sieht, sollte emotional reagieren. Und genauso angesichts der tausendfach getöteten Kinder in Gaza. Aber ich spüre davon wenig. Und da frage ich mich: Wo kommt das her? Was ist die Grundlage? Die emotionale Grundlage?

Hast du eine Erklärung dafür?
Es gibt eine frappierende Parallele zwischen dem heutigen Umgang mit politischen und menschlichen Konflikten und dem Umgang mit der eigenen Geschichte. Für jeden Deutschen ist der Holocaust ein Begriff, jeder hat sich irgendwie damit auseinandergesetzt. In der Schule, durch Bücher, durch Filme. Die einen mehr, die anderen weniger.
Aber wenn man fragt: „Was hat dein Vater genau im Krieg gemacht?“, dann wissen es die wenigsten. Und da frage ich: Wie passt das zusammen? Man bedauert den Holocaust, den Zweiten Weltkrieg – das ist Konsens. Aber kaum jemand fragt sich ernsthaft: Was hat mein Vater getan? In welcher Wehrmachts- oder SS-Einheit hat er gedient. Was hat sie gemacht? War er vielleicht in Lemberg, als dort Juden erschlagen wurden? Diente er in einem KZ?

Es ist die gesellschaftlich verbreitete emotionale Taubheit, die mich umtreibt, dir mir Angst macht und mich fragen lässt, ob wir wirklich so weit weg sind von der Geschichte und der Schuld unserer Väter.

Warum glaubst du, fällt es so schwer, diese Fragen zu stellen – selbst heute noch, Jahrzehnte nach dem Krieg?
Dieser Widerspruch ist für mich der Kern: Alle sagen, das war das Schlimmste, was je passiert ist – „Nie wieder!“ – aber kaum jemand schaut auf die eigene Familie. Laut einer aktuellen Umfrage glaubt ein großer Teil der Menschen in Deutschland, ihre Eltern oder Großeltern seien im Widerstand gewesen oder hätten den Nazis zumindest kritisch gegenübergestanden. Diese Selbsttäuschung und Verleugnung sind für mich unerträglich.
Der Nationalsozialismus konnte nur so erfolgreich sein, weil so viele am großen Ganzen mitgewirkt haben. Eigentlich müsste jeder sich fragen: Welchen Beitrag zum Krieg hat mein Vater geleistet? Hatte er vom großen Morden gewusst? Oder war er gar an Morden beteiligt? Egal ob er bei der Wehrmacht, der SS oder in der Zivilverwaltung tätig war. Welche Spuren hat mein Vater in mir hinterlassen? Wo hat sich das in mir abgelagert? Was macht das mit mir? Und ja, ich spitze es jetzt bewusst zu: Diese emotionale Kälte gegenüber der eigenen Geschichte ist vielleicht der Grund, warum so wenig Mitgefühl da ist – heute, im Umgang mit aktuellen Gräueltaten.

Hast du dich selbst das je gefragt?
Ja, ich frage mich das immer wieder. Manchmal spüre ich in mir Gewaltfantasien. Fantasien ist vielleicht zu viel gesagt. Eher sind es Gedankensplitter, Assoziationen, die mit Gewalt und Wut verbunden sind und mich erschrecken. Auch sind manche Erinnerungen quälend. Erinnerungen an Momente in meinem Leben, in denen ich mich gegenüber der Not oder dem Leid anderer kalt und unbeteiligt gezeigt habe. Und dann sehe ich, wie schon gesagt, diese Parallelen zu heute – zum Ukrainekrieg, dem Krieg zwischen Israel und Palästina. Aber auch der schamlose Gebrauch von Macht und der damit verbundenen schreienden Armut, dem pervertierten Reichtum und der achtlosen Zerstörung unserer Erde. Es ist die gesellschaftlich verbreitete emotionale Taubheit, die mich umtreibt, dir mir Angst macht und mich fragen lässt, ob wir wirklich so weit weg sind von der Geschichte und der Schuld unserer Väter.

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