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Angelika Aichner
Veröffentlicht
am 20.11.2020
LeuteInterview zum Lockdown

Die Krise im Kopf

Veröffentlicht
am 20.11.2020
Angst, Depression, Wut – die Psychotherapeutin Brigitte Andres erklärt, was der Corona-Lockdown mit der Psyche macht.
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Die Pandemie ist verheerend – auch für die psychische Gesundheit aller Altersgruppen. Virtuell versuchen wir zu ersetzen, was fehlt: Familienfeiern über die Videokonferenz-Software Zoom, Konzerte als Live-Streaming, therapeutische Hilfe via Skype. Aber die Einschränkung der sozialen Kontakte und das Fehlen physischer Nähe führt oft zu Einsamkeit – gerade in den dunklen Monaten. Ein zweiter Lockdown könnte noch mehr an der mentalen Gesundheit der Menschen kratzen, weiß Psychotherapeutin Brigitte Andres. Ein Gespräch über soziale Ängste, Fernunterricht und weshalb Corona von manchen bagatellisiert wird.

Wendeten sich seit dem ersten Lockdown mehr Patienten an Sie als noch vor der Krise?
Im Frühjahr war die Situation erstaunlich ruhig. Viele meiner Patienten pausierten ihre Behandlung, andere nahmen meine Beratung telefonisch oder via Videochat wahr. Seit September sind die Anfragen aber erheblich gestiegen, sodass mein Angebot und das meiner Kolleginnen bei weitem nicht ausreicht. Aktuell können in vielen psychotherapeutischen Praxen keine Patienten mehr aufgenommen werden.

Gibt es denn genügend Anlaufstellen, um die Patienten angemessen betreuen zu können?
Nein, aber das war schon vor der Pandemie so. Es gibt den psychologischen und psychiatrischen Dienst des Südtiroler Sanitätsbetriebes, die konventionierten Beratungsstellen und die Privatpraxen – aber das Angebot reicht nicht aus. Es müssen Wartezeiten von zwei oder drei Monaten in Kauf genommen werden – das ist viel zu lange. Wenn jemand psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen möchte, sollte er innerhalb eines Monats einen Platz finden können.

Psychologin Brigitte Andres

Wie verheerend könnte ein zweiter Lockdown für die psychische Gesundheit sein?
Der erste Lockdown im Frühjahr kam völlig unvermittelt. Aber Menschen sind anpassungsfähig und so versuchten viele, die Zeit bestmöglich zu nutzen. Jetzt aber ist die Situation eine andere; man weiß, wie es sich anfühlt im Lockdown zu leben und man weiß auch, dass die Pandemie nicht in wenigen Wochen vorbei sein wird. So ist es schwierig, etwas zu planen, es gibt starke Einschränkungen, das eigene Leben zu gestalten. Gerade jene Menschen, die als „Macher“ gelten und aufgrund ihres Gefühls von Selbstwirksamkeit generell seltener als andere mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, stoßen jetzt an ihre Grenzen. Ihre Art, die Dinge anzugehen, funktioniert nicht mehr. Gefühle von Kontrollverlust und Unsicherheit belasten die Psyche – meines Erachtens schwerer als während des ersten Lockdowns. Die Menschen sind verletzlicher geworden und die inneren Spielräume enger. Das ist besorgniserregend.

Welche Bevölkerungsgruppe nahm in den vergangenen Monaten vermehrt Ihre Beratung in Anspruch?
Natürlich kann ich nur aufgrund meiner eigenen Erfahrung sprechen, aber es melden sich mehr Männer für eine Beratung als sonst üblich. Und viele Paare, bei denen während der Ausgangssperre Konflikte aufgetreten sind, die sie nicht länger unter den Teppich kehren können oder wollen. Aber es sind auch viele junge Erwachsene darunter. Da gibt es jene, die gerade mit dem Studium begonnen hatten und nun alleine vor dem Rechner sitzen, ohne die Kommilitonen kennen lernen zu können. Oder jene, die das Studium abgeschlossen hatten und für ein Praktikum ins Ausland sind oder ihre erste Festanstellung antreten wollten. Sie alle wurden und werden aus ihrem Lebensentwurf gerissen. Das Leben, so wie sie es für sich geplant hatten, ist aktuell nicht möglich.

Auf die erneuten Einschränkungen wird ängstlich, resigniert, auch misstrauisch und wütend reagiert.

Wie kann diesen Menschen geholfen werden?
Es ist wichtig, sich nicht zurückzuziehen. Sich mitzuteilen und auszutauschen. Und wenn jemand merkt, dass er sehr belastet ist, die emotionale Stimmung immer wieder aus dem Gleichgewicht gerät, kreatives Nachdenken in Grübeln endet, Symptome wie eine Schlafstörung, Appetitlosigkeit oder andere Veränderungen auftreten, ist ein Gespräch mit einer neutralen Person, einem professionellen Helfer sicher angebracht und hilfreich. Ich versuche meine Patienten auch darauf aufmerksam zu machen, dass sehr viele mit denselben Problemen konfrontiert sind und es sich nicht um eine persönliche Schwäche handelt. Außerdem ist es wichtig, zukunftsorientiert zu denken, denn in einer Krise kann immer auch eine Chance stecken. Darauf, was in unserem Alltag, im Leben „außen“ gerade geschieht, haben wir zurzeit wenig Einfluss. Aber auf unsere „innere“ Welt, darauf, was uns wichtig ist, welche ethische Haltung wir einnehmen möchten, welche Verantwortung für ein solidarisches Handeln wir haben: darauf haben wir Einfluss, das können wir gestalten. Selbstreflexion hat sozusagen Hochkonjunktur.

Kann ein Lockdown für die persönliche Entwicklung also auch positiv sein?
Im ersten Lockdown war spürbar, dass sich viele Menschen neben den Belastungen und Einschränkungen auch mit der Chance auf Veränderungen beschäftigten. Es gab durchaus Lebendigkeit und auch Aufbruchstimmung, ein Mehr an Bewusstheit und Achtsamkeit gegenüber der körperlichen und seelischen Gesundheit. Jetzt erlebe ich das anders: auf die erneuten Einschränkungen wird ängstlich, resigniert, auch misstrauisch und wütend reagiert.

Seit einigen Tagen findet der Unterricht für Kinder und Jugendliche nur über Fernunterricht statt. Finden Sie diese Maßnahme und generell die Einschränkung der sozialen Kontakte für diese Altersgruppe angemessen?
Soziale Kontakte sind von großer Bedeutung für die Entwicklung in diesem Alter. Die Schule hat nicht nur einen Bildungsauftrag. Sie ist immer auch der Ort, an dem ein wesentlicher Teil dieser Kontakte stattfindet. Dieser soziale Teil kann nicht stattfinden, wenn die Schüler nun vor dem Computer lernen. Aber offensichtlich sind diese Maßnahmen notwendig. Ich habe den Eindruck, dass sehr damit gerungen wurde, sie zu treffen. Ich traue es den Jugendlichen prinzipiell zu, dass sie auch unter den gegebenen Umständen zurechtkommen und ihr Potential nutzen können. Sie haben zum Glück Übung darin, virtuell zu kommunizieren. Fernunterricht an der Grundschule halte ich dagegen für schwer umsetzbar. Kinder dieses Alters sind noch sehr auf die Beziehung zu ihren Lehrpersonen angewiesen, um mit Freude und Motivation lernen zu können. In diesem Zusammenhang fand ich letztens auch die Proteste mancher Eltern gegen die Maskenpflicht im Unterricht skurril, weil doch schließlich jeder Tag, an dem Präsenzunterricht abgehalten werden kann, kostbar ist.

Es ist erstaunlich, was Kinder und Jugendliche zurzeit leisten. Tatsächlich könnten wir Erwachsene einiges von ihnen lernen.

Gemeinhin gelten Kinder und Jugendliche als sogenannte „Superspreader“, also als jene, die Viren besonders stark verteilen. Wie schafft man es, sie zu erreichen und zu einem verantwortungsbewussten Verhalten zu animieren?
Was Kinder als Superspreader betrifft, gibt es ganz kontroverse Ergebnisse und Meinungen. Da herrscht noch zu wenig Klarheit. Aber ich finde, dass Kinder und Jugendliche sich größtenteils vorbildlich verhalten – in meiner Wahrnehmung macht keine Altersgruppe so viel richtig wie sie. Sie sind anpassungsstark, flexibel und kreativ. Wenn sie erklärt bekommen – und dazu muss man sie eben ernst nehmen – und verstehen, weshalb die Maßnahmen notwendig sind, klappt das auch gut. Es ist erstaunlich, was Kinder und Jugendliche zurzeit leisten. Tatsächlich könnten wir Erwachsene einiges von ihnen lernen.

Empfinden Schüler, die gemobbt werden, den Fernunterricht auch als Entlastung?
Schulverweigerung aufgrund sozialer Ängste ist ja ein Phänomen unserer Zeit und Gesellschaft. Jenen Schülern, die damit zu kämpfen haben, kommt der Lockdown natürlich entgegen. Sie können lernen ohne dem Druck, in einer sozialen Gruppe bestehen zu müssen, ausgesetzt zu sein. Auf lange Sicht gesehen kann dadurch aber auch der Teil vermieden werden, den Jugendliche mit sozialen Ängsten lernen und bewältigen müssen, um im Leben gut zurecht zu kommen.

Welche Therapieformen greifen generell bei sozialen Ängsten?
Es gibt unterschiedliche Therapieformen bei Angststörungen. Die Verhaltenstherapie motiviert und unterstützt, damit man sich den Ängsten stellt und sich gezielt in Situationen begibt, vor denen man sich fürchtet. Dadurch können neue, positive Erfahrungen gemacht werden – auch im Umgang mit der „Angst vor der Angst“. Ich bin Psychoanalytikerin und begleite meine Patienten in den Fragen, aufgrund welcher lebensgeschichtlichen Erfahrungen Ängste entstanden sind, welches die unbewussten inneren Konflikte sind, welche „Funktion“ die Angst haben könnte, beispielsweise weil sie dabei hilft, eine Veränderung nicht angehen zu müssen. Im Moment sind wir in der paradoxen Situation, dass Bewältigungsstrategien, die wir normalerweise zur Verfügung haben – uns mit Freunden treffen, etwas unternehmen, ins Kino gehen – nicht konkretisierbar sind. Eigentlich rücken wir Menschen näher zusammen, wenn wir uns verunsichert und belastet fühlen. Das social distancing läuft somit einem universellen menschlichen Grundbedürfnis zuwider. Es ist verwirrend, wenn wir das, was unsere intuitive emotionale Reaktion wäre, vermeiden müssen.

Wie nehmen sie die psychische Belastung für ältere Menschen wahr, die alleine oder im Altenheim leben?
Die ist gravierend! Glücklicherweise gibt es vielerorts eine solidarische Nachbarschaftshilfe. Aber für ältere Menschen ist die Situation sehr belastend, gerade wenn der Kontakt zur Familie fehlt. Virtuell ersetzen kann man diesen oft nicht. Und schwierig ist es auch für Angehörige, die aufgrund der Kontaktsperre nicht für ihre Eltern da sein dürfen. Nach dem ersten Lockdown galt es einige traumatische Erlebnisse aufzuarbeiten: dass man sterbende Eltern nicht begleiten konnte, dass man sich nicht verabschieden durfte, dass man in der Trauer ohne den unmittelbaren Trost der anderen auskommen musste. Solche Erfahrungen hinterlassen tiefe Wunden und sind oftmals therapiebedürftig.

Wie kann es sein, dass die Pandemie und die getroffenen Maßnahmen von einigen bagatellisiert werden – trotz steigender Infektionszahlen und Todesfälle?
Die Gründe sind vielfältig. Aus psychologischer Perspektive betrachtet lösen Angst und Unsicherheit oftmals eine Abwehrreaktion aus. Man versucht, sich selbst zu schützen, indem man sich einredet, dass das gar nicht so schlimm sei und einen persönlich auch gar nicht betreffe. Die angstmachende Berichterstattung vieler Medien ist diesbezüglich nicht hilfreich. Der anhaltenden und allgegenwärtigen negativen Kommunikation hält man auf Dauer nicht stand, sodass sich die Psyche Ausstiegsszenarien sucht. Unser Verhaltensrepertoire gerät ja während der Pandemie ordentlich ins Wanken und eigentlich müsste den Menschen deshalb viel Toleranz entgegengebracht werden. Die Ausbreitung des Virus erfordert aber das Gegenteil, nämlich Restriktion. Gerade auch Jugendliche reagieren auf freiheitseinschränkende Maßnahmen mit Abwehr – entwicklungspsychologisch betrachtet soll es auch so sein.

Eine Chance dieser Krise sehe ich auch darin, dass wir soziale und physische Kontakte wieder mehr wertschätzen.

Wie kann es gelingen, während der Krise mental stabil zu bleiben?
Im Alltag helfen können ein strukturierter Tagesablauf, sich Aufgaben setzen, diese erledigen. Wichtig ist es, Kontakte zu halten, real und/oder virtuell. Eine Chance dieser Krise sehe ich auch darin, dass wir soziale und physische Kontakte wieder mehr wertschätzen. Nicht zuletzt gehört zur körperlichen und psychischen Gesundheit auch die Bewegung in der Natur. Ausgangsbeschränkungen mögen notwendig sein, aber ein explizites Meter-Limit, wie die Gemeinde Bozen es vorgibt, halte ich für wenig hilfreich. Das ist ein Zuviel an Einschränkung mit einem Zuwenig an Nachvollziehbarkeit. Das kann dann schnell ins Gegenteil kippen, sodass man nicht Kooperation sondern Rebellion bewirkt. Und Selbstreflexion hilft, psychisch stabil zu bleiben. Auch wenn uns aktuell vieles von außen vorgegeben wird, haben auf unser Inneres wir selbst Einfluss: Meine Gedanken, Haltungen, Werte, Gefühle sind meine Zuständigkeit.

Welche Langzeitfolgen birgt eine Kontaktsperre?
Die Situation, in der wir uns aktuell befinden, ist eine Premiere. Es gibt noch keine Erkenntnisse darüber, wie sich der Lockdown und die Einschränkungen langfristig auf die Psyche auswirken werden. Soziale Kontakte und physische Nähe sind menschliche Grundbedürfnisse. Fehlen sie über einen längeren Zeitraum, entstehen ein Mangel, Einsamkeit, subjektives Leiden. Und dies sind in Kombination mit fehlender Selbstwirksamkeit Faktoren, die psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Beschwerden begünstigen.

Seit dem ersten Lockdown bieten Sie Teletherapie via Skype an. Ist das eine echte Alternative zur Therapiesitzung in der Praxis?
Es war zu Beginn ganz klar eine Notlösung, die zunächst nur zögerlich angenommen wurde. Mittlerweile ziehen es viele Patienten vor, per Videochat zu kommunizieren anstatt zu telefonieren. Aber man müsste auf jeden Fall einen Weg finden, um in einem rechtskonformen Rahmen virtuell begleiten und beraten zu können. Implizit kann ich davon ausgehen, dass meine Patienten damit einverstanden sind, wenn wir über Skype sprechen, aber datenschutzrechtlich ist dies eigentlich nicht ausreichend abgesichert. Und die persönliche Begegnung in einem therapeutischen Setting, das Entstehen von Übertragung und Gegenübertragung – das ist durch nichts zu ersetzen!

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