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„Es war nicht leicht, aber ich nahm es, wie es kam. Es bringt nichts, sich zu Hause zu verkriechen und zu heulen.” Evelyn Pöhl ist 28 Jahre alt, als die Ärzte Leukämie bei ihr feststellen. Durch ihre Leidenschaft zum Sport und ihren gnadenlosen Pragmatismus hat sie die Krankheit besiegt. Im BARFUSS-Gespräch erzählt sie von dieser schweren Zeit und woher sie die Kraft nahm, sie zu überstehen. „Das Leben spielt nicht immer so, wie es soll. Ein gerader Weg ist nur den wenigsten von uns vergönnt. Man darf sich nicht unterkriegen lassen”, meint die junge Frau heute.
Wir treffen uns in Meran, in einem Café in der Nähe des Rennstalls. Sie müsse danach sowieso nach ihrem Pferd sehen, erklärt sie. Auch ihre zwei Hunde hat sie mitgebracht.
Evelyn ist jung, sportlich und erfolgreich. Sie trainiert Pferde in Meran und nimmt erfolgreich an Amateurwettbewerben teil. Bis heute hat die gebürtige Passeirerin schon an die 60 Rennen gewonnen. 2013 war sie die zweitbeste Reiterin Italiens in der Amateurliga. Die Zeitungen berichteten über sie. Sogar bei Wettbewerben in Amerika hat sie schon teilgenommen. Es läuft gut für Evelyn. Dabei gab es diesen einen Julitag 2011, an dem sich vieles ändern sollte.
„Ich fühlte mich schon länger schlapp, war immer müde und hatte kaum noch Kraft in den Knochen”, erzählt sie. „Ich ließ mir aber nichts anmerken und achtete auch nicht wirklich auf mich – der Klassiker eben. Eines Tages wollte ich auf mein Pferd steigen, aber ich hatte einfach keine Kraft dazu. Das war der Moment, wo ich realisierte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.” Ihr Hausarzt riet ihr, sich im Meraner Krankenhaus untersuchen zu lassen. Die Ärzte unterzogen sie verschiedenen Tests. Der Bluttest zeigte Auffälligkeiten, sie musste ihn ein zweites Mal machen. Die Ergebnisse stimmten überein, die Diagnose: Leukämie.
Evelyn wurde noch am selben Tag nach Bozen geschickt, da es in Meran keine Hämatologie gibt, also eine Station für Krebserkrankungen. Drei Tage später begann sie mit dem ersten Zyklus ihrer Chemotherapie. Es sollte nicht der letzte sein. „Ich wurde sofort in die Isolierstation der Onkologie verlegt. Die Chemotherapie zerstört das Immunsystem. Das Problem ist, dass sie nicht nur die schlechten Zellen angreift, sondern auch die guten. Aus diesem Grund steigt die Infektionsgefahr während dieser Zeit enorm”, erklärt sie. Es sei die schwerste Zeit während der Erkrankung gewesen. Die Familie und ihre Freunde durften sie nur mit Schutzkleidung besuchen. „Es war, wie man es aus Filmen kennt. Mundschutz, grüne Kleidung – das volle Programm”, erzählt sie.
Nach fünf Wochen auf der Isolierstation konnte sie das Krankenhaus verlassen. Die Ärzte rieten ihr dringend davon ab, unter Menschen zu gehen. Sie sollte jedes Infektionsrisiko vermeiden. „Ich wollte aber wieder zu meinen Tieren. Das war das, was mir am meisten Freude und Kraft gab”, betont Evelyn. Schon wenige Tage nach ihrer Entlassung ging sie wieder in den Rennstall. Sie trainierte die Pferde zwar noch nicht, aber sie sah bei den Rennen zu. Ihre Kollegen sperrten sogar einen Bereich der Tribüne ab, damit sie die Rennen zwar sehen konnte, aber nicht zu viel in Kontakt mit anderen Menschen kommen musste.
„Es bringt nichts, zu Hause herumzuheulen und die Welt zu verfluchen”, sagt Evelyn pragmatisch.
Ein gutes Jahr nach ihrer Entlassung bekam Evelyn eine Knochenmark-Transplantation von einem Fremdspender aus Deutschland. Einen Monat später durfte sie das Krankenhaus wieder verlassen. Es war ein bedeutsamer Tag. Eine Knochenmark-Transplantation hieß zwar nicht, dass von nun an alles in Ordnung war, trotzdem war es ein großer Schritt in Richtung Genesung. Im darauffolgenden Jahr musste sie haufenweise Medikamente schlucken und bekam viele Spritzen. „Ich bekam Bluttransfusionen und Medikamente – wöchentlich. Meine Blutgruppe änderte sich und ich musste mein Immunsystem wieder neu aufbauen. Es war anstrengend, aber ich wusste, das ich es hinter mich bringen musste. Es half schließlich alles nichts. Es bringt nichts, zu Hause herumzuheulen und die Welt zu verfluchen”, sagt Evelyn ganz pragmatisch.
Im Sommer 2013, zwei Jahre nach der Schockdiagnose, traute sich Evelyn wieder aufs Pferd: „Ich wollte alles zuerst ein wenig langsam angehen lassen. Es war ja doch schon länger her”, sagt sie. Schließlich nahm sie wieder an Wettbewerben teil. Ein dritter Platz war ihr nicht genug. 2014 gewann sie einige Rennen und schaffte es auf Platz zwei der erfolgreichsten Reiterinnen in der Amateurklasse der Amazonen. Als Amazonen werden die Reiterinnen in der italienischen Amateurklasse bezeichnet. Evelyn saß wieder erfolgreich im Sattel. Die Regionalzeitungen berichteten von ihrer Erkrankung und ihrem Comeback. „Evelyn hat ihr wichtigstes Rennen gewonnen”, titelten sie.
Es seien aber nicht die Rennen, auf die sie am meisten stolz sei. Ihr größter Erfolg sei es gewesen, die Krankheit besiegt zu haben. „Es war eine schwierige Zeit, aber es gab niemals einen Moment, in dem ich geglaubt hätte, dass ich es nicht schaffen würde. Ich denke wirklich, dass mir der Sportgeist, den ich mir durch die Rennen angeeignet habe, durch diese schwierige Zeit geholfen hat. Ich wollte gewinnen. Alles andere als der erste Platz kam für mich nicht infrage”, sagt sie und lacht.
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