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Irma Morelato hat knapp mehr als 10.000 Kindern im ganzen Land auf die Welt geholfen. Im nächsten Jahr wird die gebürtige Tisenerin 90, die passende Geschichte zu jeder einzelnen Geburt hat sie aber immer noch parat. Bei einem Glas Wasser und frischen Erdbeeren erzählt die Hebamme aus Leidenschaft von ihren Geheimrezepten, was sich seit den Anfängen verändert hat und warum sie für Geburten ohne viel Schnickschnack plädiert.
Sie waren über 50 Jahre lang Hebamme, wie kommt man zu so einem Beruf?
1939 bin ich ausgeschult worden. Die Leute im Land waren arm zu der Zeit, weil der Krieg gerade ausgebrochen war. Ich konnte gut Italienisch und hätte dadurch die Schule weiter besuchen dürfen. Das Geld hat mir aber gefehlt, also habe ich Schneiderin gelernt und danach als Haushälterin gearbeitet. Als ich das Geld zusammen hatte, um in Padua zu studieren, war ich bereits 24. Vier Jahre habe ich in der Stadt des Heiligen Antonio verbracht. In meiner Ausbildung durfte ich schon bald viel Verantwortung tragen. 60 Säuglinge standen unter meiner Aufsicht. Und schließlich hat es auch die crucca tedesca bis zur piccola laurea geschafft.
Wo haben Sie dann Ihre ersten Erfahrungen als Hebamme gesammelt?
Meine erste Stelle hatte ich in Jenesien, wo ich zwölf Jahre lang die Dorfhebamme war. Das Gebiet, für das ich zuständig war, war riesig. Sogar bis nach Halbweg im Sarntal und weiter hat es gereicht. Und überall gab es Großfamilien, bei denen es jedes Jahr Zuwachs gab.
Beim Warten, bis die Geburten losgingen, war mir in den „Käffern“ oft langweilig. Da gab es nicht mehr als ein paar alte Tratschweiber. Aber zurück nach Hause konnte ich nicht, das hätte zu lange gedauert. Bis zu acht Stunden habe ich teilweise von einem Ort zum anderen gebraucht. Also bin ich lieber dageblieben und mit den schwangeren Frauen zum Heumähen oder zum Fischen gegangen, um die Wehen in Gang zu bringen. Etwas ist mir immer eingefallen. (lacht)
Wie sind Sie von einem Ort zum anderen gekommen?
Gewohnt habe ich beim Hirschenwirt in Jenesien. Von da aus bin ich mit meinem Pferd zu den einzelnen Patientinnen geritten. Im Winter konnte man oft wegen des ganzen Schnees nicht bis ganz zu den Häusern reiten, da habe ich dann meine Schneeschuhe ausgepackt. Ins Tal hingegen bin ich mit der Materialseilbahn. Schnell konnte man damals nirgendwohin und Handy hatten wir auch keines, um schnell irgendwo anzurufen. Wollte man telefonieren, musste man ins Gasthaus.
Und was, wenn es einen Notfall gab?
In Notfällen musste man geduldig sein. Da half nichts. Der Hubschrauber vom Militär konnte fast nirgendwo landen, mal lag zu viel Schnee, dann waren die Bäume zu hoch. Das habe ich bald aufgegeben und alles selbst gemacht. Wer wird auch wegen jeder Kleinigkeit den Hubschrauber rufen. (schmunzelt)
Als Hebamme habe ich zu der Zeit sogar teilweise den Gemeindearzt ersetzt. Sogar Zwillinge habe ich alleine entbunden. Die Leute konnten den Arzt nicht bezahlen, also bin ich hingegangen und habe halt etwas Butter, einige Eier und etwas Milch für meine Dienste bekommen, das konnte ich auch gut gebrauchen. Hätte ich das verlangt, was ich gedurft hätte, wäre ich reich geworden. Die Ärzte haben das ausgenutzt. Eine Geburt hat 4.000 Lire gekostet, das war für die Leute viel.
Wie viel haben Sie im Durchschnitt verdient?
Am Anfang hätte ich 18.000 Lire bekommen. Mit etwas Verhandlungstalent wurden es dann 28.000 Lire. 5.000 musste ich ja allein schon für die Wohnung zahlen. Also war trotzdem noch Sparen angesagt. Ab und zu wollte ich ja auch nach Hause nach Tisens fahren. Hin und wieder hatte ich Glück und wurde mit Prämien belohnt. Aber meine größte Prämie in der ganzen Zeit war die letzte Geburt, weil es quasi mein schwierigstes Unterfangen in den ganzen Jahren war.
Was ist passiert?
Das war ein ganz besonderes Erlebnis. Allen Kindern der betreffenden Familie hatte ich schon auf die Welt geholfen. Über 50 Jahre war ich bereits Hebamme und hatte mich in diesem Jahr pensionieren lassen, aber meine Hilfe bei dieser letzten Geburt hatte ich der Frau noch versprochen. Das Kind ließ lange auf sich warten und es gab viele Komplikationen. Doch trotz einer Fehldiagnose der Ärztin, einer Nabelschnur, die vier Mal um den Hals gewickelt war und einer 20-minütigen Wiederbelebung habe ich es im Alleingang mit der Mutter geschafft, und das Mädchen war am Ende wohlauf. Das war vielleicht ein Erfolgserlebnis: die Krönung meiner Karriere.
Waren Hebammen zu Ihrer Zeit hoch angesehen?
Die Hebamme hat zu meiner Zeit viel gekonnt, aber die Ärzte haben uns oft nicht geglaubt und auch die Leute haben dem Arzt mehr geglaubt als der Hebamme. Gynäkologen können noch lange keine Hebamme ersetzen. Man muss die Hebammen auch jetzt noch endlich schätzen lernen, schließlich ist dieser Beruf nicht umsonst der zweitälteste der Welt.
Sie haben selbst einen Sohn: Wie bringt denn eine Hebamme ihr Kind zur Welt?
Mein Kind habe ich mit 42 Jahren erst gekriegt. Ich habe damals keinen Arzt an mich rangelassen. Im sechsten Monat sind dann unerwartet die ersten Wehen gekommen. In meiner Verzweiflung habe ich mich an die Worte eine Arztes aus Deutschland erinnert, der in einem solchen Fall ein Glas Cognac empfohlen hat. Also bin ich in die erstbeste Bar gegangen.
Und dort haben Sie einen Cognac getrunken?
Nicht einen. Vier! (lacht)
Vor der Geburt also einen Cognac: Welche Geheimrezepte haben Sie sonst noch?
Viele Geheimrezepte gibt es da nicht. Man sollte nicht zu viel arbeiten, aber auch nicht zu wenig. Viel in der frischen Luft sein und auf seinen Körper hören. Eine ausgewogene Ernährung ist auch wichtig und man sollte nicht zu viel Obst essen, das ist zu sauer für den Magen. Wenn es dann losgeht, kommt auch wieder der Cognac ins Spiel. Schnaps geht notfalls auch, aber Cognac trinkt sich leichter. Um die Geburt einzuleiten, nimmt man zwei Esslöffel Rizinusöl und spült mit Cognac nach. Das geht immer gut. (lacht) Wenn nicht, dann muss man halt einen Witz erzählen, um die Muskeln zu lockern. Darin war ich auch immer gut. Wenn man hingegen keine Kinder kriegen kann, ist mein Geheimrezept Obstessig, gemischt mit etwas Honig. Aber das wichtigste Geheimnis ist das Fröhlichsein und das Hören auf die Natur, dann schafft man alles.
Wie meinen Sie das?
Man sollte auf den ganzen künstlichen Kram unserer Zeit verzichten und auf die alten, einfachen Mittel zurückgreifen. Oft braucht es dadurch etwas länger, aber die Geburt ist schließlich auch etwas Natürliches. Schwangerschaftsgymnastik oder Wassergeburten bringen beispielsweise nichts. Durch die Gymnastik verhärten sich Muskeln, die eigentlich gelockert werden sollten und Wassergeburten sind unhygienisch. Dabei sollte Hygiene das höchste Gebot bei einer Geburt sein. Genauso wie gut ausgebildete Hebammen, die zu den Frauen nach Hause kommen. Das braucht es.
Die Schließung von Geburtenabteilungen mit weniger als 500 Geburten sehen Sie also kritisch?
Ich bin mit Leib und Seele dafür, dass in jeder Gemeinde eine Hebamme zuständig sein sollte: so wie es früher der Fall war. So kennt man sich und kann zu den Patientinnen Vertrauen aufbauen. In den Spitälern wechseln die Hebammen im Stundentakt, da kann sich eine Frau ja nicht wohl fühlen. Und dabei ist das neben der Geduld der Hebamme das wichtigste bei einer Geburt.
Waren Sie eine böse Hebamme oder eine von den Geduldigen?
Nein, eine ganz freundliche und lustige. So gehen die Geburten leichter vonstatten. Die Ärzte haben mich Hexenhebamme genannt: mit Geduld und Ruhe habe ich viele „Wunder“ vollbracht.
Wem oder was haben Sie Ihre 10.017 erfolgreichen Geburten zu verdanken?
Einer Ausbildung bei guten Ärzten, meinem Fleiß, Ehrgeiz und Durchhaltevermögen und vor allem meiner langjährigen Erfahrung. Aber all das, was ich in dieser Zeit gegeben habe, habe ich irgendwo wieder zurückbekommen. Ich bin wirklich Hebamme mit Leib und Seele. Genau deshalb will ich auch mit dem Stethoskop, das noch immer in meiner Hebammentasche liegt, beerdigt werden. (lacht)
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