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Die Ukraine befindet sich seit Februar 2022 in einem von Russland völkerrechtswidrig initiierten Krieg. In den eineinhalb Jahren ist viel passiert: Gebietsgewinne und –verluste auf beiden Seiten, Putschversuche, Attentate und vieles mehr. Um den Überblick nicht zu verlieren, bieten viele Medien Live-Ticker (= Nachrichtenportale, die in kurzen Zeitabständen mit neuen Informationen gefüllt werden. Anm. d. Red.) an, damit man keine relevanten Geschehnisse im Russland-Ukraine Konflikt und wichtige Einschätzungen von Politikwissenschafter:innen verpasst. Ein beliebter Experte zum Krieg im deutschsprachigen Raum ist Franz Eder, der immer wieder um neue Prognosen zum Konflikt gebeten wird. Eder hat kürzlich einen Vortrag in Brixen zum Krieg in der Ukraine und den Auswirkungen für die europäische Zukunft gehalten. Im Interview mit BARFUSS verrät der Universitätsprofessor für Politikwissenschaft in Innsbruck welche Ausgänge des Krieges realistisch und weshalb solche Voraussagen trotzdem mit Vorsicht zu genießen sind.
Herr Eder, wovon sprechen wir genau, wenn vom Russland-Ukraine-Konflikt die Sprache ist?
Russland hat einen völkerrechtswidrigen – nicht von der Ukraine provozierten – Krieg begonnen. Allein der Kriegsbeginn durch Russland stellt eine Verletzung des Völkerrechts dar, wobei auch der aktuelle Kriegsverlauf und die russische Kriegsführung rechtswidrig ist und Russland immer wieder Kriegsverbrechen verübt. Im Gegensatz zum illegalen Vorgehen Russlands wehrt sich die Ukraine seit Februar 2022 auf völkerrechtlich legitimen Weg und wird von der internationalen Staatengemeinschaft dabei unterstützt. Alles, was die Ukraine macht, fällt unter das Recht der Selbstverteidigung, das in der UN-Charta verankert ist. Die Unterstützung der Ukraine durch andere Staaten – wie zum Beispiel durch Waffenlieferungen – ist rechtens und nicht völkerrechtswidrig.
Wie sieht die aktuelle Lage aus?
Die aktuellen Entwicklungen sind leider typische Kriegsrealität: Eskalationen, Putschversuche, unvorhersehbarer Kriegsverlauf, Verluste, Gewinne, Stillstand. Das alles, was wir in den Medien zum Konflikt hören, ist leider nichts Überraschendes für einen Krieg. Einen Krieg der sicherlich noch eine Zeit lang gehen wird.
Die Strategie Russlands war zu Beginn eine ganz andere, als sie es jetzt ist, da Russland nie mit so viel Gegenwehr von der Ukraine gerechnet hätte.
Apropos Putschversuche: Das russische System scheint spätestens nach der Einnahme Rostows durch die Wagner-Miliz von Jewgeni Prigoschin als instabil. Verfolgt Putin noch eine Strategie oder wird mittlerweile auch viel „aus dem Bauch heraus“ entschieden?
Das ist eine gute Frage. Strategien sind Pläne, die man vorhat, in der Zukunft umzusetzen. Oftmals entwickelt sich aber die Zukunft anders, als man sich das denkt. Früher oder später muss jede Strategie an die aktuellen Gegebenheiten und an neue Entwicklungen angepasst werden. Das tut Russland seit Tag eins. Die Strategie Russlands war zu Beginn eine ganz andere, als sie es jetzt ist, da Russland nie mit so viel Gegenwehr von der Ukraine gerechnet hätte. Dieser Fehler wird aber nur ungern zugegeben, weshalb jetzt auf Zeit gespielt wird. Nun hofft Putin die „Gewinne“, die bereits verzeichnet wurden, beibehalten zu können. Das wird aber wahrscheinlich nicht passieren.
Wieso nicht?
Wenn die westliche Staatengemeinschaft die Ukraine weiterhin so unterstützt, wie sie es bisher getan hat und die Ukraine weiterhin gewillt ist, diesen Krieg zu führen, wird Russland früher oder später Gebietsgewinne – nicht nur die von 2022, sondern auch die vom Krim-Krieg 2014 – abtreten müssen.
Ich bin mir sicher, dass der Krieg noch etwas dauern, der Kampf auf beiden Seiten noch sehr viel blutiger werden wird und beide Länder hohe Verluste verzeichnen werden.
Also verliert Russland? Oder welche Ausgänge sind aktuell vorstellbar?
Es ist so, dass beide Seiten nicht bereit sind den Krieg einfach so zu beenden. Ich glaube sogar, dass Russland eher dazu bereit wäre, zu sagen: „Wir beenden den Konflikt, wenn wir die Gebietsgewinne dort einfrieren können, wo sie gerade sind.“ Das ist aber eine Forderung, der die Ukraine niemals zustimmen würde, da die Ukraine gerade Auftrieb hat und militärtechnisch sehr gut unterstützt wird. Die Hoffnungen sind hier sehr groß, verlorene Gebiete zurückzuerobern. Daher wäre ein abruptes Ende des Krieges nicht im Interesse der Ukraine. Russland würde aber auf der anderen Seite auch nie politisch einem Frieden zustimmen, an welchem Gebietsverluste hängen. Ich bin mir sicher, dass der Krieg noch etwas dauern, der Kampf auf beiden Seiten noch sehr viel blutiger werden wird und beide Länder hohe Verluste verzeichnen werden. Wenn aber die aktuellen Tendenzen so weitergehen, bin ich mir sicher, dass die Ukraine, Gebiete zurückerobern wird.
Wie ist es für Sie als Politikwissenschafter ständig Prognosen für einen Krieg, der immer wieder in unerwartete Richtungen geht, abzugeben?
Schwierig. Es ist wahnsinnig schwierig, in den Sozialwissenschaften Prognosen abzugeben. Wir haben es mit den komplexesten Systemen zu tun; nämlich mit Menschen und derer Vergesellschaftung. Biolog:innen, Physiker:innen etc. haben es einfacher: Sie beobachten Phänomene wie zum Beispiel Atome, die ganz klaren Naturgesetzen folgen. Menschen folgen keinen festgeschriebenen Regeln. Bei einer Gesellschaft sprechen wir von sehr komplexen Dynamiken, die von vielen Einflussfaktoren betroffen sind. Das, was wir in der Politikwissenschaft tun können, ist auf das Wissen der Vergangenheit zurückzugreifen: Wie war das bei anderen Konflikten? Welche Faktoren beeinflussen die Dauer und den Ausgang eines Konfliktes? Oder: Wie gewillt ist die Bevölkerung weiter so viel Leid auf sich zu nehmen? Hier sprechen wir von internationalen, länderspezifischen und individuellen Faktoren. Auf Grundlage dieser Faktoren geben wir Politikwissenschafter:innen dann Prognosen ab. Wir liegen damit aber nicht immer richtig.
Hätten Sie mich Anfang Februar 2022 gefragt, ob Russland die Ukraine angreifen wird, hätte ich ganz klar nein gesagt.
Wie zum Beispiel?
Hätten Sie mich Anfang Februar 2022 gefragt, ob Russland die Ukraine angreifen wird, hätte ich ganz klar nein gesagt. Hätten Sie mich zu Beginn nach der Dauer des Krieges gefragt, hätte ich geantwortet: Russland wird leider diesen Krieg sehr rasch für sich entscheiden. Nichts von alle dem war der Fall. Daraus wird klar, dass wir oftmals Prognosen treffen müssen, wenn wir noch mangelnde oder falsche Informationen haben. Russland hat Jahre lang ein Selbstbild einer starken militärisch erfolgreichen Nation abgegeben. Heute sehen wir, dass dieses Bild gar nicht zutrifft und die Ukraine unterschätzt wurde. Man muss solchen Prognosen immer mit einer gewissen Skepsis gegenübertreten.
Welche Auswirkungen hat der Krieg auf die europäische Sicherheit?
Der Krieg betrifft Europas zukünftige Sicherheit massiv. Europa wird sich wichtige neue Organisationsfragen stellen müssen: Wie soll Europas Zukunft aussehen? Welche Ordnung wollen wir haben? Was müssen wir dafür tun?
Bislang war es so, dass Europa Erdöl und Erdgas billig aus Russland importieren konnte und wollte. Erst durch den Krieg wurde diese Energiepolitik in Frage gestellt und nun nach alternativen Lösungen gesucht. Plötzlich beginnen einzelne Staaten sogar über Energieautarkie nachzudenken und innovative und nachhaltigere Energien werden stark vorangetrieben.
Also stellt der Krieg in erster Linie eine Ressourcenfrage für Europa dar?
Nicht nur. Immer mehr Parteien denken über eine Zweiteilung in: a) Staaten, die die Demokratie und Menschenrechte in den Vordergrund stellen und b) Staaten, die autokratische Systeme präferieren und in denen Menschenrechte eine untergeordnete oder keine Rolle einnehmen, nach. Lange Zeit hat Europa versucht, Staaten wie Russland durch Handel und gesellschaftlichen Austausch zu besänftigen und das Land schrittweise der Demokratie näher zu bringen. Nun weiß man, dass das einfach nicht so funktioniert. Wir sind also jetzt an einem Punkt, wo die Staaten – allen voran Europa – eine Antwort auf die Frage: „Wie wollen wir unsere Zukunft in Europa sichern, dass Sicherheit, Selbstbestimmung, Demokratie und Menschenrechte garantiert werden?“ finden müssen.
Die europäischen Staaten sind gewillt, im Verbund der EU sowie der NATO, stark in Sicherheit, Verteidigung und den Schutz der eigenen Systeme wie der Demokratie zu investieren.
Gibt es darauf eine Antwort? Wie sollte die Zukunft gestaltet werden?
Das ist keine Frage des Sollens. Wir Politikwissenschafter:innen zielen natürlich immer darauf ab, Demokratie, Menschenrechte, Sicherheit, Frieden und Partizipation zu gewährleisten. Anhand dieser Werte können wir dann über eine normative Ordnung diskutieren. Letztlich liegt es aber an der Gesellschaft selbst zu entscheiden, wie sie sich organisieren möchte. In Europa sehen wir hier bereits Tendenzen. Die europäischen Staaten sind gewillt, im Verbund der EU sowie der NATO, stark in Sicherheit, Verteidigung und den Schutz der eigenen Systeme wie der Demokratie zu investieren.
Es finden sich vermehrt in Europa prorussische Stimmen im rechten Lager wie etwa in der FPÖ oder der Front National wieder. Italien scheint hier mit der Pro-Ukraine Position der rechten Politikerin Giorgia Meloni eine Ausnahme darzustellen. Kann eine Position im Krieg – also Pro- Ukraine oder Pro- Russland – einem politischen Lager zugeschrieben werden?
Zum Teil schon. Was wir wissen, ist, dass die europäische Rechte, also die Rechtspopulist:innen eine große Nähe zu Russland aufweisen, weil sie ein ähnliches Gedankengut teilen: Sie sind skeptisch gegenüber der Globalisierung, der freiheitlichen Gesellschaft, der LGBT+-Menschen, der liberalen Welt oder der demokratischen Mitentscheidung. Russland hat sich speziell unter Putin in den letzten Jahren als ein Staat positioniert, der bewusst gesagt hat: Wir brauchen ein anderes System, das für die traditionellen Werte eintritt. Hier gibt es also ideologische Überschneidungspunkte zwischen rechten Parteien in Europa und Russland. Putin hat diese Nähe zur europäischen Rechten durch finanzielle Unterstützung der Parteien wie der Front National in Frankreich vorangetrieben. Meloni stellt hier eine interessante Ausnahme dar. Andere rechte italienische Parteien wie die Lega Nord zeigen prorussische Tendenzen im Gegensatz zur Ministerpräsidentin. Ein Grund dafür ist vermutlich, dass sie sich stark als Transatlantikerin identifiziert (Anm. d. Red. Transatlantiker:in ist eine Person, die eine enge Verbindung zwischen Europa und den USA vertritt), die im Kalten-Krieg-Denken – also West gegen Ost, Kommunismus gegen Liberalismus – beheimatet ist.
Einen Blick in die Zukunft: Der Krieg ist beendet. Wie kann Russland als Land, das so viele Kriegsverbrechen begangen und das Völkerrecht missachtet hat, im internationalen Diskurs noch einmal integriert werden?
Hier würde ich mir keine Sorgen machen. Deutschland hat zusammen mit Österreich den Ersten und Zweiten Weltkrieg initiiert. Im Zuge derer gab es massive Menschenrechtsverletzungen, Genozide und Kriegsverbrechen. Bereits 1945 begann Frankreich mit Deutschland darüber zu diskutieren, wie Deutschland wieder integriert werden kann und bereits 1957 wurde mit der Gründung der EG (Europäische Gemeinschaft, Anm. d. Red.) die Grundlage für die heutige EU gelegt. Das soll nicht heißen, dass ich glaube, dass das zwangsläufig bei Russland auch so sein wird. Aber wir wissen aus der Geschichte, dass Staaten – denken wir an Japan, die USA –, die die brutalsten Kriege geführt haben, doch früher oder später wieder integriert werden können. Das ist auch wichtig und richtig.
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