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Martin Kaufmann ist müde. Am Abend zuvor ist er von der Berlinale zurückgekommen, direkt nach der Ankunft stand eine Premiere im Filmclub an. Dort sitzt er jetzt und blickt zurück auf ein Leben, das dem Film gewidmet ist. Seine Kinoleidenschaft wurzelt in seiner Kindheit, die er im elterlichen Dorfkino verbrachte. „Tausende“, antwortet er immer dann, wenn er gefragt wird, wie viele Filme er bis heute schon gesehen hätte.
In etwa dreißig Filmen saß er allein auf der Berlinale. „Bei den Vorstellungen sieht man kaum jemanden, man trifft sich in Berlin vor allem auf den Partys“, erklärt er. Klar, dass sich Kaufmann dort blicken lassen muss – auch mit seinen bald 64 Jahren.
Du kommst gerade von der Berlinale. Wie oft warst du dort wohl schon?
Seit 35 Jahren fahre ich auf die Berlinale, ein- oder zweimal habe ich es vielleicht ausgelassen. Heuer wollte ich unbedingt in den Zoopalast. Ich bin am Sonntagvormittag hin, um halb zehn Uhr, da schlafen die meisten noch. „Goldfinger“ habe ich mir angesehen. Der Film ist 1965 in die Kinos gekommen und ich habe mich erinnert, dass wir den bei uns im Kino in Welschnofen im gleichen Jahr vorgeführt haben. 50 Jahre danach sitze ich also in Berlin im Zoopalast und denke mir: Das gibt es nicht, dass das schon 50 Jahre sind.
Bis 2011 war Martin Kaufmann für das Programm im Bozner Filmclub zuständig. Seitdem ist er in Pension, kümmert sich aber immer noch um die Organisation der Bozner Filmtage und die Filme der Reihe „Specials“, die wöchentlich am Mittwoch gezeigt werden.
Wie sieht der Tag in Berlin für dich aus?
Während der Berlinale breitet sich das Festivalfieber auf ganz Berlin aus. In den Arkaden am Potsdamer Platz öffnen die Kassen um neun Uhr in der Früh und wenn ich um halb neun dort vorbei gehe, warten die jungen Leute in den ersten Reihen mit ihren Schlafsäcken. Die schlafen dort, nur um rechtzeitig zu Karten zu kommen! Es ist toll, wenn eine ganze Stadt dieses Fieber packt und alle versuchen, in die neuen und alten Filme reinzukommen.
Ich bin jetzt in erster Linie für die Filmtage in Berlin. Ich muss nicht mehr alle neuen Filme sehen, um zu entscheiden, ob die etwas fürs Kino sind. Ich müsste nicht mehr jeden Tag um 9 Uhr früh in die Stadt fahren. Aber kaum bist du in Berlin, bist du in einem Dunstkreis, bei dem alle mitmachen. Man trifft dort wirklich alle: die Kollegen aus Innsbruck, die Wiener und Münchner Filmverleiher. Mit manchen ist man befreundet inzwischen.
Wie viele Filme schaust du dort täglich?
Vier, fünf Filme, aber danach ist genug. Früher habe ich mir oft bis zu sieben Filme angesehen, aber am Abend dröhnt dir dann der Kopf. Deshalb habe ich angefangen, mir Notizen zu machen.
Auch Südtirol hat sein Filmfestival: Du hast die Bozner Filmtage 1987 ins Leben gerufen. Was war deine Motivation?
Wir haben Schwierigkeiten gehabt, deutschsprachige Filme zu bekommen: wegen der Grenzen, aber auch wegen der Rechte. Wenn ich bei Verleihern in München war, habe ich immer gehört: Warum gehen Sie nicht nach Wien? Ich musste erst erklären, dass Südtirol zu Italien gehört. Einer hat mir mal gesagt: Ach, in Italien, da spielt ihr den in Bozen um auf Video und dann ist der Film eine Woche später in Mailand auf dem Schwarzmarkt. Das hat mich geärgert und ich hab mir gedacht: Laden wir diese paar Filmverleiher ein und beweisen, dass wir aufpassen auf die Filme. Bozen im April ist vergleichsweise angenehmer als München oder Berlin und die Leute sind hier völlig aufgetaut. Cannes, Venedig, Berlin, das sind die rasantesten Festivals, dann gibt es Toronto oder Karlsbad – die sind alle hektisch. Da geht man hin, weil es eine Filmmesse gibt und Produzenten und Verleiher dort sind. In Bozen aber trifft man sich, man kennt sich. Viele sind gerne ins überschaubare Bozen gekommen, um ein Glas Wein zu trinken, und für die gemeinsame Wanderung, die wir auch heute noch organisieren. Und sie sind dann doch ins Kino gegangen, auch wenn wir vielleicht nicht die neuesten Filme hatten.
Wie haben sich die Filmtage bis heute verändert?
In den ersten Jahren hatten wir nur ein Kino und wenig Publikum. Als das Capitol 2001 dazu kam, hatten wir drei Säle und konnten wirklich ein Programm machen. Anfangs zeigten wir vielleicht 20 Filme, heute bis zu 60. Ganz wichtig für uns ist der Austausch mit anderen kleinen Festivals – etwa von Innsbruck, Freistadt in Oberösterreich, das Festival della Lessinia in der Provinz Verona oder Lünen in Nordrhein-Westfalen. Der Verantwortliche vom Festival von Oberauerdorf hat mir zum Beispiel den Tipp gegeben, den Hubert-von-Goisern-Film zu zeigen. Der läuft jetzt am 23. April bei den Filmtagen und einen Tag später erst in Österreich und Deutschland. Das ist dann sozusagen die Weltpremiere und der von Goisern kommt nach Bozen. Das hat sich positiv ausgewirkt, dass wir mit den kleinen Festivals zusammenarbeiten. Der von Freistadt bringt ein Fass Bier und nach dem Film machen wir manchmal einen Umtrunk. Diese Dinge finden die Leute gut. In Berlin musst du dich bemühen, um zu einer Premierenfeier eingeladen zu werden. Du kommst hin und es ist voll von Leuten. Es gibt Kaviarbrötchen und was weiß ich alles, bei uns gibt es eben Speck und Schüttelbrot.
1957 hat dein Vater das erste Dorfkino in Südtirol eröffnet. Wie funktionierten diese Kinos damals?
Fast in ganz Südtirol sind die ersten Kinos Mitte der 50er-Jahre gekommen. Wir hatten ja ein Gasthaus und die anderen Wirte haben zu meinem Vater gesagt: Wenn du das nicht machst, mach ich es. Es gab 270 Sitzplätze, es war also ein richtig großes Kino. Voll war es vor allem bei Theateraufführungen und bei Bällen, dafür haben die Vereine die Stühle rausgeschraubt. Ich habe mich mit zehn Jahren schon ins Kino reingesetzt und war immer richtig wütend, wenn alle ins Theater und auf den Ball gegangen sind, aber nicht ins Kino. Um 1962 sind die Karl-May-Filme gekommen, „Schatz am Silbersee“ und „Winnetou“ und es gab einen deutlichen Besucheranstieg. Dann kamen die ersten James-Bond-Filme, „Goldfinger“ oder „Liebesgrüße aus Moskau“ und ich bin voll in das Kino hineingewachsen. Von daher kommt bei mir die Begeisterung fürs Kino.
Wie viel Lebenszeit hast du wohl seitdem im Kino verbracht?
Ich war im Kino, wie ein normaler Angestellter auch jeden Tag an seinem Arbeitsplatz ist. Seit ich zehn Jahre alt bin habe ich sechs, sieben Stunden täglich im Kino verbracht. Hier im Filmclub war ich ja angestellt, da kannst du nicht um 18 Uhr heimgehen. Wenn Autorenfilme gezeigt wurden und ich den Regisseur vorgestellt habe, dann ist es halt spät geworden. Aber das hat Spaß gemacht. Ich hatte hier im Filmclub einen Diwan, da hab ich mich dann eben manchmal hingelegt. (lacht)
1978 wurde der Filmclub als Kulturverein gegründet. Du warst einer der Gründer. Wie waren diese Anfangsjahre?
Einmal die Woche am Montag haben wir Filme gezeigt. Wir waren zuerst im Eden-Kino, danach im Rainerum und dann im Waltherhaus. Ab 1983 haben wir einen Raum mit 50 Plätzen gemietet, da waren wir bis 1988. Dann haben wir die Räume hier in der Streitergasse gemietet und mithilfe vom Land umgebaut. Plötzlich waren wir die Herren des Hauses und konnten die ganze Woche Filme zeigen. Wir haben Kinderfilme auf Deutsch gezeigt und die Kinder sind mit großen Augen vor der Leinwand gesessen, die haben ja noch nie so eine große Leinwand gesehen. Es hatte hier glaube ich seit Anfang der 70er-Jahre keinen Kinderfilm in deutscher Sprache mehr gegeben.
Wie sehr ist der Filmclub für sein Überleben auf Subventionen angewiesen?
Ohne Subventionen, das wäre fast nicht denkbar. Gerade von den deutschen Filmstandorten sind wir viel zu weit weg: München, Berlin, Wien. Die Transportkosten, der Aufwand, das zu organisieren ist groß. Man hat eine Minimumgarantie pro Film (Anm.: der Preis, den ein Kinobetreiber dem Verleiher ungeachtet des Filmerfolgs zu zahlen hat), das sind etwa 2.000, bei manchen auch 5.000 Euro. Danach zahlt man Prozente von den Einnahmen, das höchste sind 50 Prozent. Die Hälfte gibt man also sowieso ab. Jeden Mittwoch mache ich ein Special. Da hat man eine Vorstellung und damit nur einmal die Chance, die Leute ins Kino zu bringen. Wenn da nicht 50 Leute kommen, ist das schon ein Verlust. Es braucht einfach Subventionen.
2009 zog ein Ableger des österreichischen Kinogiganten Cineplexx nach Bozen. Spürt der Filmclub bald sechs Jahre danach noch die Konkurrenz?
Von 2009 bis 2012 ist es deutlich abwärts gegangen. In guten Zeiten hatten wir 120.000 Besucher, danach ist es hinuntergegangen auf zuletzt 77.000. Erst 2013 ging es wieder aufwärts. Jetzt fahren wir wieder die Essayschiene und zeigen sogenannte Kunstfilme. Wobei da Filme darunter sind, die durchaus die Chance haben, viele Leute anzusprechen. „Das finstere Tal“ hatte bei uns Premiere, da hatten wir Glück: Der Film war 2014 im Filmclub der erfolgreichste Film, mit 4.500 Besuchern. Das ist für uns gut, der Durchschnittsfilm hat höchstens 1.000 Besucher. Jetzt sind wir auf 87.000 Besucher im Jahr und das ist verglichen mit den österreichischen Alternativkinos akzeptabel. Bei den jungen Leuten, das muss man zugeben, liegt das Cineplexx vorn. Das hat die Blockbuster und die neuen Disney-Filme. Da mit Pippi Langstrumpf oder Ronja Räubertochter mitzuhalten, ist für uns nicht leicht.
Wenn der junge Martin Kaufmann von damals im heutigen Bozen aufwachsen würde: Könnte er die gleiche Leidenschaft für den Film entwickeln?
Das ist schwer zu sagen. Ich sehe das an meinen Neffen, die gehen zwar manchmal ins Cineplexx aber es gibt Dinge, die jetzt wichtiger sind: das Handy, Feten, was weiß ich. Ich habe das gebraucht, in den 60er- und 70er-Jahren im Kino zu sitzen und dieses Erlebnis zu haben. Ich erinnere mich noch genau, auf welchem Stuhl ich gesessen habe, als ich zum Beispiel „Die glorreichen Sieben“ gesehen habe oder „Ben Hur“. Aber auch heute ist es noch so, das erstaunt mich immer wieder, dass fast jeder sagt: Im Kino sitzen, das ist schon etwas anderes. Das beeindruckt einfach, diese riesige Leinwand.
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