Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Dass Gudruns Nachname Reden ist, hat die heute 41-Jährige in ihrem Leben oft zum Schmunzeln gebracht. Das Reden war es nämlich, das Gudrun seit ihrer frühen Kindheit Probleme bereitete. Gudrun stotterte. Die Wörter wollten einfach nicht aus ihrem Mund kommen, ihre Gesichtsmuskeln verkrampften sich, ihr ganzer Körper war angespannt. Bei der mündlichen Maturaprüfung stotterte Gudrun so stark, dass ihr Lehrer trotz ihrer schnellen Auffassungsgabe von einem Studium abriet. Die ehrgeizige junge Frau ließ sich aber nicht von ihren Plänen abbringen und schrieb sich dennoch an der Universität für Bodenkultur in Wien ein.
Mehr als 20 Jahre später treffe ich die dreifache Mutter in ihrer Wohnung in Brixen. Ich zweifle kurz, ob ich hier schon richtig bin: Die dunkelhaarige, freundlich lächelnde Frau stockt beim Sprechen kein einziges Mal, jedes Wort geht ihr flüssig über die Lippen. Gudrun hat ihr Stottern „bewältigt“, wie sie sagt. Nur in extremen Stresssituationen – etwa beim schnellen Bestellen im Restaurant – komme es noch manchmal vor. Den Weg zum gelassenen Sprechen will sie auch anderen Stotterern zeigen. Denn alleine ist Gudrun mit dieser Sprechstörung nicht.
Selbst Beförderungen im Job schlagen Stotterer oft aus Angst vor neuen, belastenden Sprechsituationen aus.
Ein Prozent der Erwachsenen stottert, 80 Prozent davon sind Männer. Wie genau sich die Störung des Sprechablaufs äußert, ist sehr individuell. „Bei jedem Betroffenen äußert sich das Stottern in einer anderen Form“, erklärt Gudrun. Ihr machten etwa besonders die Explosivlaute p, t, k Probleme. Chronisches Stottern schränkt die Betroffenen oft massiv in ihrem Leben ein. Eine Information in einem Amt zu erfragen, kostet viel Kraft und Überwindung, wichtige Telefonate werden aus Scham so lange wie möglich hinausgezögert. Selbst Beförderungen im Job schlagen Stotterer oft aus Angst vor neuen, belastenden Sprechsituationen aus.
Die Ursachen für diese Sprechstörung sind immer noch nicht vollständig geklärt. In Studien konnte aufgezeigt werden, dass Stotterer ein kleines Defizit in den Nervenfaserverbindungen der Sprechzentren aufweisen. Stottern tritt familiär gehäuft auf, weshalb man davon ausgeht, dass die Veranlagung dazu vererbt wird. Man spricht von einer genetischen Disposition. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Stottern dann auch wirklich auftreten muss – dies hängt von weiteren Faktoren, etwa psychischen oder soziokulturellen Einflüssen, ab. Gudrun war als Kind eher ängstlich, hatte einen Drang zum Perfektionismus und verspürte auch einen gewissen Leistungsdruck. Diese Charaktereigenschaften begünstigten ihre Veranlagung zum Stottern, die sie geerbt hatte – auch ihr Urgroßonkel war Stotterer.
„Der Knackpunkt ist die Akzeptanz des Stotterns. Ich habe endlich begonnen, mir die Wurzel meines Problems anzuschauen.“
Wie aber schaffte es Gudrun, ihr Stottern so zu bewältigen, dass es nicht mehr ihren Alltag bestimmt? In der Schule brachte sie beim Vorlesen in der Klasse kaum ein flüssiges Wort heraus, heute hält die Angestellte im Amt für Abfallwirtschaft in der Landesagentur für Umwelt problemlos Vorträge vor Fremden. Ihre Studienzeit in Wien war der Anstoß für die Veränderung: „Die mündlichen Prüfungen im Studium haben mir gezeigt, dass es so nicht weitergeht. Das war der Punkt, an dem ich beschlossen habe: Jetzt muss ich das Problem anpacken, sonst kann ich meine Koffer packen und heimfahren.“ Gudrun fand damals eine sehr kompetente Logopädin, die sich auf das Stottern spezialisiert hatte, und lernte die Van-Riper-Therapiemethode kennen. „Der Knackpunkt dabei ist die Akzeptanz des Stotterns. Ich habe endlich begonnen, mir die Wurzel meines Problems anzuschauen“, erinnert sich Gudrun. In den darauffolgenden Jahren hat sie unterschiedliche Therapien ausprobiert, unter anderem die Ropana Methode, die sie sehr weitergebracht hat.
In Wien fand sie auch zur Selbsthilfegruppe Stottern für Betroffene. „Die war mein Segen“, schwärmt sie. Als klassische „Vermeiderin“, hatte sich Gudrun eine Sprechweise antrainiert, in der sie jegliche Wörter mied, die ihr schwerfielen. „Ich habe die Wörter einfach durch andere ersetzt. Darin sind Stotterer wahnsinnig gut“, erklärt sie die von vielen genutzte Strategie, um das Stottern zu verbergen. Der innerliche Druck und die Angst vor den Lauten wird dadurch aber immer größer.
„Es war für mich wie eine Berufung, anderen Stotterern zu helfen, so wie man mir in der Wiener Selbsthilfegruppe geholfen hat.“
In der Selbsthilfegruppe traute sich Gudrun endlich wieder, die lange gemiedenen Wörter auszusprechen. Dass sie dabei stotterte, akzeptierte sie, die Sprechstörung nahm sie als Teil von sich an. Dadurch wurde sie viel gelassener und konnte folglich immer flüssiger sprechen. Die Wiener Selbsthilfegruppe fand Gudrun so hilfreich, dass sie nach ihrer Rückkehr nach Südtirol auch hier eine Selbsthilfegruppe für Betroffene aufbauen wollte. „Ich hatte einfach das Bedürfnis, etwas zurückzugeben. Es war für mich wie eine Berufung, anderen Stotterern zu helfen, so wie man mir in Wien geholfen hat.“
Die Selbsthilfegruppe gibt es nun seit 2004. Sie trifft sich einmal im Monat in Brixen und tauscht sich aus. Gudrun begeistert es immer wieder, welche Entwicklungen manche Stotterer in der Gruppe durchmachen: „Viele Stotterer neigen dazu, sich zu verstecken und wenig zu sprechen. Im Laufe der Treffen blühen sie langsam richtig auf, wie eine Blume.“ Deshalb hat Gudrun auf den Flyer für ihre Selbsthilfegruppe auch das Bild einer aufblühenden Tulpe drucken lassen.
Da Gudrun überzeugt ist, flüssiges Sprechen hänge stark mit Ruhe und Entspannung zusammen, baut sie immer wieder Entspannungs- und Körperwahrnehmungsübungen in die Gruppensitzungen ein. Auch lautes Vorlesen in der Gruppe und spielerische Übungen wie Theaterimprovisationen werden gerne ausprobiert. Im Vordergrund steht aber der Erfahrungsaustausch der Betroffenen. Dadurch können Ängste abgebaut werden und Betroffene gewinnen mehr Gelassenheit. Im sogenannten „Schonraum“ können sie das Stottern besser zulassen und die Sicherheit bei den Übungen in der Gruppe können dann in den Alltag übertragen werden.
Die Treffen in der Selbsthilfegruppe können aber eine logopädische Therapie – egal welcher Methode – nicht ersetzen, will Gudrun klarstellen. In der Therapie erlerne man Hilfsmittel zum flüssigen Sprechen, in der Selbsthilfegruppe gehe es mehr um die Akzeptanz und darum, einen neuen Umgang mit dieser eigenen Schwäche zu finden. Dies wünscht sie sich auch vom nicht-stotternden Gegenüber. Es ist nicht ratsam, den Satz eines stotternden Menschen zu Ende zu führen. Stattdessen hilft ein wohlwollender Blick, der Ruhe vermittelt.
Wenn Kinder in bestimmten Phasen des Spracherwerbs stottern, müssen nicht sofort die Alarmglocken der Eltern läuten. 25 Prozent der Kinder haben irgendwann in den ersten Lebensjahren Sprechstörungen, die nach kurzer Zeit wieder von alleine verschwinden. Wenn das Stottern allerdings die Eltern oder das Kind belastet, rät Gudrun, einen Logopäden aufzusuchen. Besonders dann, wenn eine Symptomatik wie die Verkrampfung der Gesichtsmuskeln, gehäuftes Augenblinzeln oder ein gestörter Atemfluss dazukommt, sollte man nicht zögern, Experten – am besten Logopäden, die sich auf das Stottern spezialisiert haben – aufzusuchen.
Auch wenn es Gudrun durch ihr Stottern nicht immer leicht hatte, sagt sie: „Das Stottern hat mich sehr geprägt. Sonst hätte ich mich nicht zu dem Menschen entwickelt, der ich heute bin.“ Wenn sie heute flüssig bei ihren Vorträgen sprechen kann, weiß sie, welch großes Geschenk das ist. Anderen Stotterern will sie Mut machen: „Jeder Mensch hat Schwächen. Die Kunst ist, zu diesen Schwächen zu stehen und einen Weg im Leben zu finden, um mit diesen besser klarzukommen.“
Die Selbsthilfegruppe Stottern für Betroffene trifft sich jeden ersten Donnerstag im Monat um 19 Uhr im Sozialsprengel Brixen-Umgebung in der Kapuzinerstraße 2. Einzelgespräche mit der Leiterin Gudrun Reden sind auch unabhängig von den Gruppentreffen möglich: gudrun@reden.it
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support