Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Die Proteste im Iran halten an. Nur durch brutale Gewalt und einer umfassenden Internetsperre gelingt es der islamistischen Führung, die Kontrolle zu bewahren. Was unterscheidet diese Aufstände von früheren Protesten? Und wie könnten sie ausgehen?
Auch in den letzten Jahren kam es im Iran immer wieder zu landesweiten Protesten. Was ist diesmal anders?
Auslöser der letzten großen Demonstrationen waren Wahlfälschungen (2009) oder die marode Wirtschaft (2019). Meistens erübrigten sich die Forderungen der Demonstrantinnen und Demonstranten in grundlegenden Reformen des Systems. Doch die wurden ihnen verwehrt, die Proteste jedes Mal gewaltsam niedergeschlagen.
Nun trifft die Wut der Menschen den Kern der Islamischen Republik Iran: die islamischen Sittenregeln und ihre Durchsetzung mittels diktatorischer Mittel. Dazu gehört vor allem die religiös begründete, systematische Diskriminierung der Frauen. Zum ersten Mal unterstützen auch die (meist sehr jungen) iranischen Männer proaktiv den Freiheitskampf der Frauen.
Die iranische Führung beschuldigt ausländische Kräfte (vor allem USA und Israel), die Proteste organisiert zu haben. Wie groß ist die Gefahr tatsächlich, dass die Auflehnung der Iraner vereinnahmt wird?
Sowohl ausländische als auch iranische Gruppen (etwa die islamisch-kommunistischen Volksmudschaheddin) versuchen bereits, die aktuellen Proteste für die eigenen politischen Ziele einzuspannen. Die Angst vor solchen Vereinnahmungen und Einmischungen ist groß im Iran.
Die Erinnerungen an den irakischen Angriff 1981, als Saddam Hussein kurz nach der Islamischen Revolution die Schwäche des Irans ausnutzen wollte, um das Land zu erobern, sitzen den Iranerinnen und Iranern noch tief in den Knochen. Selbst aktive Regimegegner haben deshalb bisher den Weg der Reformen bevorzugt, um einen Wandel herbeizuführen.
Der Gedanke an eine neue Revolution war den meisten Iranern verdächtig, sie fürchteten das Risiko militärischer Interventionen oder gar eines Bürgerkriegs. Doch das ändert sich gerade. Indem das Regime die Hoffnungen der Reformerinnen und Reformer jahrzehntelang enttäuscht hat, sehen vor allem junge Iranerinnen und Iraner, die die Schrecken der Islamischen Revolution und des Irak-Iran-Kriegs nicht selbst miterlebt haben, im gewaltsamen Umsturz den letzten Ausweg aus der islamistischen Kleptokratie.
Die Tötung einer Frau hat die Proteste ausgelöst. Wer war Mahsa Amini?
Die kurdische Frau Mahsa Amini wurde Anfang September von der islamischen Sittenpolizei wegen ihrer nicht islamkonformen Kleidung verhaftet. Sie starb in Polizeigewahrsam mutmaßlich an den Folgen der brutalen Behandlung.
Die Behörden sprechen von Herzproblemen, Aminis Vater aber beharrt darauf, dass seine Tochter in bester Gesundheit war. Mahsa Amini war keine Aktivistin, sondern eine gewöhnliche Frau, eine Tochter, Freundin und Schwester. Daher kommt der hohe Identifikationswert mit ihr. Einer der Slogans der Demonstrantinnen und Demonstranten lautet: “Wer immer unsere Schwester getötet hat, den werden wir töten.”
Was ist die Aufgabe der Sittenpolizei?
Die islamische Sittenpolizei existiert im Iran seit der Islamischen Revolution 1979 in verschiedenen Formen. Ihre Aufgabe ist es, die Einhaltung der islamischen Gesetze bei Kleidung und Lebensstil durchzusetzen.
Dass die Sittenpolizei dabei häufig Gewalt anwendet, ist im Iran weitbekannt. Viele junge Menschen, vor allem Frauen, haben im Iran die Erfahrung gemacht, bei Verhaftungen beschimpft und verprügelt zu werden.
Wofür demonstrieren die Menschen im Iran?
Der Kopftuchzwang und dessen rücksichtslose Durchsetzung waren lediglich der Auslöser der jüngsten Ausschreitungen. Die Menschen, die aktuell auf die Straße gehen, kämpfen für das Ende der islamischen Sittenregeln, bessere Wirtschaftsbedingungen, mehr Natur- und Wasserschutz und einen Systemwechsel zur Demokratie.
Wie reagiert die iranische Führung?
Von Anfang an reagierte die Führung äußerst nervös. Schon am zweiten oder dritten Tag der Proteste wurde in zahlreichen Städten das Internet abgeschaltet, Whatsapp und Instagram sind gesperrt, mit enormen Schäden für die iranische Wirtschaft.
Zugleich entsandten die Behörden Polizisten, Revolutionsgarden und Basidsch (eine Freiwilligenmiliz der Revolutionsgarden) in die Straßen, um die Demonstrationen durch den Einsatz von Schlagknüppeln, Tränengas und Gummigeschossen in Schach zu halten. Immer häufiger wird auch scharf geschossen. Hunderte Menschen wurden bei den Protesten getötet. Das Internet ist weitgehend lahmgelegt.
Ist ein Umsturz ein realistisches Szenario?
Von systemgefährdenden Massenaufständen kann noch nicht die Rede sein. Der Großteil der Menschen ist nicht bereit, Leben und Zukunft im Kampf gegen eine völlig skrupellose Staatsgewalt zu riskieren.
Das Aufgebot hunderter bis tausender gewaltbereiter Regimesöldner ist teilweise so einschüchternd, dass die Angst bei den meisten Menschen überwiegt.
Deshalb spielen sich die meisten Proteste, abgesehen von Teheran, in den Kleinstädten und Dörfern ab, wo die lokale Polizei oft den Kürzeren zieht. Dies geschieht vor allem im Norden und im kurdisch geprägten Nordosten des Landes, mittlerweile aber auch in Khuzestan und in Belutschistan im äußersten Südwesten und -osten des Landes. In Zahedan in Belutschistan haben die Aufständischen den Geheimdienstchef der Region getötet.
Wie spielen sich die Proteste im Augenblick ab?
In den meisten Städten sind die Straßen aktuell ruhig, partiell sogar leer, die Atmosphäre hat etwas von Ausnahmezustand. Weil die Situation unberechenbar ist, bleiben viele Menschen lieber zu Hause in Sicherheit. Die Proteste haben sich in den letzten Tagen von der Straße in die Universitäten verschoben oder entladen sich als unberechenbare Flashmobs, bei denen Frauen etwa ihre Hidschabs verbrennen.
Abends hört man in den Städten von zahlreichen Balkonen regierungskritische Slogans und Songs, die in voller Lautstärke gespielt werden. Dieser spontane und kleinteilige Charakter der Proteste dürfte sich erst ändern, wenn sich Teile der Armee und der Sicherheitskräfte auf die Seite der Demonstranten schlagen – was im Augenblick noch unwahrscheinlich ist. Dafür unterstützen aber die Ölarbeiter seit einigen Tagen mit Streiks die Proteste und gefährden so das Rückgrat des Regimes. Streiks der Ölarbeiter haben bereits in der Islamischen Revolution von 1979 eine entscheidende Rolle gespielt.
Was ist die größte Schwachstelle der Demonstranten?
Die Proteste im Iran sind desorganisiert – ein chronisches Gebrechen der iranischen Regimegegnerinnen und Regimegegner. Mehr als um Demonstrationen handelt es sich um spontane kollektive Wutausbrüche, es fehlt zumeist an Gruppen und Organisationen, die den Protesten eine strategische Richtung oder einen geistigen Unterbau geben können.
Das liegt daran, dass die Islamische Republik jahrzehntelang kritische Stimmen aus der iranischen Kunst, Kultur und Politik systematisch eliminiert hat. Bekannte Dissidenten, Künstler, Aktivisten und Intellektuelle wurden durch die lange Hand der iranischen Geheimdienste weltweit verfolgt und getötet – mit zahlreichen Morden und Anschlägen auch auf europäischem Boden.
Kann das Regime noch auf Unterstützung aus dem Volk zählen?
Gegen die Massenproteste von 2009, als in Teheran Hunderttausende gegen Wahlfälschung protestierten, gelang es der iranischen Führung, noch zehntausende Gegendemonstranten zu mobilisieren. Bei den jüngsten Protesten sind es nur noch einige Tausend, wobei das hohe Alter der meisten Gegendemonstranten auffällt.
Eine Umfrage des iranischen Parlaments hat gezeigt, dass eine Mehrheit der Iranerinnen und Iraner gegen den Kopftuchzwang ist – was dem verbreiteten Wunsch nach Trennung von Politik und Religion entspricht.
Das mächtigste Ass im Ärmel des Regimes ist aber weiterhin der gewaltbereite, extremistische Kern seiner Anhänger. Diese Menschen leben in einer von Regierungspropaganda gespeisten Parallelwelt und unterstützen das Regime oft tatkräftig beim Niederschlagen der Proteste.
Eine Mehrheit der Iranerinnen und Iraner wünscht sich Veränderung. Warum gewährt die iranische Führung sie nicht?
Die Islamische Republik steht und fällt mit dem Kopftuchzwang – genauso wie mit allen anderen islamischen Sittengesetzen. Die Revolution gegen den Schah war eine islamische, daraus bezieht das aktuelle Staatssystem, das sich mit der Zeit immer mehr zur hemmungslosen und unverhohlenen Kleptokratie entwickelt hat, seine einzige Legitimation.
Die Machthaber im Land würden durch eine kulturelle Öffnung des Landes keine neuen Anhängerinnen und Anhänger gewinnen, dafür aber die Hardliner, deren Unterstützung sie dringend brauchen, für immer verlieren. Deshalb wird die iranische Führung ihr islamistisches Fundament um jeden Preis verteidigen – auch gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit.
Wie geht es nun weiter?
Kurzfristig ist das wahrscheinlichste Szenario, dass es der Führung abermals gelingt, die Proteste gewaltsam niederzuschlagen und die Lage zu stabilisieren. Die Errungenschaft der Demonstrantinnen und Demonstranten und ihrer zahlreichen Opfer besteht in diesem Fall im Aufzeigen einer roten Linie und im Anstoßen einer landesweiten Debatte über Frauenrechte, die zwar nicht öffentlich ausgetragen wird, aber in den Familien zu einer weiteren kulturellen Öffnung und in politischen Kreisen bestenfalls zu einer graduellen Lockerung der islamischen Sittenregeln führen könnte.
Und langfristig?
Ein Umsturz im Iran würde einen historischen Präzedenzfall setzen: Es wäre die erste antiislamistische Revolution der Geschichte. Ob es dazu kommt, hängt in erster Linie von kulturellen Veränderungen ab, die im Iran schon seit einigen Jahrzehnten im Gange sind.
Dazu gehört vor allem das Bewusstsein vom Recht auf Individualität und Privatsphäre, das in den kollektivistischen Kulturen des Nahen Ostens nur gering ausgeprägt ist. Junge Iranerinnen und Iraner, deren Eltern bei der Berufs- und Partnerwahl der Kinder noch immer ein Mitspracherecht einfordern, tragen diesen Kampf um Selbstbestimmung täglich neu aus.
Was bedeutet der kulturelle Wandel, der sich im Iran gerade vollzieht, für die Politik?
Noch immer halten sich viele areligiöse und moderate Iranerinnen und Iraner in Anwesenheit ihrer religiösen Mitbürgerinnen und Mitbürger aus bloßem Respekt oder Bequemlichkeit an die islamischen Sitten- und Kleidungsregeln.
Auf diese Anpassung der Moderaten ist die Islamische Republik mit ihren Scharia-Gesetzen angewiesen. Neulich forderte der iranische Präsident Ebrahim Raisi von der CNN-Journalistin Christiane Amanpour, dass diese bei ihrem Interview in New York “aus Respekt” das Kopftuch trage, woraufhin die Journalistin das Interview absagte.
Sobald auch die iranische Mehrheitsgesellschaft erkennt, dass Respekt nicht die Anpassung an den religiös begründeten Willen der anderen, sondern die gegenseitige Toleranz unterschiedlicher Lebensstile bedeutet, ist die islamistische Diktatur am Ende.
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support