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Matthias Mayr
Veröffentlicht
am 31.10.2016
LeuteInterview zum Thema Islam in Südtirol

„Ängsten ins Gesicht sehen“

Veröffentlicht
am 31.10.2016
Don Mario Gretter ist Beauftragter für den interreligiösen Dialog. Der Islam-Experte über die Angst, den Glauben zu verlieren und darüber, wie Muslime Südtirol erleben.
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Don Mario Gretter aus Meran ist seit 20 Jahren katholischer Priester. Seit zehn Jahren ist er Beauftragter der Diözese Bozen Brixen für die Kontakte mit anderen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und für den interreligiösen Dialog. Der 45-Jährige ist Pfarrer an der Dompfarre, am Bozner Boden und Beauftragter für die italienische Seelsorge in Rentsch. Gretter studierte Theologie in Brixen, Fundamentaltheologie in Rom und Arabisch und Islamistik in Kairo, wo er zwei Jahre lebte.

Was können Sie uns über den Islam in Südtirol erzählen?
Das Thema ist sehr komplex. Es gibt große Unterschiede zwischen Land und Stadt. Da gibt es Mohammad aus Prad, der redet Deutsch, auch Dialekt, die Mutter ist Katholikin, der Vater Muslim. Er ist in zwei Welten groß geworden. Das kann religiös eigentlich nicht funktionieren, funktioniert aber doch. Und dann gibt es Jugendliche in Bozen, die in einer anderen Realität aufwachsen. In Südtirol gibt es rund 14.000 Muslime. Es gibt erst wenige der zweiten Generation, also Muslime, die hier geboren wurden. Vor einigen Jahren hat sich eine islamische Jugendgruppe gebildet, die „Jungen Muslime“. Eine religiöse Gruppe mit Jungs und Mädchen, die sich mit anderen Gruppen auseinandersetzen möchte. Auch muslimische Pfadfinder gibt es, die waren vergangenen Dezember bei der Betlehemlicht-Aktion dabei. Eine interessante Entwicklung.

Wäre das ein Ansatz, um Gemeinsamkeiten zu finden? Die Muslime kennen Jesus, der bei ihnen ein Prophet ist …
Weihnachten ist kein großes Problem im interreligiösen Dialog. Im Koran gibt es eine Erzählung über die Geburt Jesu, in der es keine Krippe gibt, aber Maria hätte in der Wüste unter einer Palme Zuflucht gefunden. Es sei ein Wunder geschehen, weil das Neugeborene gleich sprach und die Mutter gegen jene verteidigte, die sie wegen ihrer Ehelosigkeit verurteilten. Die Geburt ʿĪsā ibn Maryams, also Jesus, der Sohn Mariens, ist eine Botschaft im Koran. Eine ganz andere Geschichte ist Ostern. Da geht es nicht mehr um den Propheten, sondern um Tod und Auferstehung von Gottes Sohn. Diese Auffassung teilt der Koran nicht.

Wir diskutieren in Südtirol über ein Neben- statt ein Miteinander, eine Diskussion, die es auch zwischen Deutschen und Italienern gab und gibt. Gibt es Parallelen zur muslimischen Gemeinschaft?
Wir kommen aus einer Tradition der Spaltung, die tief verwurzelt ist. Wir haben aber Misch-Ehen. Meine Mutter ist eine deutsche Einheimische, mein Vater ein italienischsprachiger Einheimischer. Ich bin auch dazwischen großgeworden. So wie Mohammad am Stilfserjoch, bei dem die Mutter Christin, der Vater Muslim aus dem Maghreb ist. Er wächst zweisprachig auf, mit Deutsch und Arabisch, und ist in der christlichen und der islamischen Welt beheimatet. Aber von alleine geschehen diese Dinge nicht, dieser Fall alleine wird nichts ändern. Unsere Chance ist die Schule. Hier erreicht man alle Schichten und Gruppen. In Südtirol werden rund 130 Sprachen gesprochen, wir denken aber immer nur an drei. Aber die Schule allein reicht nicht. Wir müssen uns auch im Alltag begegnen.

Es heißt, die Zuwanderer seien radikaler, sie behandelten Frauen schlecht, Weihnachten würde aus den Schulen verdrängt. Was ist da dran?
Das ist sehr unterschiedlich. Bildung und Erfahrung machen viel aus. Da gibt es den Muslim, der mir gesagt hat, leider bist du Christ und wirst dich nicht retten können. Und dann gibt es den anderen, der sagt, wir haben alle denselben Gott und müssen schauen, wie wir mit unseren täglichen Problemen zurande kommen.

„Diese Verteidigungshaltung ist nichts Islamisches, sondern ein Phänomen von Migration. Sie ist manchmal notwendig, aber selten eine Hilfe.“

Stimmt es, dass Menschen, die in ihrer Heimat kaum Wert auf Religion legen, hier mehr Wert auf den Glauben legen?
Die Familien sorgen sich um die Zukunft ihrer Kinder. In Kairo kenne ich christliche Familien, die die Kinder in die religiöse Schule schicken, damit sie ihren Glauben nicht verlieren. Denn alles rundherum spricht Arabisch und ist muslimisch. Sitten und Bräuche sind anders. Hier passiert es umgekehrt. Ich bin im Meraner Schulzentrum zur Schule gegangen. Wir hatten damals vorgeschlagen, ein paar Tage Klassen zwischen deutsch- und italienischsprachiger Schule zu wechseln. Einmal über den Hof. Das war nicht möglich. Auch die Zeiten der Pause waren so abgestimmt, dass man sich nicht treffen konnte. Es gab zwei verschiedene Eingänge für die selbe Turnhalle. Aber wenn die Migranten ihre Eigenheiten bewahren wollen, wird das kritisiert. Diese Verteidigungshaltung ist nichts Islamisches, sondern ein Phänomen von Migration. Sie ist manchmal notwendig, aber selten eine Hilfe.

Fühlen sich die Muslime bedroht?
Im weltweiten Kontext gibt es Strömungen, die sagen, der Islam ist in Gefahr. Bei einem Iraker, der von Amerikanern niedergebombt wird, kann man das verstehen. „Kreuzritter“ ist eine beliebte Chiffre in der islamistischen Rhetorik, so wie bei uns „die Türken vor den Toren stehen“. Da wird Religion als Schild gebraucht. Im Fundamentalismus brauche ich einen absoluten Feind: Der Westen oder Amerika. Oder eben, die Flüchtlinge werden uns überrennen. Mohammad aus Prad, der sehr gut Dialekt spricht und als Einheimischer eingestuft werden könnte, hat mir erzählt, dass spätestens, wenn er seinen Namen nennt, viele Türen zugehen. Eine junge Frau aus Bozen hat gerade Matura gemacht, ist westlich gekleidet und wird immer noch als ‚extracomunitaria’ behandelt – als außerhalb der Gesellschaft. „Was muss ich noch tun, um dazuzugehören?“, hat sie zu Recht gefragt. Mit unserem Verhalten geben wir denen Recht, die behaupten: Die hiesige Gesellschaft wird dich ohnehin nie mögen, bekenne dich lieber zu uns und schotte dich ab.

Es heißt, den Muslimen fehle, was die Christen als „Aufklärung“ kennen.
Wir im Christentum haben uns Fragen über die moderne Welt gestellt und uns die Antworten erarbeitet, besonders nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Über die Trennung von Staat und Religion, die individualistische Vision und die gesellschaftliche Relevanz der Religion wird zwar noch immer debattiert und das wird auch so bleiben, aber wir beschäftigen uns damit. Im Islam gibt es vereinzelte Denker, die sich damit beschäftigen, aber im theologischen System gibt es kaum eine Entwicklung. Innerhalb des Islam gibt es große Würdenträger, wie den großen Imam von Al Azhar, von einer der wichtigsten Universitäten und Moscheen in der sunnitischen Welt. Er hat gesagt, die Muslime müssen sich fragen, wie sie den Islam gelehrt haben, dass diese Entartungen sich entwickeln konnten. Eine bemerkenswerte Selbstkritik. Davor hat man gesagt, der IS – der Islamische Staat – liegt einfach falsch. Nun überlegt man, was man selbst falsch gemacht hat. Das sind kleine, aber wichtige Schritte.

Die islamische Welt ist tief gespalten …
Innerhalb des Islam behauptet etwa der IS, den wahren Glauben zu haben, und spielt es gegen andere Muslime aus. Das tun aber auch die Wahhabiten. Wir meinen immer, der IS sei vor allem ein Problem für den Westen. Ja, sicher, es gibt eine große Christenverfolgung, die verschwiegen und vergessen wird. Dem Westen scheint es egal zu sein, dass die Christen im nahen Osten verschwinden. Aber es gibt auch große Konflikte zwischen „echten“ und „unechten“ Muslimen, und dazu die große Spaltung in Sunniten und Schiiten aus der Anfangszeit des Islam. Beim heurigen Hadsch, der Pilgerfahrt nach Mekka, haben die Iraner aus Protest nicht teilgenommen. Das muss man sich einmal vorstellen. Es ist ein politischer, ökonomischer und religiöser Machtkampf. Wie wenn Katholiken und Protestanten sich den Krieg erklären würden.

Wo kann man ansetzen?
Radikalisierung geschieht im Internet, deshalb muss man mehr investieren und nicht warten, dass Integration von alleine geschieht. Was bedeutet überhaupt Integration? Assimilation? Nebeneinander? Miteinander? Wer kümmert sich darum? Wir versuchen, Leute zusammenzubringen. Wir hatten ein Treffen zwischen jungen gläubigen Christen und Muslimen, damit sie über ihren Glauben reden. Das war hochinteressant.

„Bei den meisten Konflikten geht es nicht um Religion, sondern um Zwischenmenschliches, wo sicher Kultur und Tradition reinspielen.“

Sie haben einmal geschrieben, Ängste und Bedenken werden gleich als Islamophobie oder Rassismus bezeichnet. So sei eine echte und sachliche Auseinandersetzung nur schwer möglich …
Es gibt den Müll, der von Facebook und so weiter verbreitet wird. Das ist unerträglich. Es gibt Leute, die nichts anderes zu tun haben, als ihren Frust und Hass in die Tastatur zu hämmern und sich überlegen zu fühlen. Aber das ist ein Thema für sich. Wenn ich mit meinem Nachbarn Probleme habe, habe ich Probleme mit dem Nachbarn und nicht mit seiner Religion. In Kairo hat mein Nachbar um halb 2 Uhr früh das Badezimmer renoviert. Was ist dann das Problem: Dass er Muslim ist und ich Christ? Ich muss das Problem lösen, und nicht einen Religionskrieg anfangen. Im Haus eines Bekannten lebt eine pakistanische Familie, und er beschwert sich, dass die Kinder so laut sind. Als ich klein war, war unser Kondominium voller Kinder, da war es immer laut, das hat den älteren Nachbarn sicher auch nicht gepasst. Bei den meisten Konflikten geht es nicht um Religion, sondern um Zwischenmenschliches, wo sicher Kultur und Tradition reinspielen. Aber das Hauptproblem ist, dass wir keine Konfliktlösungsstrategien haben, nicht nur im Umgang mit Muslimen.

Der Begriff der Angst geistert durch unser Leben. Die Menschen haben Angst, dabei ist es gar nicht relevant, ob diese Ängste real sind. Was soll man dem entgegnen?
Es gibt in der Soziologie eine Regel. Ihr zufolge ist es nicht notwendig, dass eine Sache wahr ist, um Effekte zu generieren, die wahr sind. Ich muss die Angst verwalten, wenn ich sie schon nicht überwinden kann – Gegenstimmen hören, sonst werde ich in meiner Angst bestätigt. Begegnungen sind neue Erfahrungen, die Ängste abbauen können. Ich war in einer Klasse, in der viele Angst vor dem Islam hatten, aber nur zwei einen Muslim kannten und das nur flüchtig. „Die stehlen Fahrräder“ , sagte einer. Es gibt 1,2 Milliarden Muslime weltweit, wenn die jetzt alle Fahrräder stehlen … Wir müssen den Ängsten ins Gesicht sehen.

Wir haben eine recht starke Zuwanderung, darunter Menschen aus Kriegsgebieten, die dort und bei der Flucht sicher vieles mitgemacht haben. Da werden Konflikte importiert. Wie kann man damit umgehen?
Das wird jahrelang so weitergehen, denn von heute auf morgen wird es keinen Frieden auf der Welt geben. Da immer noch von Notsituation zu reden, ist unverantwortlich. Wir müssen die Sache anpacken und uns Gedanken machen, was wir tun können. Dafür brauchen wir Geld. Oder wir pumpen trotzdem Geld hinein und hoffen, dass sich das Problem von alleine löst. Aber das wird nicht passieren.

Was wird die Zukunft bringen?
Wenn wir die Zuwanderer nur irgendwo parken, werden wir große Probleme bekommen. Wir müssen uns – unabhängig von den Flüchtlingen – fragen, was wir für die Gesellschaft tun können. Uns selbst zuliebe. Wir sind einsamer, verschlossener geworden, wir werden älter und verlangen mehr. Rechte stehen vor Pflichten. Aber wenn wir aktiv werden und nicht immer delegieren, kann sich etwas entwickeln.

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