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In zerrissenen Jeans und groben Stiefeletten sitzt Regisseurin Serena Sinigaglia im Zuschauerraum, zwischen den beringten Fingern mit den abgekauten Nägeln hält sie ihre E-Zigarette. Mit lauter Stimme ruft sie ihre Kommandos, flucht entnervt, weil schon wieder jemand zur Tür hereinkommt, entschuldigt sich gleich wieder dafür. Während im Hintergrund das Bühnenbild – eine unübersichtliche Wellenlandschaft – umgebaut wird, wiederholt sie fokussiert und konzentriert mit einer Schauspielerin und einem Schauspieler den Text für eine Szene, so lange, bis alles sitzt.
„Europa Cabaret“ – das sind eigentlich zwei Stücke von zwei verschiedenen Autoren. Wie ist es zu diesem Projekt gekommen?
Es haben zwei verschiedene Dramaturgen den Auftrag bekommen, ein Stück über Europa zu schreiben. Der spanische Regisseur Carlos Martín und ich haben uns dann auf das Spiel eingelassen, jeweils einen dieser Texte zu inszenieren und gemeinsam auf die Bühne zu bringen. Carlos, den ich seit Langem kenne, arbeitete schon mit Michele De Vita Conti an einem Projekt über Europa, als ich dem Teatro Stabile vorschlug, ein Stück über Europa zu machen. Und was könnte europäischer sein, als Italien und Spanien zu verbinden und etwas Gemeinsames zu machen? Das ist dann alles eher improvisiert zustande gekommen, aber im gemeinsamen Glauben, dass es besser ist, auf europäischer Ebene zusammenzuhalten, als getrennte Wege zu gehen.
„Wir sind absolut pro-europäisch, und genau das erzählt das Stück.”
Du inszenierst also den ersten Teil „L’Europa su Marte“ von Roberto Cavosi und Carlos Martín den zweiten Teil „La Diva Europa“. Wie dürfen wir uns das vorstellen?
Wir teilen uns dieselben Schauspieler, die Kostüme von Katarina Vukcevic und das Bühnenbild von Maria Spazzi. Rahmen und Ort sind also gleich.
Und was verbindet die beiden Stücke auf inhaltlicher Ebene, abgesehen vom Leitmotiv Europa?
Zum einen die politische Haltung. Wir sind absolut pro-europäisch, und genau das erzählt das Stück: Unser vereintes Europa basiert auf den Werten einiger großer Denker der vergangenen Jahrhunderte – im Stück wird Voltaire zitiert, aber man könnte auch viele andere nennen – und diese Werte kann man nicht nicht teilen, gerade in einer so komplexen und kranken Gemeinschaft, wie wir sie gerade erleben. Unsere gemeinsame politische Botschaft lautet also, dass in der Gemeinschaft unsere Stärke liegt. Darüber hinaus ist unsere Botschaft auch, dass in der Inklusion Stärke liegt. Deshalb kommen in beiden Stücken Migranten vor. Im ersten Teil ziehen diese Migranten herum, ohne dass so richtig klar wird, warum eigentlich. In der zweiten Hälfte sind sie dann die Protagonisten und halten so die beiden Teile zusammen.
Kannst du uns mehr über „L’Europa su Marte“ erzählen, bei dem du Regie führst?
Das Stück ist eine paradoxe und sehr spielerische Reise durch die Epochen der Geschichte. Vom Mittelalter geht es etwa zum Sonnenkönig und Robespierre – das sind alles Fragmente, in denen einige der grundlegenden Themen behandelt werden, die die Entstehung Europas erschwert haben. Wir zeigen ein heruntergekommenes Cabaret, das diese ganzen Konflikte und Probleme auf tragikomische Weise hochnimmt. Ausgehend vom Entstehungsmythos – es gibt nämlich einen Prolog im Foyer, der von Zeus‘ Vergewaltigung der Europa erzählt, aus der dann die Europäer entstanden sein sollen. Zu Beginn des Ganzen steht also eine Vergewaltigung, zwar eine Vergewaltigung aus Liebe, aber nichtsdestotrotz eine Vergewaltigung. Anschließend kommen alle in den Theatersaal, wo dann im Vogelflug die Epochen und großen Momente durchlebt werden, die die europäische Gemeinschaft hinter sich hat.
Und was erwartet uns im zweiten Teil, den Carlos Martín inszeniert hat?
Die beiden Teile trennt eine Art interaktive Pause, wo die Leute im Saal bleiben können und auch die Schauspieler hinter der Bühne hervorkommen. Dann folgt „La Diva Europa“, ein naives und poetisches Märchen, in dem Christus, nachdem in Europa kein Platz mehr für Migranten ist, auf den Rat von Poseidon hin die Migranten nach Grönland führt, um das Land zu kolonisieren.
„Unsere Aufgabe ist es vielmehr, eine Satire daraus zu machen, weil wir uns der Werte beraubt fühlen, die Europa geschaffen haben.“
Auch hier überwiegen also die humoristischen Töne?
Ja, das Ganze zusammen nennt sich ja „Europa Cabaret“, und zwar auch aus dem Grund, dass uns das Cabaret die Möglichkeit gibt, zu scherzen, zu spielen, ins Groteske zu verfallen und uns über die Theatergenres und dadurch auch über die dramaturgische Einheit von Zeit und Raum hinwegzusetzen. Im Cabaret kann man nicht nur eine, sondern hundert Geschichten erzählen, und das machen wir mal in grotesken, mal in paradoxen, oft in komischen und hin und wieder auch in tragischen Zügen. Ein so heißes Thema wie Europa in völligem Ernst anzugehen, obliegt, glaube ich, nicht dem Theater.
Was ist dann die Aufgabe des Theaterstücks?
Unsere Aufgabe ist es vielmehr, eine Satire daraus zu machen, weil wir uns der Werte beraubt fühlen, die Europa geschaffen haben. Wir dürfen dieses Gefühl der Leere, das das heutige Europa in Bezug auf die eigenen Werte und die eigene Geschichte immer mehr beherrscht, nicht teilen. Europa darf nicht vergessen, was zum Beispiel der Zweite Weltkrieg für eine Bedeutung hatte. Das war ja in erster Linie ein europäischer Konflikt, bis die USA und die Sowjetunion dazugekommen sind, die dann auch als einzige vom Krieg profitiert haben. Wir Europäer sind alle als Verlierer hervorgegangen. Wenn wir heute den Nationalsozialismus und den Faschismus vergessen, sind wir neuen besorgniserregenden Strömungen ausgeliefert. Das nur als Beispiel.
Die Geschichte Europas kann also nur als eine gemeinsame gedacht werden?
Genau. Das Problem ist, dass wir eigentlich schon vereint sind, und das seit Jahrhunderten. Im Stück gibt es einen Notar, der verzweifelt versucht, den Stammbaum einer österreichisch-ungarischen Familie nachzuverfolgen, der sich aber durch ganz Europa verzweigt. Das ist ein Sinnbild dafür, dass wir alle Kinder unzähliger Wanderungsbewegungen in der Vergangenheit sind. Das heißt, wir sind schon alle verbrüdert. Und die große Herausforderung liegt jetzt darin, uns für neue Menschen zu öffnen, die ja schon hier sind. Die Migranten sind bereits da – was wollen wir denn tun? Sie umbringen?
Trotz dieser Verbrüderung sprechen wir in Europa aber unzählige Sprachen. Wie funktioniert das im Stück?
Im Stück ist das ein totales Chaos, unsere Schauspieler sprechen Italienisch, Spanisch, Deutsch, auch die Elfenbeinküste und Argentinien sind vertreten. Die vorherrschenden Sprachen sind Italienisch und Spanisch, aber hier in Bozen haben wir auch Deutsch hinzugenommen. Viele Szenen spielen in Frankreich, also kommt auch Französisch vor. Manchmal während der Proben hatte ich das Gefühl, eine neue Sprache zu hören, eine Art „Europäisch“, wo ein Wort auf Französisch, eines auf Deutsch, eines auf Italienisch, eines auf Spanisch, eines auf Griechisch – das kommt nämlich auch vor – gesagt wird. Und auch das macht das Cabaret aus: Mehrsprachigkeit ist etwas Urkomisches, sie ist das erste große Hindernis bei der Verständigung und gleichzeitig sehr tragikomisch. Es war eine Herausforderung für uns, innerhalb der Szenen von einer Sprache in die andere zu wechseln, als wäre das ganz normal.
Auch um eine Übersetzung zu umgehen?
Ja, aber auch weil zumindest ich es wirklich so haben wollte. Haben wir nicht schon gewonnen, wenn die Menschen auf der Bühne sechs der europäischen Hauptsprachen sprechen und sich verstehen? Und indem sie sich verstehen, versteht auch das Publikum.
Das Stück „Europa Cabaret“ der Vereinigten Bühnen Bozen (es handelt sich um eine Koproduktion mit dem Teatro Stabile di Bolzano, Patronato Municipal Artes Escénicas y de la Imagen, Teatro del Temple Zaragoza) feiert am 08.10.19 seine Premiere im Kulturzentrum Trevi in Bozen. Weitere Infos gibt es hier.
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