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Matthias Mayr
Veröffentlicht
am 21.03.2018
LeuteInterview zum Contergan-Skandal

„Viele werden ausgegrenzt“

Veröffentlicht
am 21.03.2018
Betroffenen fehlen Arme oder Beine: Der Skandal um das Beruhigungsmittel Contergan traf auch Südtirol. Die Opfer leiden bis heute, weiß Martina Rabensteiner.
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Die Pharmafirma Grünenthal brachte 1957 rezeptfrei das Beruhigungs- und Schlafmittel Contergan auf den Markt. Schwangere, die das Medikament einnahmen, bekamen vermehrt missgebildete Kinder. Den Neugeborenen fehlten die Ohrmuscheln, Arme und Beine waren nicht voll entwickelt. Als 1961 die Zahl fehlgebildeter Kinder in die Höhe schnellte, nahm man das Mittel vom Markt.

Contergan ist der Markenname des Wirkstoffs Thalidomid. Da es vor der Zulassung an Ratten getestet wurde, nicht aber an trächtigen Tieren, wurde die Gefahr, die von Thalidomid ausgeht, nicht erkannt. Denn der Wirkstoff hat für einen normalen Erwachsenen kaum Nebenwirkungen. Gefährlich ist er nur, wenn Schwangere zwischen der vierten und sechsten Schwangerschaftswoche das Mittel einnehmen. Zeitweise nahm es jeder zweite Deutsche ein.

Martina Rabensteiner, 26 Jahre, stammt aus Barbian und wohnt in Brixen. Sie studierte Geschichte und Archäologie in Wien und Innsbruck und arbeitet an ihrer Dissertation an der Uni Innsbruck. Darin beschäftigt sie sich mit den Folgen des Contergan-Skandals in Südtirol und Italien.

Du hast schon deine Masterarbeit zum Thema Contergan geschrieben, wieso nun auch die Doktorarbeit?
Das Thema hat mich gedrängt, weiterzumachen. Ich habe während meiner Masterarbeit zum Conterganskandal in Österreich gesehen, dass noch sehr viel aufzuarbeiten ist und es hat mich jetzt auch interessiert, wie die Situation in Südtirol und Italien war.

Martina Rabensteiner

Was bringt dich zum Thema – kennst du jemanden, der unter den Folgen des Skandals leidet?
Nein, nicht direkt. Ich sah den Film „Contergan – Eine einzige Tablette“, in dem das (fiktive) Leben einer Familie in dieser Zeit dargestellt wird. Das war so schlimm, das Thema hat mich tief getroffen. Es wurden damals viele Menschen einfach im Stich gelassen. Als ich ein Thema der Zeitgeschichte für eine Uniarbeit brauchte, fiel mir der Film ein. Ich habe bemerkt, dass der Skandal in der Generation meiner Eltern sehr stark Thema war, aber immer bezogen auf Deutschland. Ich wollte mir anschauen, wie das hierzulande war. Und ich will den Betroffenen helfen.

Film zum Contergan-Skandal gewann Bambi. Achtung: Der Schauspielerin Denis Marko (Bildmitte) fehlen beide Arme und ein Bein nicht wegen des Arzneimittels Contergan.

Wie weit bist du mit deiner Forschung?
Noch in der Anfangsphase, aber doch schon auf einem guten Weg.

Was macht die meisten Schwierigkeiten?
Es gibt praktisch keine wirklichen Quellen, wie Geschädigtenlisten, und keine Kontakte. Ich musste mir also erst mühsam meine Kontaktpersonen zusammensuchen. Es gibt kein Register oder einen offiziellen Ansprechpartner. Ich habe Aufrufe an alle möglichen Medien und an alle Gemeindeblätter geschickt und Mundwerbung gemacht. Nach und nach haben sich Betroffene gemeldet oder man sagte mir zum Beispiel, in dem und dem Dorf lebt jemand, der davon betroffen ist. Mittlerweile habe ich rund zehn Betroffene in Südtirol beisammen und Kontakte zu Geschädigten und Geschädigtengruppen in Italien. Ich bin in der „Szene“ ein bisschen drin, man kennt mich und erzählt von meinem Anliegen. Aber niemand weiß, wie viele Fälle es in Südtirol und in Italien gibt.

Was schätzt du, wie viele es sind?
Der italienische Staat hat sich mit dem Thema kaum auseinandergesetzt und Contergangeschädigte erst 2006 anerkannt, 2007 kam dann ein erstes Gesetz. Es gibt keine Listen, aber man spricht von ungefähr 600 Betroffenen in Italien, bereits verstorbene inklusive. In Deutschland gibt es mindestens 4.000 Opfer von Contergan, Schätzungen zählen bis zu 6.000. Weltweit sind es wohl zwischen 10.000 und 12.000 Opfer. Es ist sehr schwer, das genau zu sagen. Früher wurde wohl nicht so schnell und genau nachgeforscht, was der Grund für die Schädigung war. Das Medikament verursachte auch Fehlgeburten, die man nicht immer einer Ursache zuordnen konnte. Erst als immer mehr Fehlbildungen bei Neugeborenen auftraten, fing man an, genauer nachzuhaken.

Was sind die typischen Schädigungen durch Contergan?
Es gibt viele Formen in vielen Abstufungen, das zu messen ist sehr schwierig. Was man kennt, sind Menschen mit deformierten Gliedmaßen, oder denen Arme und Beine ganz fehlen. Das ist am markantesten. Aber das Krankheitsbild ist sehr vielfältig, es gibt Schäden der inneren Organe oder Probleme im Gehörgang.

Kannst du etwas zu den Betroffenen erzählen?
Sie sind sehr unterschiedlich. Manche tun sich schwer, drüber zu reden, auch nach Jahrzehnten. Es sind schlimme Geschichten dabei, viele haben im Leben Ausgrenzung erfahren und sind belogen worden, manchmal von der eigenen Mutter. Die Mütter sind ja eine ganz eigene Geschichte. Andere sind total lebensfroh, haben ihr Schicksal angenommen und kein Problem, darüber zu reden, auch wenn sie Schlimmes erlebt haben. Auch Schwerbehinderte gehen sehr offen mit dem Thema um. Ich kenne eine Person ohne Arme. Wenn man dem zuschaut, wie er den Alltag meistert: Hut ab!

Scheuen die Geschädigten die Öffentlichkeit?
Nein, sie wollen, dass man auf sie aufmerksam wird. Wenige wissen, dass Contergan auch in Südtirol Folgen hatte.

Wie viel wissen die Südtiroler über die Sache?
Viele kennen die Berichte aus Deutschland, aber das ist weit weg. Dass Contergan weltweit verkauft wurde, jeder Staat seine eigene Geschichte dazu hat und auch Südtirol betroffen ist, wissen nur wenige. Die Sache ist auch schwierig zu verfolgen, weil das Medikament oft anders hieß. In Österreich hieß es Softenon und in Italien gab es sogar mehrere thalidomidhaltige Medikamente, wie Asmadion, Sedoval K17 et cetera. Es gab außerhalb von Deutschland auch keine Gerichtsverfahren.

Im Prozess in Deutschland gab es immer unterschwellig den Vorwurf den Müttern gegenüber.

Konntest du auch mit Müttern reden?
Bis jetzt habe ich eine kennengelernt, möchte aber mehr treffen. Contergan ist ein sehr schlimmes Thema für die Mütter. Ich war bei einem Treffen der Selbsthilfegruppe Thalidomidici Italiani (TAI Onlus) in Padua. Dabei waren auch Einzelne mit ihren Müttern gekommen, da sie auf deren Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Verständlich, dass für diese Personen das Leben noch komplizierter wird, wenn Sie ihre Mutter nicht mehr haben. Das Schlimme ist, dass die Mütter nach all diesen Jahren noch immer darunter leiden, weil sie miterleben, dass ihre Kinder immer noch um ihre Rechte kämpfen müssen. Und viele glauben, sie hätten Mitschuld. Im Prozess in Deutschland gab es immer unterschwellig den Vorwurf den Müttern gegenüber, ihr Kind sei so geschädigt, weil sie diese Medikamente genommen hätte. Und viele geben sich auch selbst die Schuld. Aber woher hätten sie es denn wissen sollen? Sie haben ihrem Arzt vertraut. Die Rolle der Mütter wäre ein Thema für sich.

Wie wurde aus einem Medikament ein Medizinskandal?
Der deutsche Humangenetiker Widukind Lenz erkannte, dass eine Verbindung besteht, weil betroffene Mütter immer wieder dieses Medikament erwähnten. Man hatte es größtenteils an Nagetieren getestet. Das war naiv, war damals aber eben so. Es gab vereinzelt Versuche an Menschen, aber den Erwachsenen entsteht ja kaum Schaden. Nur den Föten.

Als die Nebenwirkungen offensichtlich wurden, kam es 1968 zu einem Prozess, der fast drei Jahre und 283 Verhandlungstage dauerte. Es kam aber zu keinem Urteil und keinem Schuldeingeständnis der Herstellerfirma Grünenthal. Der Prozess wurde nach einer Entschädigungszahlung des Konzerns über 110 Millionen D-Mark wegen wegen geringfügiger Schuld der Angeklagten und mangelndem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung eingestellt.

Es kam zu einem Prozess.
Der Prozess wurde eingestellt, es kam zu keinem Urteil. Der Konzern zahlte 110 Millionen D-Mark in einen Entschädigungsfonds und damit hatte sich die Sache. Es blieben viele Fragen offen, unter anderem zur Rolle des Staates: Wusste der deutsche Staat von dem Problem?

Mit dem Prozess war das Thema ja nicht abgeschlossen …
Das Mittel führte in den 1990ern zu weiteren Fehlbildungen in Brasilien – durch eine tragische Verwechslung. Das Problem war, dass auf der Packung eine durchgestrichene Schwangere abgebildet war und die Brasilianer meinten, es handle sich um ein Verhütungsmittel. Das Mittel ist zwar nicht frei verkäuflich und sollte nur streng kontrolliert von Ärzten herausgegeben werden, aber das hat man in Brasilien wohl nicht so genau genommen.

Das Mittel gibt es noch?
Die Grünenthal GmbH gibt es heute noch und auch der Wirkstoff Thalidomid wird noch verwendet. Nach den Prozessen in Deutschland wurde der Wirkstoff bald danach in einigen Ländern unter anderem in der Forschung eingesetzt, es gibt auch jüngere Opfer. Es ist aber schwierig, genaue Daten zu bekommen. Heute wird Thalidomid nur unter bestimmten Voraussetzungen vor allem gegen Blutkrebs oder Lepra verschrieben. Diese Anwendungsbedingungen werden im europäischen Raum vor allem durch die EMA (European Medicines Agency) definiert und kontrolliert.

In Deutschland zahlten die Grünenthal GmbH und der Staat Entschädigungen aus, die damals einmalig 2.500 bis 25.000 DM und ab einer höheren Schadensklasse 100 bis 450 Mark monatliche Rente betrugen. Der Fonds war bald aufgebraucht, seitdem zahlt der Staat. Bis heute gibt es Kritik an der Höhe der Rente, mit der keine angemessene Betreuung bezahlt werden kann.

Gibt es in Italien Entschädigungszahlungen?
In Italien gibt es erst seit 2007 ein Gesetz, 2009 das entsprechende Dekret, 2011 begannen die Auszahlungen – finanziert vom Staat. Die Geschädigten werden untersucht und in acht Kategorien eingeteilt, sie bekommen zwischen 2.000 und 4.000 Euro pro Monat. Spanien arbeitet das Thema erst seit Kurzem auf, dort kämpfen die Opfer um eine Entschädigung. Auch in Kanada und Großbritannien ist Contergan Thema. In Österreich gibt es den Fall einer 1956 geborenen Frau mit den typischen Conterganschäden. Die streitet heute noch um Entschädigung, denn das Medikament kam erst 1957 in den Handel. Aber sie hat die Medikamentenverpackung noch daheim! Sie lebt in Kärnten irgendwo am Land, vermutlich wurde das Mittel einigen Ärzten schon vorab gegeben, damit sie es testen. Zusätzlich zu ihren Fehlbildungen müssen die Geschädigten mit weiteren Folgeschäden leben, da sie ihren Körper im Laufe ihres Lebens anders beanspruchen und es zum Beispiel zu Abnützungen von Gelenken kommt.

Es gibt in Südtirol noch viele, die gar nichts von diesem Entschädigungsfonds wissen und noch nie einen Euro bekommen haben.

Ist es schwierig, seine Ansprüche anzumelden?
Es ist schockierend, wie groß der bürokratische Aufwand ist, um eine Entschädigung zu bekommen – wenn man überhaupt etwas bekommt. Ich kann nicht nachvollziehen, warum in unserer heutigen Gesellschaft jemand, der keine Hand oder keinen Arm hat, es so schwer hat, eine finanzielle Unterstützung zu bekommen. Viele haben aufgegeben und versuchen, sich durchzuschlagen. Es gibt in Südtirol noch viele, die gar nichts von diesem Entschädigungsfonds wissen und noch nie einen Euro bekommen haben.

Hast du auch mit der Herstellerfirma gesprochen?
Ich habe Grünenthal mehrmals kontaktiert, aber nur sehr knappe Antworten bekommen. Sie haben wohl noch immer ein Problem mit der Geschichte. Aber für die Geschädigten wäre ein Entschuldigung sehr wichtig. Die ist nie gekommen. Im Konzern warten sie wohl, bis sich das Problem von selbst erledigt.

Bei dieser Geschichte lief offensichtlich einiges falsch. Kannst du daraus eine allgemeine Pharmakritik ableiten?
Zur Zeit von Contergan war die Pharmazie in den Kinderschuhen. Aber natürlich bin ich gegenüber Medikamenten und ihrer Einnahme heute kritischer. Mir ist nun viel klarer geworden, dass es wirklich schlimme Nebenwirkungen geben kann und man gewisse Medikamente nicht leichtsinnig einnehmen sollte wie Zuckerplätzchen. Natürlich hat uns die moderne Medizin und Pharmazie viel Gutes gebracht, aber man sollte sich auch der Gefahren bewusst sein.

Wann soll deine Dissertation fertig sein?
Ich möchte im nächsten Jahr alles verschriftlichen und in maximal drei Jahren abschließen. Und hoffentlich publizieren, damit die Forschung auch anderen helfen kann. Und wir möchten eine Selbsthilfegruppe gründen, in der sich Betroffene austauschen können. Ich rede jetzt schon von „wir“, ich sehe mich schon als Teil davon. (lacht)

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