Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Bis heute gibt es keine allgemein völkerrechtlich anerkannte Definition dessen, was eine Minderheit ist. Die Definition des italienischen Juristen und UN-Sonderberichterstatters Francesco Capotorti (1925–2002) aus den späten 1970er-Jahren wird am häufigsten zitiert – und dies trotz Capotortis eigener Skepsis gegenüber der Möglichkeit, überhaupt zu einer allgemein anerkannten Minderheitendefinition zu gelangen.
Seine englischsprachige Definition besagt, dass eine Minderheit folgende Merkmale aufweist: „eine im Vergleich zur Gesamtbevölkerung eines Staates zahlenmäßig unterlegene Gruppe, in einer nicht-dominanten Stellung [in diesem Staat], deren Mitglieder – in Besitz der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates – ethnische, religiöse oder sprachliche Merkmale aufweisen, die sie vom Rest der Bevölkerung unterscheiden und die, wenn auch nur implizit, ein Solidaritäts-[oder Identitäts-]gefühl im Hinblick darauf besitzen, ihre Kultur, ihre Traditionen, Religion und Sprache zu erhalten.“
Der Punkt der Staatenlosigkeit wird übrigens häufig kritisiert, da es auch viele Minderheiten ohne Staatsbürgerschaft des Aufenthaltsstaates gibt.
Die geistigen Wurzeln dieser Definition gehen auf die Völkerbund-Zeit der 1920er-Jahre zurück, sie wurde jedoch seither um wesentliche Punkte erweitert und ergänzt. Interessant ist der letzte Teil, der ein nicht genauer bestimmtes „Solidaritätsgefühl“ beschreibt und damit der Selbstzuschreibung (und nicht etwa der Fremdzuschreibung seitens der Mehrheit) Gewicht verleiht: Minderheit ist demnach, wer sich durch äußerlich sichtbare Charakteristika, vor allem Sprache, Kultur oder Religion, von der Mehrheit abhebt und – vor allem – sich als solche sieht oder fühlt.
Capotortis Definition wird sowohl von Praktikerinnen in den internationalen Institutionen als auch von Wissenschaftlerinnen häufig verwendet; sie wurde und wird aber auch als unzureichend und veraltet kritisiert. Unter anderem wird der Definition vorgeworfen, dass sie gesellschaftliche Minderheiten wie queere Menschen und die so genannten „neuen Minderheiten“ nicht berücksichtigt. Damit sind Menschen mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung gemeint.
Capotorti ist auch deswegen so oft zitiert worden, weil er im Hinblick auf ethnische Minderheiten, eine Synthese-Leistung vollbracht hat: Er hat ältere Definitionen von nationalen Minderheiten zusammengefasst und ihnen eine neue Rahmung gegeben. In seinem Begriffsparadigma war aber relativ klar, was mit dem Begriff „Minderheit“ gemeint ist, und das sind nicht jene Minderheiten, die wir hauptsächlich auf unserer Konferenz behandeln.
Um dieses Paradigma etwas besser zu verstehen, lohnt es sich, einen kleinen Parforce-Ritt durch die Vergangenheit zu machen.
„Minderheit“ in der Mittelalter und Früher Neuzeit
„Minderheit“ kommt vom Mittellateinischen minoritas sowie vom Altfranzösischen minorité. Im 15. Jahrhundert bezog sich der Begriff auf das nicht volljährige Alter einer Person („Zustand der Minderjährigkeit“). Es gibt auch Erklärungen, die den Begriff an „Armut“ und damit an einer frühen Bezeichnung für die Angehörigen der Bettler-Orden festmachen, die man „mindere Brüder“ oder „Minoriten“ nannte. Später, ab dem 18. Jahrhundert, meint „Minderheit“ eine Menge oder Anzahl, wie die Wortwurzel minor („kleiner“, „geringer“) erkennen lässt: „Zustand oder Bedingung, kleiner zu sein“.
„Minderheit“ oder „minoritas“ finden wir – als terminus technicus – in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen in unserem Sinne nicht vor. Gleichwohl nutzt die heutige Mittelalterforschung „Minderheiten“ als methodischen Begriff, und meint damit einerseits den „sozial minderen Status”, der seitens einer Mehrheitsgesellschaft zu Diskriminierung führen kann, andererseits die zahlenmäßige Größe einer Gruppe, die sich von einer anderen, meist dominanteren Gruppe innerhalb eines Herrschaftsgebietes unterscheidet. Hier lassen sich viele Beispiele anführen: Die jüdische Bevölkerung, die zu Teilen und stets unter prekären Bedingungen einen gewissen Schutz vor Verfolgung erfuhr; dann sozial und wirtschaftlich marginalisierte Menschen an den sogenannten Rändern der Gesellschaft wie Nomad:innen, Bettler:innen und Kriminalisierte, Prostituierte, Hexen und auch queere Menschen.
Über einen umfassenden Schutz von religiösen „Minderheiten“ debattierte man zum ersten Mal in Folge der europäischen Religionskriege nach 1517: das Toleranzedikt von Nantes von 1598, das den Hugenotten in Frankreich gewisse religiöse Freiheiten einräumte und bis 1685 Bestand hatte; oder die Verträge von Münster und Osnabrück im Rahmen des Westfälischen Friedens von 1648. In diesen Verträgen ging es um die Sicherung des Friedens auf „internationaler“ Ebene, aber auch – ein Novum! – um die ausdrückliche Anerkennung des Rechts religiöser Minderheiten avant la lettre innerhalb eines Staates, ihre Religion frei zu praktizieren, öffentlich zu bestimmten Zeiten und privat nach Belieben.
Der Begriff „Minderheit“ in unserem modernen Sinne – also in seiner Bedeutung als eines Teils einer Bevölkerung, der sich in einigen Merkmalen von der übrigen Bevölkerung unterscheidet und oft einer unterschiedlichen Behandlung unterworfen ist – entstand erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Die Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts (1772, 1793, 1795), die Neufestlegung der Grenzen in den Koalitionskriegen Napoleons (1792–1815) und die Wiederherstellung der vornapoleonischen Staatenordnung nach 1815 ließen polnische Minderheiten in Preußen, Russland und Österreich entstehen.
„Nationale Minderheit“ im 19. Jahrhundert
Auf dem Wiener Kongress von 1815, der das Ziel verfolgte, das Machtgleichgewicht im postnapoleonischen Europa wiederherzustellen, wurde die Möglichkeit einer nationalen politischen Vertretung für diese ethnischen Gruppen erörtert. Zum ersten Mal wurden bürgerliche und politische Rechte, und nicht nur religiöse Freiheiten, für Minderheitengruppen garantiert, deren Heimatgebiete territoriale Grenzverschiebungen erfuhren.
Zu den religiösen, ethnischen und sprachlichen Minderheiten traten damit im Europa des 19. Jahrhunderts die „nationalen Minderheiten“ hinzu, die eng mit der Entstehung von Nationalstaaten und des Nationalismus als dominante Geistesströmung verbunden sind. Die Hauptidee des Nationalismus war und ist bekanntlich die Vereinheitlichung oder Homogenisierung von Menschen gleicher „Rasse“, Sprache, Kultur, Geschichte oder Ähnliches. Daher räumen nationalistische Bewegungen bis heute diesen Charakteristika beziehungsweise Zuschreibungskategorien großes Gewicht ein, stets auch, um sich von anderen Nationen abzugrenzen. Immer präsent war dabei die „Konstruktion“ einer exklusiven und homogenen Gemeinschaft im Wettbewerb mit anderen „vorgestellten Gemeinschaften“.
Die normative Vorstellung, dass Nationalstaaten möglichst ethnisch homogen gestaltet sein sollen, brachte, wie wir alle wissen, neue Konflikte mit sich. Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein war die ethnische Verfasstheit Europas äußerst heterogen: Neben den großen Vielvölkerreichen wie der Habsburgermonarchie oder dem Russischen Zarenreich, die aus einer Vielzahl sprachlicher, kultureller oder religiöser Gruppen bestanden, gab es in fast jedem europäischen Nationalstaat Minderheiten (oder im damaligen Sprachgebrauch: „Nationalitäten“ und „Volksgruppen“), die nicht zur staatstragenden nationalen Mehrheit gehörten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte u.a. viel mit diesen „unerlösten“ Minderheiten zu tun.
Ende des Ersten Weltkrieges und Zeit des Völkerbunds
Nach dem Ende des Weltkriegs kam es zur Gründung des Völkerbundes. „Minderheit“ wird nun ein weitum verwandtes Schlagwort, also expressis verbis in den Quellen der Friedensverträge von 1919 zu finden (übrigens genauso wie „Autonomie“ für territoriale Selbstverwaltung in den Minderheitengebieten).
Die eingangs zitierte Capotorti-Definition lässt sich in den Unterlagen der Minderheitenschutzkommission schon in Ansätzen greifen. Dazu muss man sagen, dass die Frage, was eine Minderheit sei, wo und ob sie in Europa schützenswert ist, ein großes Politikum zwischen West- und Osteuropa war, zwischen den Siegermächten und den auf der Verliererseite stehenden Mittelmächten. Die Einführung von Minderheitenschutzverträgen sollte vor allem dazu dienen, die angespannte ethnische Situation in Europa zu befrieden, und erst in einem zweiten Schritt die Minderheiten selbst zu schützen. Das Minderheitenschutzsystem und der Völkerbund sind trotz guter Ansätze krachend gescheitert, was auch mit dem Desinteresse der USA zu tun hatte.
Nachkriegszeit und Kalter Krieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte man sich stärker auf den Bereich der allgemeinen Menschenrechte und ein effektives Antidiskriminierungsverbot. So ging man davon aus, dass durch die Etablierung dieser Rechte auch Minderheiten effektiv geschützt würden, ohne eigene Rechte für sie einzurichten. Dies hatte viel mit der Wahrnehmung der Zwischenkriegszeit zu tun: die traurige Bilanz des Völkerbundes in Minderheitenfragen und die Indienstnahme der deutschen Minderheiten im Ausland und des Selbstbestimmungsrechts der Völker in der Außenpolitik Hitlers.
Erst wieder in den 1980er-Jahren und vor allem ab den 1990er-Jahren – von Völkerrechtlern oft als „goldenes Jahrzehnt des Minderheitenrechts“ bezeichnet – kam es zu stärkerer Beschäftigung mit dem Thema.
Maßnahmen wurden vor allem im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats ergriffen. Umfassende Bestimmungen zum Minderheitenschutz finden sich erstmals im 1990 von der OSZE angenommenen, rechtlich nicht verbindlichen Kopenhagener Abschlussdokument. Im Dezember 1992 schuf die OSZE das Amt des Hochkommissars für Nationale Minderheiten (HKNM) mit Sitz im niederländischen Den Haag. Beim Europarat wurden 1995 bzw. 1992 zwei rechtlich verbindliche Verträge ausgehandelt: das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, die beide 1998 in Kraft traten.
„Neue“ Minderheiten
Die Genese eines gesellschaftlichen „Minderheitenbegriffs“, der queere Menschen oder Einwanderungsgruppen und Menschen mit Behinderung mitmeint und auch Gender-Themen abbildet, hat sich vor allem in Nordamerika und Großbritannien vollzogen. In den U.S.A. waren dies vor allem die Schwarze Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, die – trotz der erkennbaren Unterschiede zwischen sexueller und „Race“-Identität – als „ethnische Initiative“ Vorbildfunktion für die Schwulen- und Lesbenbewegung hatte. Der Soziologe Steven Epstein beschrieb dies einmal so: „Diese ‚ethnische‘ Selbstcharakterisierung von Schwulen und Lesben [ermöglicht] eine Form der Gruppenorganisation, die besonders gut zu den amerikanischen Erfahrungen passt, mit ihrer Geschichte der Bürgerrechtskämpfe und des ethnisch basierten Wettbewerbs zwischen Interessengruppen.“ Neben den klassischen, „alten“ Minderheiten, die sich sprachlich, ethnisch oder religiös unterscheiden, traten also neue hinzu, die rechtliche Anerkennung als Minorität für sich fordern und zunehmend zum Gegenstand des kulturanthropologischen Diskurses selbst werden. Der Minderheitenbegriff hat sich im Laufe der Geschichte in seiner Bedeutung also vielfach erweitert und verändert, und diese Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen.
Text: Josef Prackwieser
Gekürzter Auszug aus dem Begleitessay, der der Edition des 1929 erstmals erschienen Buches „Danger Zones. Eine Untersuchung zu nationalen Minderheiten in Europa“ von John S. Stephens (hrsg. von Hannes Obermair und Josef Prackwieser, übersetzt von Maria Kampp, Bozen: Raetia 2024) beigestellt ist.
Hierbei handelt es sich um die kommentierte Edition eines Essays, den ein Mitarbeiter der Minderheitenkommission des Völkerbunds in den 1920er-Jahren verfasst hat: John Stephens, ein Historiker und englischer Quäker, schreibt ausführlich über Südtirol unter dem Faschismus. Er analysiert auch andere Minderheitengebiete in Europa und beschäftigt sich intensiv mit dem neu aufgekommenen juristisch-politischen Phänomen der „Minderheit“. Seine Beobachtungen und Überlegungen wirken auf uns Heutige frisch und aktuell und macht die Lektüre dieses beinahe hundert Jahre alten Essays in einer Zeit des wiederaufkeimenden Nationalismus zu einem lohnenden Unterfangen.
Buchvorstellung und Podiumsgespräch mit den Autoren Hannes Obermair und Josef Prackwieser
28.11.2024, 20.00 Uhr
Bozen, Landesbibliothek Dr. Friedrich Teßmann
Es moderiert Katharina Crepaz (Center for Autonomy Experience, Eurac Research)
Weitere Termine:
21.2.2025, 20.00 Uhr
Meran, Stadtbibliothek (Moderation: Maria Kampp)
21.5.2025, 20.00 Uhr
Sterzing, Stadtbibliothek (Moderation: Katharina Crepaz)
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support