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In einer ersten Klasse der Grundschule Kaltern gehen die Hände hoch. Zuerst eine erste, schüchterne Hand, dann folgen weitere. Ein Mädchen will von Palwinder Kaur Mic wissen, ob Fatima* mitspielen möchte, wenn sie während der Pausen Fußball spielen.
Palwinder Kaur Mic ist als Mediatorin zwischen den indischen Sprach- und Kulturräumen und den deutsch- und italienischsprachigen Kindergärten und Schulen in Südtirol aktiv. Sie kümmert sich darum, ein inklusives Umfeld an den Bildungseinrichtungen zu fördern und Kinder und deren Familien bei Bedarf zu begleiten. Eine Begleitung, die sie sich vor Jahren selbst gewünscht hätte, als sie als Kind zweier indischer Eltern an der deutschen Schule in Südtirol eingeschult wurde. Palwinder Kaur Mic konnte damals zwar schon Deutsch, die Verständigung zwischen Schule und Eltern war aber schwierig. Häufig begleitete die heute 27-Jährige ihre Eltern selbst zu den Sprechtagen und versuchte, zwischen Eltern und Schule zu vermitteln.
„Diese Situation, mit der Kinder anderssprachiger Eltern noch heute konfrontiert sind, ist alles andere als ideal“, erklärt Beatrice Tedeschi, Mediatorin und ehemalige Präsidentin der Sozialgenossenschaft „Savera“ für interkulturelle Mediation (IKM).
„Viele Kinder mit Migrationshintergrund bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Schule und Familie. Sie haben vielleicht Angst, gewisse Dinge zu Hause zu erzählen oder wissen nicht, wie sie ihre eigenen Bedürfnisse und Schwierigkeiten an die Lehrpersonen kommunizieren sollen.“ Die Mediator:innen kümmern sich darum, die Kinder in diesem Limbo zu begleiten. Obwohl Sprachkenntnisse dafür unerlässlich sind, geht die IKM über eine einfache Übersetzungstätigkeit hinaus: „Es geht vor allem darum, dem Kind den Raum zu geben, sich auszudrücken und das schulische und familiäre Umfeld für die Bedürfnisse und Erwartungen des jeweils anderen zu sensibilisieren“, so Tedeschi. Dabei ist die Einbeziehung der Eltern ebenso wichtig wie die Sensibilisierung der Schul- und Klassengemeinschaft. Momente wie jener, in dem Palwinder Kaur Mic sich zusammen mit Fatima in die Klasse setzt und sich den Fragen der Mitschüler:innen stellt, öffnen Welten und fördern das Selbstbewusstsein der Kinder: Sie zeigen, dass ein neuzugezogenes Kind, – obwohl es vielleicht zufällig kein Deutsch oder Italienisch spricht, – kein unbeschriebenes Blatt ist; es hat eine Geschichte, ist in einer Kultur verwurzelt und spricht vielleicht zwei, vielleicht fünf andere Sprachen.
„Viele Schüler:innen überrascht, dass sich andere für sie und ihre Herkunft interessieren.“
Reichtum vor Ort
Der Reichtum an Herkunftssprachen und Kulturen, der an vielen Bildungseinrichtungen in Südtirol existiert, verlangt nach einer Vielzahl an Akteur:innen: Urdu, Pashtu, Hindi, Arabisch, Albanisch oder Mandarin sind nur einige der Sprachen, die heute in Südtirol und somit auch an Südtirols Schulen präsent sind. Zudem kommt, dass sich die Realität vor Ort ständig verändert: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine steigerte mitten im Schuljahr den Bedarf für russisch- und ukrainischsprachige Mediator:innen; die Corona-Pandemie bremste hingegen die Nachfrage für chinesische Sprachen. Eine Tatsache, die unter anderem dazu führt, dass die an den Schulen tätigen Mediator:innen – anders als vor 20 Jahren – ihre Arbeit an den Schulen nach Bedarf und auf freiberuflicher Basis ausüben.
So auch Saba Ashfaq, die als Mediatorin für Urdu, Pashtu und Bengalisch im Raum Brenner/ Sterzing aktiv ist: Die aus Pakistan stammende Frau kannte das italienische Bildungssystem und die Sprache bereits, als ihre Kinder eingeschult wurden. Dadurch fand sie sich beinahe automatisch in einer Rolle wieder, in der sie zwischen den Bildungseinrichtungen und Familien aus dem indischen Sprachraum als Mediatorin fungierte: „In der Gemeinde Brenner wohnen viele Familien aus dem indischen Sprach- und Kulturraum. Als sie sahen, dass ich die Sprache spreche und die Bedürfnisse der Schule verstehe, haben sie Vertrauen gefasst und angefangen, mich anzurufen, wenn sie Fragen hatten. Vonseiten der Schule hat man mich hingegen gefragt, ob ich nicht Elternvertreterin weden möchte“, so Ashfaq. Mit den Bedürfnissen der Schule und Eltern konfrontiert, absolvierte die junge Mutter einen Einführungskurs für Mediator:innen und arbeitet heute freiberuflich für die Schulen vor Ort. Dank der Autonomie der Schulen können diese selbst beschiließen, wann und ob sie eine Begleitung durch Mediator:innen beantragen. Die Sprachenzentren der einzelnen Bezirke entscheiden dann, wie viele Stunden für die Kinder zur Verfügung gestellt werden und beauftragen die Sozialgenossenschaft Savera mit dem Einsatz der Mediator:innen. Jährlich sind hierfür 200.000 Euro vorgesehen, die von den Sprachenzentren für die deutsche, italienische und ladinische Bildungsdirektion verwaltet werden.
Mirjana Starc, die die Mediator:innen für die Sozialgenossenschaft Savera koordiniert, arbeitet selbst als Mediatorin für Chinesisch. Erhält sie den Auftrag, ein Kind zu begleiten (meist sind es Pakete zu 10 Stunden), versucht sie auch die Familie und die Klassengemeinschaft miteinbeziehen: „Eltern aus anderen Kulturkreisen kennen die Erwartungen der Schule in Südtirol nicht und wissen nicht, dass die Unterstützung der Eltern im Schulalltag vorausgesetzt wird“, so Starc. Dabei gehe es nicht um eine inhaltliche Unterstützung, die in vielen Fällen nicht möglich ist, sondern um die Präsenz bei Sprechtagen, Ausflügen oder anderen wichtigen Gelegenheiten. „Um das zu ermöglichen, müssen die Eltern aber merken, dass es da eine Klasse, Lehrpersonen und Mediator:innen gibt, die für sie und ihr Kind da sind.“ Neben der Einbeziehung der Eltern versucht Mirjana Starc Aktivitäten mit der Klasse zu organisieren. Dabei hat das Kind die Möglichkeit, sich selbst, seine Sprache und seine Kultur vorzustellen und sich den Fragen der Mitschüler:innen zu stellen. „Viele Kinder, die ich begleite, sind überrascht, dass sich andere für sie, ihre Herkunft und ihre Geschichte interessieren. Das ist ungemein wichtig für ihr Selbstbewusstsein“, meint Starc. Auch Kurse in der eigenen Muttersprache, wie sie in einigen Landesteilen angeboten werden, können dieses Selbstbewusstsein stärken und dazu beitragen, die Angst der Familie, die eigene Kultur und Sprache zu verlieren, abzubauen.
Es gibt eine Kluft zwischen den deutschen und italienischen Schulen.
Bruchlinie deutsch-italienisch
Die Autonomie erleichtert es den Schulen, punktuell auf die Bedürfnisse vor Ort zu reagieren. Gleichzeitig bedeutet sie aber auch, dass eine gelungene Inklusion von der Schule und den Lehrpersonen vor Ort abhängt. Hier spielt die Erfahrung eine wichtige Rolle: „In Bozen starten vielleicht zehn Schüler:innen ohne Kenntnisse der Unterrichtssprache gleichzeitig und es ist gar kein Problem, weil inzwischen mithilfe von Mediator:innen, der Einbeziehung der Eltern oder interner Ressourcen, Strategien entwickelt wurden, um die unterschiedlichen Bedürfnisse aufzufangen“, so Barbara Gramegna, die die Sprachenzentren für die italienische Schule koordiniert. Wenn aber – sagen wir – im Ultental die allererste Schülerin überhaupt ohne Deutschkenntnisse an die Schule kommt, ist das für Lehrpersonen natürlich schwierig.“
Neben den Unterschieden zwischen den einzelnen Ortschaften und den entsprechenden Schulen existiert eine Kluft zwischen der deutschen und der italienischen Schule: Während die italienische Schule seit über zwei Jahrzehnten Erfahrungen mit den Einschreibungen von Kindern ohne gute Kenntnisse der Unterrichtssprache sammelt und Strategien für die IKM entwickelt hat, ist die Situation an den deutschen Schulen relativ neu. Wie Starc erklärt, gelte es hier noch Hürden zu überwinden: „Lehrpersonen wissen manchmal nicht, welche Rolle die interkulturellen Mediator:innen haben und setzen sie als Sprachlehrpersonen ein oder möchten, dass die Mediator:innen Inhalte vermitteln. Eine Mediator:in kann aber keinen Sprach- oder anderen Unterricht ersetzen“, so Starc. „Sie sind dazu da, Brücken zwischen den verschiedenen Kulturen zu schlagen.“
Zudem kommt, dass es an einigen deutschen Schulen Widerstand gibt, Kinder aus Familien ohne Kenntnisse der Unterrichtssprache aufzunehmen. So würden deutsche Schulen häufiger spezifische Mediationsstunden beantragen, um die Eltern zu überzeugen, sie nicht an der deutschen Schule einzuschreiben. Auch auf politischer Ebene flammt die Diskussion zum Schutz der Muttersprache an den Schulen immer wieder auf. Eine Tatsache, die laut Beatrice Tedeschi auf eine – durch den Faschismus ausgelöste – kollektive Angst der deutschen Sprachgruppe zurückzuführen sei, die eigene Muttersprache zu verlieren. Eine Angst, die wie (unter anderem) Sprachwissenschaftlerin Ulrike Jessner in verschiedenen Studien erforscht, jedoch unbegründet ist: Während man an der deutschen Schule an der Reinheit der Sprache festhaltet, ist es mittlerweile wissenschaftlich bewiesen, dass Mehrsprachigkeit nicht nur die kognitiven Fähigkeiten einer Person stärkt, sondern zudem auch das Verständnis der Erstsprache unterstützt. Entscheidend ist, wie damit im Unterricht umgegangen wird, sodass die gesamte Klasse davon profitieren kann. Der Widerstand, der sich vielfach gegen den Einfluss der italienischen Sprache (und somit Kinder aus italienischsprachigen Familien) an den deutschen Schulen wendet, schafft also nicht nur eine Kluft zwischen den zwei größten Sprachgruppen in Südtirol, sondern erschwert auch Familien aus anderen Sprach- und Kulturräumen den Zugang zum Schulsystem.
Notfalldynamik
Neben fehlender Erfahrung und Skepsis vonseiten der Schulen trägt die bürokratische Ausgangslage dazu bei, dass die IKM nicht immer überall funktioniert: Die interkulturellen Mediator:innen sind keine Systemfiguren und haben häufig nur wenige Stunden zur Verfügung. Wie Ashfaq erklärt, seien die Schüler:innen zwar oft erleichtert, dass jemand an die Schule komme, die ihre Sprache spricht, damit sie sich öffnen, brauche es aber vor allem Zeit: „In den ersten paar Stunden sind wir meist nur damit beschäftigt, uns kennenzulernen“, so die Mediatorin. Die von den Sprachenzentren genehmigten Standard-Pakete zu 10 Stunden pro Kind, die in einem Zeitraum von zwei Jahren auf maximal 20 Stunden ergänzt werden können, reichten dafür oft nicht.
Das erschwert den Aufbau der nötigen Beziehung und führt dazu, dass die IKM häufig in einer Notfalldynamik verankert ist: Hat ein Kind aufgrund seines kulturellen Hintergrunds Schwierigkeiten, sich in den schulischen Kontext einzufügen, werden Mediator:innen für die einzelnen Schüler:innen für einige Stunden an die Schule geholt. Dabei wird das Augenmerk auf die Probleme gelegt, die es durch begrenzte Ressourcen zu lösen gilt: ein Kind hat Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen, die Lehrpersonen finden keinen Weg, um sich zu verständigen oder die Kommunikation mit den Eltern funktioniert nicht. Wie die Koordinatorinnen der Sprachenzentren, Inge Niederfiriniger und Barbara Gramegna erklären, werden interkulturellen Mediator:innen manchmal noch immer als Figuren gesehen, „die im Notfall kommen und die Situation ‚reparieren‘“. Dabei können Mediator:innen den schulischen Kontext für alle Schülerinnen und Schüler bereichern: „Sie tragen dazu bei, dass die Diversität an den Schulen, – die es sowieso gibt, – auch zugänglich wird.“
Die IKM trägt dazu bei, dass die Diversität an den Schulen zugänglich wird.
Bürokratie im Wandel
Um den Aufbau der Beziehungen zu erleichtern, werden verschiedene Möglichkeiten ausgelotet: Seit dem Schuljahr 2022/23 ist es beispielsweise möglich, Lehrpersonen, die bereits an den Schulen unterrichten und möglicherweise selbst bestimmte Sprachkenntnisse haben, über Überstunden als Mediator:innen zu engagieren. Zudem versucht die Sozialgenossenschaft Savera Mediator:innen vor Ort zu finden, die eine kontinuierliche Präsenz an den Schulen gewährleisten können. Wie Mirjana Starc erklärt, sei das aber nicht immer möglich, da der Reichtum an Sprachen und Kulturen mittlerweile sehr groß sei. Zudem kommt, dass die freiberuflichen Mediator:innen in den meisten Fällen auf andere Verdienstmöglichkeiten angewiesen sind, um ein regelmäßiges Einkommen zu sichern: „Die IKM ist ein prekärer Job, den viele aus Leidenschaft machen“, so Starc. „Allein davon zu leben, ist für die meisten nicht möglich. Das heißt auch, dass sie nicht immer verfügbar sein können.“
Ein weiterer Versuch, um den gemeinsamen Unterricht von Kindern aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen zu organisieren, wird im Bezirk Unterland/ Überetsch durch das Inklusive Konzept für Sprachenförderung Unterland (IKSU) ausgearbeitet. Dabei werden den einzelnen Schulen am Anfang des Schuljahrs eine bestimmte Anzahl an Mediationsstunden zur Verfügung gestellt, die sie dann autonom verwalten können. Mediationsstunden müssen also nicht mehr für jedes Kind einzeln angefragt werden, sondern stehen als Jahrespaket zur Verfügung. Die Schulen haben so die Möglichkeit, zusammen mit Klassen und Familien eine Strategie auszuarbeiten und können den Bedarf direkt vor Ort einschätzen: „So muss das Sprachenzentrum nicht von außen entscheiden, welches Kind Anrecht auf Mediationsstunden hat und welches nicht. Die Schulen können das direkt vor Ort einschätzen und entsprechend handeln“, so Niederfriniger.
„Das IKSU ist organisch aus den Bedürfnissen und Strategien vor Ort gewachsen.“
Dass das IKSU, das neben der IKM weitere Bausteine beinhaltet, zuerst im Unterland ausgearbeitet wird, kommt dabei nicht von ungefähr. Wie die Beraterin des Sprachenzentrums Unterland, Emanuela Atz, erklärt, sei das Unterland historisch von Mehrsprachigkeit geprägt: „Es war immer schon nötig, eine gute Zusammenarbeit zwischen den deutschen und italienischen Schulen zu suchen“, so Emanuela Atz. „Und auch die Mehrsprachigkeit ist mittlerweile seit vielen Jahren und auf dem ganzen Gebiet präsent.“ Darauf aufbauend haben die einzelnen Schulen Strategien entwickelt, um die Inklusion an den Schulen gewinnbringend zu organisieren; das Sprachenzentrum koordiniert und hilft bei der Vernetzung der Schulen und Akteur:innen. So gibt es mittlerweile eine Netzwerkstelle für Sprachförderung, wo verschiedene Materialien und Projekte für die Bildungseinrichtungen erarbeitet werden. Und auch die Zusammenarbeit zwischen der deutschen und italienischen Schule wird gesucht: „Die Grundschule Neumarkt und das Istituto Comprensivo Bassa Atesina haben beispielsweise zusammen mit einigen Mediator:innen einen gemeinsamen Elternabend organisiert, um den Eltern die nötigen Informationen für die Auswahl der Schule zu geben“, so Atz. In Bozen, wo es mehr Konkurrenz zwischen den deutschen und den italienischen Schulen gibt, seien solche Aktionen schwieriger.
Text: Valentina Gianera
Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (11.09.2023 – 09.10.2023 | 87).
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