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Rund 1.500 Personen wurden im Laufe eines Jahres in Südtirol als wohnungslos registriert, 1.400 allein in der Hauptstadt Bozen. Hierbei handelt es sich um all jene wohnungslosen Menschen, die im Jahr 2021 mit den verschiedenen Streetwork-Teams in Kontakt gekommen sind. Einige von ihnen leben schon lange auf der Straße, andere – vor allem Personen mit Migrationshintergrund – sind im Versuch, in andere europäische Länder zu gelangen, nur vorübergehend auf Südtirols Straßen angewiesen.
Im Stadtzentrum von Bozen sieht man nur wenige wohnungs- und obdachlose Menschen: Essensausgaben und Notunterkünfte für den Winter werden an den Stadtrand gedrängt; der „daspo urbano“ – eine Art Platzverweis – sorgt dafür, dass manche gänzlich aus bestimmten Zonen der Stadt verwiesen werden. Zudem werden selbst gebaute Unterkünfte regelmäßig von der Stadtverwaltung geräumt. Erst im September fanden einige Wohnungslose ihre im Park der Religionen aufgestellten Zelte zerschnitten vor. Ein Augenzeuge macht die Stadtpolizei für die Zerstörung der Unterkünfte verantwortlich, diese streitet den Vorwurf ab.
Zwischen Schlafplatz und Festival
Einer der Orte, den Obdachlose in der Hoffnung auf ein Dach über dem Kopf aufsuchen, ist die Villa Gasteigerin Bozen. Die verlassenen Mauern des ehemaligen ENEL-Gebäudes dienen den Menschen in den Wintermonaten zum Schutz. Genau hier trieb das Transart Festival für zeitgenössische Kunst und Kultur in den letzten beiden Septemberwochen seine Wurzeln in den Boden – dem Thema Obdachlosigkeit wird eine Ausstellung gewidmet: „Für uns als Festival für zeitgenössische Kultur ist es wichtig zu zeigen, dass Kultur keine Verzierung ist, nicht etwas ‚nice to have‘. Kultur spricht die brennenden Themen einer Gesellschaft an. Das Thema Obdachlosigkeit ist hier zentral“, so der künstlerische Leiter des Festivals Peter Paul Kainrath. Und weiter: „Wenn wir als Transart Festival ein Haus beziehen, von dem wir wissen, dass es im Winter von Wohnungslosen genutzt wird, wäre es komisch, das Thema zu ignorieren. Es ist der ideale Ort, um die Gesellschaft für das Thema zu sensibilisieren.“
Um diese Sensibilisierung der Gesellschaft zu erreichen, haben die Festivalbetreiber – in enger Zusammenarbeit mit dem Verein housing first bozen EO – die Ausstellung „Who Is Next?“ im Garten der Villa Gasteiger aufgebaut. Während „Who Is Next?“ das Interesse der Festival Besucher:innen auf ein wichtiges gesellschaftliches Thema zieht, werfen die apolitische Natur sowie der distanzierte internationale Charakter der Ausstellung Fragen auf.
München, Hongkong, São Paulo
Die Ausstellung, die vom Architekturmuseum München (TUM) entwickelt und im kleinen Stil für Transart übernommen wurde, befindet sich in einem karg bestückten Containergebäude. Links führen ein kurzer Text und einige Zahlen zu Obdach-und Wohnungslosigkeit in Deutschland, Österreich und Schweiz ins Thema ein, rechts werden die Anlaufstellen für wohnungslose Menschen in Südtirol auf einer Landkartefestgehalten. Auf dem Bodenweist pinkes Klebeband auf die Schlafsituation in Notunterkünften in vielen Städten hin: Rechtecke von 90×120 Zentimetern, dazwischen jeweils knapp ein Meter, der die Gäste voneinander trennt. Herzstück der Ausstellung bildet ein Bildschirm, der im Rahmen dreier Dokumentarfilme Einblick in die Situation von wohnungslosen Menschen in München, Hongkong und São Paulo gibt. Die Personen sprechen direkt in die Kamera, zeigen die Schlafmöglichkeiten, die sie für sich selbst gebaut haben und erzählen von ihrem Leben auf der Straße.
Mensch im Fokus
Der konkrete politische und soziale Kontext, der die Situation von wohnungslosen Menschen in Südtirol prägt, kommt (bis auf die Landkarte mit den verschiedenen Anlaufstellen) nicht zur Sprache. Zur Frage, warum dieser Aspekt ausgeklammert wird, meint Peter Paul Kainrath, dass man sich wohl an die Stadtverwaltung wende – auch Bürgermeister Renzo Caramaschi habe die Ausstellung gesehen –, dass es aber vor allem darum gehe, die Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, um die breite Gesellschaft für das Thema zu sensibilisieren: „Wer sich die wenige Zeit für die Dokumentarfilme nimmt, sieht, wie viel Menschlichkeit aus diesen Erzählungen aus Hongkong oder São Paulo spricht. Die Ausstellung ist nichts, das man wegschieben muss“, so Kainrath. Und weiter: „Nur weil manche keinen Schlüssel zu einer eigenen Wohnungstür haben, hören sie nicht auf, Menschen mit einer Würde zu sein. Im Gegenteil: Viele Menschen, die auf der Straße leben, legen eine unglaubliche Kreativität an den Tag. Sie schaffen aus dem Nichts ihr kleines Reich.“
Auch für Martina Schullian vom Verein housing first bozen EO, die die Idee zur Ausstellung in Bozen hatte, ist die Sensibilisierung der Bevölkerung für das Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit vorrangig: „Uns geht es vor allem darum, dass sich die Gesellschaft dem Thema zuwendet. Jede und jeder Einzelne hat die Pflicht, gegen Unrecht anzukämpfen und anderen mit Würde zu begegnen.“ Man hoffe natürlich auf die Unterstützung der Politik, müsse aber damit anfangen, selbst etwas aufzubauen: „Wir können nicht immer nur auf andere warten.“
Die immer wieder angesprochene Zentralität des Menschlichen wird nicht zuletzt durch den Titel betont: Der Titel ‚Who Is Next?‘ schiebt die Aufmerksamkeit weg von der Gruppe der Obdachlosen, ein Begriff, in dem laut Kainrath eine gewisse Eigenschuld mitschwingt, und zeigt, dass es theoretisch jede:n treffen kann. Statistisch gesehen seien manche zwar gefährdeter als andere, aber ein großer Querschnitt der Gesellschaft sei viel näher dran, als man vielleicht denkt: „Es geht nicht immer nur um offensichtliche Faktoren wie Arbeit oder Geld. Psychische oder familiäre Probleme, Krankheiten, Unfäll … das Unglück ist oft gar nicht so weit weg“, so Kainrath.
Architektonische Lösungen
Die Ausstellung arbeitet das Thema also auf nahbare Art und Weise auf. Vermissen lässt sie hingegen die Rolle der soziopolitischen Faktoren, die die Wohnungslosigkeit konkret in Südtirol bedingen: Das Fehlen langfristiger Lösungsansätze vonseiten der politischen Entscheidungsträger:innen oder der systematische Ausschluss von Menschen, die durch die geltende Gesetzeslage in die Irregularität gedrängt werden oder keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Ein Ausstellungsansatz, der nicht von ungefähr kommt: Laut Kainrath wird das Thema Obdach- und Wohnungslosigkeit zu oft als etwas gesehen, das allein in die Zuständigkeit der Politik fällt. „Die Ausstellung schiebt das Thema von der Politik unter anderem in den Bereich der Architektur. Damit möchten wir zeigen, dass es jenseits von Ideologie und Instrumentalisierung vonseiten der Politik Möglichkeiten gibt, durch einfache und kostengünstige Lösungsansätze auf die Situation zu reagieren.“
Text: Valentina Gianera
Der Verein „housing first bozen EO“ wurde 2020 gegründet und hat zwei Winter lang in der Rittner Straße in Bozen 25 Menschen einen Schlafplatz zur Verfügung gestellt. Mehr als 100 Freiwillige haben für Nacht- und Frühstücksdienste gesorgt. Jetzt wird das Haus in Kleinwohnungen umgebaut. Ab 2024 erhalten obdach- und wohnungslose Menschen dort eine langfristige Unterkunft. Um diese zu realisieren, werden Spenden gesammelt. Im Winter 2023/24 eröffnet der Verein housing first bozen EO ein Haus in der Vintlerstraße, das ebenfalls als Schlafplatz dienen wird und von Freiwilligen geführt wird. Weitere Infos unter: www.dormizil.org
Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (10.10.2023 – 09.11.2023 | 89).
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